Operndiva ohne Starallüren

Von Beatrice Uerlings |
Anna Netrebko ist der unbestrittene Jungstar der Opernszene. Die 35-jährige russische Sopranistin schaffte den Durchbruch zum Welt-Star bei den Salzburger Festspielen 2002, als sie als Donna Anna in Mozarts "Don Giovanni" brillierte. Mit ihrem "Russian Album" legt sie nun ihre vierte CD vor, auf der sie erstmals in ihrer Muttersprache singt. Beatrice Uerlings hat sie in Los Angeles getroffen.
Ein schmuckloses Büro in der Los Angeles Opera. Draußen die kalifornische Sonne, angenehm warm. Drinnen die Klimaanlagen, viel zu kühl. Wohl dem, der eine Diva erwartet. Und dann auf einen nicht nur ganz normalen, sondern sogar noch: hilfsbereiten Menschen trifft.

Netrebko fragt: Do you want my jacket?

Anna Netrebko reicht spontan ihre ockerfarbene Lederjacke. Die Sopranistin verzichtet auf Allüren. Sie hat nie vergessen, wie klein sie angefangen hat: Um gratis die Proben sehen zu können, arbeitete sie zunächst als Putzfrau im Petersburger Mariinskij Theater. Dort hat sie jetzt auch ihre neue CD aufgenommen - die erste, auf der sie sich dem Repertoire ihrer Heimat widmet.

"Ich habe lange gezögert, denn die russische Musik ist sehr schwierig. Sie hat so viele Obertöne! Aber es war mir wichtig, dieses Album im Mariinskij zu machen, denn: Das war meine erste große Bühne, und es hat Jahre gedauert, ehe ich dort anerkannt wurde!"

Das Russian Album ist eine sehr persönliche Aufnahme. Anna Netrebko hat jede Arie selber ausgewählt. Ob Rimski-Korsakows "Schneeflöckchen" oder Glinkas "Ein Leben für den Zaren": Die meisten sind lange nicht eingespielt worden.

"Ich mag russische Musik, weil sie, besonders für uns Sopranistinnen, so langsam ist. Du fühlst dich wie in einer Traumwelt, bist auf einmal wirklich diese schöne Prinzessin! Meine Lieblingspartie ist Prokofjews Natascha: Sie steht für meine größten internationalen Erfolge!"

Die Sängerin sitzt auf dem Sofa, den Rücken nach Osten, den Blick gen Westen gerichtet. Sie erzählt von St. Petersbug, ihrem Rückzugsort, und von New York, ihrem zweiten Wohnsitz.

"New York ist die Stadt, die niemals schläft! Am besten ist, dass ich mich da nie alleine fühle. Außerdem mag ich diese großen Modekaufhäuser, weil dich dort keiner belästigt!"

Anna Netrebko: Robuste Wildlederstiefel, buntes Haarband, goldglitzerndes Top. Auch anderen ist es inzwischen wichtig, wie sie aussieht. Sie hat für Magazine wie Vanity Fair oder Harper's Bazar posiert. Sie ist Opernstar und Mode-Ikone in einem. Eine US-Zeitung hat Anna Netrebko gar mal als "Audrey Hepburn mit Stimme" bezeichnet. Reizt sie eine Filmkarriere?

"Mein Mentor Valery Gergiev hat tatsächlich diesen Traum, mich in einer Hepburn-Rolle auf die Leinwand zu bringen: Er will die Oper "Krieg und Frieden" verfilmen. Das würde mich freuen. Aber ansonsten lebe ich lieber in meinem eigenen Film! Vielleicht möchte ich schreiben, später, wenn ich alt bin."

Anna Netrebko ist 35. Angst vor dem Altern hat sie nicht. Als Sopranistin weiß sie nur allzu gut: Je mehr Jahre, desto besser die Stimme.

"Ich fühle die Musik heute viel stärker als früher. Auch als Person habe ich mich geändert. Es ist, als ob ich jetzt eine Brille aufhätte, die alles in fröhlichere Farben taucht."

Dunkle Phasen sind für Anna Netrebko kein Fremdwort. Vor ein paar Jahren war sie kurz davor, ihre Karriere an den Nagel zu hängen: zu viele Aufführungen, zu viel Aufmerksamkeit. Zwei Monate musste sie aussetzen. Inzwischen hat sie ihre Termine drastisch reduziert und singt so oft es geht mit ihrem Bühnenpartner, dem mexikanischen Tenor Rolando Villazon.

"Ich habe Rolando so viel zu verdanken: Er gibt mir dieses wunderbare Gefühl für alles. Mit ihm macht es wieder Spaß, auf der Bühne zu stehen. Er ist so enthusiastisch, das steckt an!"

Rollando Villazon und Anna Netrebko gelten als das Traumpaar der Klassik. Momentan sind die beiden in Los Angeles in Massenets "Manon" zu sehen. Demnächst gehen sie damit auch nach Berlin. Die Inszenierung stammt von Vincent Patterson, der sich mit Musikvideos für Madonna einen Namen gemacht hat.

"Das ist der Input, den wir brauchen! Die Oper muss sich ändern, wenn wir die jungen Leute dafür begeistern wollen! Vincent hat die Geschichte der Manon in das Hollywood der 50er Jahre transponiert: Deshalb sehe ich auf der Bühne mal aus wie Lizz Taylor, ein anderes Mal wie Marilyn Monroe."

Die Sopranistin als übertourtes Hollywood-Starlet. Auch deswegen wird Anna Netrebko mitunter als Popstar bezeichnet. Dabei habe das eine mit dem anderen nichts zu tun, ärgert sie sich.

"Ich kann nicht auf Playbacks zurückgreifen, muss raus auf die Bühne, egal, wie ich mich fühle. Wenn ich ein Konzert absage, dann steht das überall in den Zeitungen."

Zuletzt geschehen an der Carnegie Hall in New York. Anna Netrebko sagte ab, mit der Begründung, sie fühle sich künstlerisch noch nicht fertig dafür. "Das ist das Ende ihrer Karriere", "Hat sie ihre Stimme verloren?", spekulierte die Presse.

Die Klimaanlage der Los Angeles Opera bläst jetzt noch kältere Luft. Die Sängerin weigert sich trotzdem, ihre Jacke zurückzunehmen. Sie hat keine Angst, sich zu verkühlen.

"Nichts kann mich davon abhalten, ein normales Leben zu führen. Ich gehe gerne in Bars, will mich nicht abschotten, um meine Stimme zu schonen. Mag sein, dass ich als Russin etwas abgehärteter bin. In meinem Land sagen sie: Du kannst nicht immer warm duschen. Du brauchst auch schon mal kaltes Wasser, um das warme danach wieder genießen zu können!"