Opfertod im Christentum

Wenn Menschen einfach verzeihen können – warum nicht Gott?

12:37 Minuten
Gemälde von Jesus am Kreuz, ca. 16. Jahrhundert.
Jesus starb, um die Menschen von Schuld zu erlösen: Dieses Kernstück christlichen Glaubens hält Magnus Striet für moralisch fragwürdig. © picture alliance / Heritage Images / Art Media
Magnus Striet im Gespräch mit Sandra Stalinski · 18.07.2021
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Jesus musste am Kreuz sterben, um die Menschen von Schuld zu erlösen. Diese Überzeugung ist ein Herzstück des Christentums. Der Theologe Magnus Striet widerspricht: Ein Gott, der ein Blutopfer braucht, um zu vergeben, sei moralisch fragwürdig.
Stalinski: Nach christlicher Tradition musste Gottes Sohn stellvertretend für die Sünden der Menschen sterben, um die Menschheit zu erlösen. Ist der Gott der Christen also ein Gott, der ein Blutopfer braucht, um Menschen zu vergeben - oder wie ist das gedacht? Darüber hat sich der katholische Theologe Magnus Striet viele Gedanken gemacht, er ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. Herr Striet, das ist ja im Christentum ein ganz schön blutrünstiger Gott, der seinen Sohn in den Tod schickt stellvertretend für die Sünden der Menschen?
Magnus Striet: Ob ich blutrünstig sagen würde, weiß ich nicht, darüber müsste man nachdenken. Aber klar ist, dass der Kreuztod Jesu eine enorme Bedeutung im Christentum angenommen hat. Möglicherweise ist es aber mehr die Ausdeutungsgeschichte des Kreuzes, die dann diese Wirkungsgeschichte erzielt hat, als der ursprüngliche Sinn dieses Todes.

Der Tod am Kreuz verlangte nach Deutung

Stalinski: Gehen wir mal ein paar Schritte zurück in die Geschichte, also zu den Quellen. Woher kommt denn diese Glaubensauffassung, dass Jesus einen Sühnetod für die Sünden der Menschen sterben musste?
Striet: In den Evangelien findet sich diese Aussage nicht. Bei Paulus in der Briefliteratur gibt es erste Andeutungen dafür. Aber dennoch wird man sagen müssen, dass hier sehr große Uneindeutigkeit herrscht. Richtig durchgesetzt hat sie sich erst im 4. und dann im 11. Jahrhundert, also einige hundert Jahre nach Jesu Tod. Das große Problem war: Jesus stirbt den Sklaventod, ein grauenhafter Tod, den Tausende von Nicht-Römern erleiden mussten. Häufig dauerte die Hinrichtung über viele Stunden, die Menschen haben sich schrecklich gequält, sodass jetzt, nachdem erste Menschen wieder zum Glauben an Jesus fanden, die Frage unausweichlich wurde, welche Bedeutung kommt diesem Tod zu. Und hier haben sich dann tatsächlich solche Sühneopfer-Kategorien draufgelegt.

Vorbild war die Lehnsherrschaft

Stalinski: Eigentlich sprechen Christen ja aber von einem gütigen Gott, also einem Gott, der die Menschen liebt. Wie passt das denn zusammen mit einem Gott, der ein Sühneopfer fordert, um vergeben zu können?
Striet: Ich würde ödie Vermutung anstellen, dass die allermeisten Menschen die eigentliche Logik, die dahinterstand, gar nicht kannten. Wir gehen ins 11. Jahrhundert, in lehnsherrschaftliche Verhältnisse. Der Lehnsherr hatte gegenüber den Lehnsnehmern bestimmte Pflichten, aber auch Rechte. Und diese Logik hat man auf das Gott-Mensch-Verhältnis übertragen. Gott ist der Schöpfer des Menschen, also ist der Mensch gezwungen, seinem Schöpfer gegenüber jegliche Form der Ehrerbietung zu erbringen.
Und jetzt greift eine Logik, die zentral für das Christentum geworden ist: Der Mensch wurde immer nur als Sünder vor Gott begriffen. Jetzt folgert man daraus, das war vor allem Anselm von Canterbury, dass der Mensch seinem Schöpfer nicht die notwendige Ehrerbietung erbracht hat. Aber anstatt jetzt zu sagen, Gott vergibt dem Menschen aus reiner Barmherzigkeit, sagt Anselm: Es braucht zunächst ein Sühneopfer, damit Gott dem Menschen überhaupt vergeben darf. Das ist genau diese lehnsherrschaftliche Logik, die überträgt man jetzt auf das Gott-Mensch-Verhältnis.
Also nochmals, das ist sehr wichtig zu verstehen, die Vorstellung war: Gott durfte den Menschen überhaupt nicht ohne ein Sühneopfer vergeben. Und darin zeigt sich die Barmherzigkeit. Jetzt stellt sich aber für Gott, so die Vorstellung, das Problem: Der Mensch kann ja nichts aus sich selbst heraus tun, weil er als Geschöpf alles verwirkt hat, also muss ein größeres Sühneopfer gebracht werden - und das war dann der Gottmensch Jesus Christus. Und man meinte, das würde Gott genügen, um tatsächlich den Menschen vergeben zu dürfen.

Jesus hat seinen Tod riskiert, aber nicht gewollt

Stalinski: Aber Christen glauben ja auch an einen Gott, der allmächtig ist. Wenn er denn allmächtig ist, müsste man doch sagen, dann braucht er nicht so eine Gegenleistung, dann kann er doch einfach so vergeben.
Striet: In der Tat, ich würde Ihnen da sofort zustimmen. Aber auf die Idee ist man nicht gekommen. Die Vorstellung war: Es braucht zunächst diese objektive Sühneleistung, erst darin zeigt sich Gottes Allmacht und zugleich seine Barmherzigkeit, weil immer der Gedanke maßgeblich war: Gott darf nicht, weil ansonsten die Ordnung nicht wieder in ihr Recht gesetzt ist.
Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau.
Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg.© Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Britt Schilling
Stalinski: Wie sehen Sie das denn, glauben Sie, dass der Tod Jesu ein Sühneopfer gewesen ist?
Striet: Nein. Wenn man historisch rekonstruiert, was wir überhaupt über diesen Juden aus Nazareth wissen, dann können wir sehr genau sagen, dass er ganz auf der Linie seiner Vorgänger und Vorgängerinnen agiert. Er will, dass Menschen in komplizierten sozialen Lagen anerkannt werden, dass gerade die, die am Rande stehen, die - möglicherweise auch aus religiösen Gründen - ausgegrenzt werden, wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden. Und darum streitet er sich, im Namen des Gottes Israels.
Dann kommt es zu einem religiösen Konflikt. Die Römer hatten überhaupt kein Interesse an religiösen Konflikten oder an religiösen Fragen, außer wenn sie politische Unruhe brachten. Deshalb haben sie Personen, die als Aufrührer galten, kurzerhand gekreuzigt. Jesus hat seinen Tod nicht gewollt, aber, das wird man vielleicht sagen dürfen, er hat ihn riskiert. Er wusste, dass es brenzlig werden könnte, und wir dürfen davon ausgehen, dass er ihn tatsächlich deshalb auch als Preis ertragen hat, weil er auch in Jerusalem selber noch um diesen Gott ringen wollte. Aber nochmals: Er hat ihn nicht gewollt, sondern in Kauf genommen.

Theologie ist immer zeitgebunden

Stalinski: Aber es gibt ja viele Theologen, die sagen: Dieser Glaube, dass Jesus für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben ist, das ist ein Herzstück des Christentums. Wenn Sie daran nicht glauben, welche Deutung haben Sie denn dann?
Striet: Zuerst mal wird man sagen müssen, Theologie ist immer in historischen Prozessen geworden: Das was wirksam wird, setzt sich durch - und kann dann auch wieder korrigiert werden. Möglicherweise kann man ja eine andere Ausdeutung riskieren. Wenn man glauben kann - ich betone ausdrücklich: wenn man glauben kann - dass Gott selbst als dieser Jesus gehandelt hat, dann wird man sogar sagen dürfen, dass Gott selbst sich in die Konflikte eingemischt hat, wer er für den Menschen sein will.
Von daher kann man in einer sehr stark umdeutenden Weise schon sagen, dass er für die Sünde des Menschen gestorben ist, aber nicht in dieser klassischen Form – sondern, weil Menschen einfach nicht glauben mögen oder können, dass Gott es gut mit ihnen meint, werden sie eher kleinlich bis dahin, dass sie Gewalt gegen andere Menschen ausüben. Und dies ist damals passiert: Man will nicht glauben, dass Gott es tatsächlich mit allen gut meint, zumal mit denen, die am Rande stehen, denen es schlecht geht - und riskiert deshalb den religiösen Konflikt. Und dafür geht Jesus ans Kreuz.

Viele glauben nicht mehr an den Sühnetod

Stalinski: Ich gehe noch mal darauf zurück, der Sühnetod steht ja auch im Katechismus der katholischen Kirche, kann man das jetzt einfach so abschaffen?
Striet: Ja, das wird sehr kompliziert, allerdings wird man, glaube ich, zunächst auch anerkennen müssen, dass dieser Sühnetod Jesu von sehr vielen - wenn auch nicht allen - Menschen nicht mehr geglaubt wird. In den letzten Jahrzehnten ist zumindest in einigen Gesellschaften Folgendes passiert: Dieser Glaube ist nicht mehr geteilt worden, also hat man still und heimlich an die Stelle des Gottes, der dieses Sühneopfer brauchte, den lieben, barmherzigen Gott gesetzt, also sozusagen Gottesbilder ersetzt.
Bezogen auf die Katechismus-Frage: Das wird kompliziert, allerdings kann man ja im Moment an vielen Beispielen erkennen, wie hart zumindest in noch kirchlich interessierten Kreisen darum gerungen wird, was denn überhaupt zu übernehmen ist aus der Tradition und was dringend modifiziert werden muss. Und ich glaube, die zentrale theologische Frage ist, ob tatsächlich diese alte Sühnetheologie noch akzeptiert werden kann - möglicherweise muss man sogar sagen, ob die überhaupt noch akzeptiert werden darf. Denn dürfen Menschen wirklich einem Gott glauben, sich ihm in Vertrauen anheim geben, der ein solches Sühneopfer braucht, um sich mit der Menschheit versöhnen zu können? Ich bin gar nicht so ganz sicher, ob da nicht sogar moralische Gründe gegen einen solchen Gott stehen.

Ein Gott, der ein Opfer braucht, unterbietet den Menschen

Stalinski: Welche moralischen Gründe könnten das sein?
Striet: Das höchste, was Menschen tun können, ist einander zu verzeihen - und zwar gerade ohne eine Vorleistung zu verlangen. Einfach so. Und das hieße, der Gott, der hier im 11. Jahrhundert auftaucht und der bis heute im Katechismus vertreten wird, unterbietet eigentlich die Möglichkeiten des Menschen. Wenn es das Größte ist, was Menschen tun können, denen, die schuldig geworden sind, zu verzeihen, einfach so, damit ein Neuanfang möglich wird - warum sollte Gott das nicht auch tun können? Ein anderer Gott wäre kleiner als der Mensch.

Vergebung gibt es umsonst - aber Reue braucht es trotzdem

Stalinski: Aber braucht es dann so etwas wie Sühne im Christentum gar nicht mehr, wenn es die Vergebung einfach so gibt, quasi umsonst?
Striet: Umsonst bedeutet nicht, dass kein Prozess einsetzt und auch einsetzen muss, der das Vergangene aufarbeitet. Da hat ja auch das Christentum wunderbare Bilder für gebracht, nur dass diese Bilder schließlich missverstanden wurden. Ich nehme eins heraus: das Fegefeuer. Man hat tatsächlich in der Frömmigkeitsgeschichte geglaubt, es gäbe ein reales Feuer, in dem tatsächlich Menschen entsetzlich leiden würden. Aber wenn man es umdeutet, ist es schlicht und einfach der Reueprozess, in dem das, was geschehen ist, nochmals an den Tag kommt und so auch verarbeitet werden kann. Und das wäre dann ein Vergebungsprozess, der tatsächlich Menschen ehrlich macht und einander nahebringt.
Und wenn das Gott-Mensch-Verhältnis ebenso zu begreifen ist, stelle ich mir diesen Prozess genau so vor. Worauf ich schon hinweisen möchte, ist: Dieser nur liebende Gott, dieser Kindergottesdienst-Kuschelgott nimmt auch die Geschichte und damit den Menschen nicht ernst. Aber das bedeutet nicht, dass man notwendig in die alte Theologie zurückfällt.

Müssen wir die Liturgie abschaffen?

Stalinski: Trotzdem ist das im kollektiven Gedächtnis der Christen, also in allen Kirchenliedern, auch in den Einsetzungsworten im Abendmahl, in jeder Eucharistie-Feier wird das ja gesagt, sein Leib, sein Blut zur Vergebung der Sünden. Dieses Bild vom Opferlamm Christus. Wenn das jetzt theologisch nicht mehr haltbar ist, was ist dann die Konsequenz daraus, müssen wir die gesamte Liturgie abschaffen?
Striet: Die Konsequenz wäre tatsächlich, wieder Theologie im Raum der Kirche zu betreiben und zu fragen: Was kann das bedeuten? Und ich biete nochmals an: Das Opferlamm, ja, Gott selbst geht in die Geschichte ein als dieser Jude aus Nazareth und will sozusagen in dieser Lebensgeschichte deutlich machen, wer er für den Menschen sein will: bereits jetzt - und möglicherweise sogar über den Tod hinaus. Und das wäre eine Theologie, die durchaus anknüpfen könnte an diese Traditionen, aber sie auch entscheidend verändern würde.
Meine große Befürchtung ist ohnehin, dass seit vielen Jahrzehnten tatsächlich viel zu wenig Theologie betrieben wird und die großen Abbrüche des Christentums, zumindest in den westlichen Gesellschaften - nur über die äußere ich mich - , wesentlich damit zu tun haben, dass das Alte nicht mehr verstanden wird, nicht mehr hineinbuchstabiert werden kann in das eigene Leben. Dann entsteht ein Schweigen, bis man schließlich aufhört, sich überhaupt noch mit diesen Fragen zu beschäftigen. Und das halte ich für dramatisch schade, weil ein anderer Gott tatsächlich auch eine lebensermutigende Kraft entwickeln kann.
Stalinski: In der evangelischen Kirche gab es ja vor etwas mehr als zehn Jahren einen heftigen Streit, der genau um diese Debatte geführt wurde, der ist eigentlich bis heute nicht so richtig beigelegt. Wie ist das in der katholischen Kirche, haben Sie da eine Einzelmeinung als besonders fortschrittlicher Theologe oder sind da die meisten auf Ihrer Linie?

Kampf um den Kern christlichen Glaubens

Striet: Nein, das Feld ist hier genauso unterschiedlich bestimmt. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sehr stark an einer traditionellen Erlösungslehre festhalten, und dann gibt es Personen, die modifizieren, die probieren, das Ganze neu zu verstehen. Aber es ist natürlich ein hart umkämpftes Gebiet, weil es eben um den Kern des christlichen Glaubens geht. Ich stehe nicht allein mit dieser Überzeugung, aber es ist sicherlich eine sehr stark korrigierende Position, die ich an dieser Stelle einnehme, ja.
Stalinski: Also, den Papst hätten Sie nicht auf Ihrer Seite?
Striet: Den vorherigen ganz bestimmt nicht, bei dem jetzigen weiß ich nicht so ganz genau, was er theologisch denkt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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