Oper und Pantomime

Von Frieder Reininghaus |
Alban Bergs Oper "Lulu" kam 1953 in Essen zur deutschen Erstaufführung und hier wurde es erneut aufgeführt. Streng entlang der literarischen Vorlage erzählt Regisseur Dietrich Hilsdorf vom Aufstieg der unbekannten Lulu und den zahlreichen Männern, die ihr zum Opfer fallen und sie zum Opfer machen.
Alban Berg hinterließ zwei Opern, die beide die Entwicklung des Musiktheaters im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflußten: Wozzeck (nach Georg Büchners loser Szenenfolge Woyzeck, uraufgeführt 1925 an der Berliner Staatsoper) und Lulu, basierend auf zwei Tragödien von Frank Wedekind – Der Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1902).

Der Komponist, der seit 1928 mit Unterbrechungen an der großen dreiaktigen Wedekind-Oper gearbeitet hatte, hinterließ bei seinem frühen Tod 1935 vom dritten Akt nur einen Entwurf und Skizzen. Uraufgeführt wurde 1937 am Stadttheater Zürich der Torso, ergänzt um Bergs Lulu-Suite (und diese szenisch aufbereitet mit einer Pantomime), und nach demselben Muster kam auch die Deutsche Erstaufführung 1953 in Essen heraus.

Seit Ende der 70er-Jahre Friedrich Cerhas Rekonstruktion des fehlenden Werkteils auf den Markt kam, muss für jede neue Produktion der Lulu entschieden werden, in welcher Gestalt sie auf die Bühne kommen soll.

Dietrich Hilsdorf, der Regisseur am Aalto-Theater, war erwartungsgemäß hinsichtlich der Gretchen-Frage ans Werk für eine Überraschung gut: In Essen wurde jetzt, parallel zu Hilsdorfs Inszenierung der beiden Wedekind-Dramen im Essener Schauspielhaus, die zweiaktige Version realisiert (wohl auch in Erinnerung an die Pionierleistung von 1953) – und wieder mit der nachgeschobenen Lulu-Suite und einer Pantomime zu ihr. Allerdings nimmt die dann eine vom Libretto abweichende Wendung.

In der von Johannes Leiacker konzipierten, mit wechselnden Möbeln und Bildern bestückte Industriearchitektur aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert – vielleicht auch das eine Referenz an die Stadt und die Region – "erzählt" Hilsdorf streng der literarischen Vorlage entlang den Aufstieg der aus unbekannten Tiefen stammenden Lulu: Wie sie, die in Gestalt der hochgewachsenen schlanken blonden Julia Bauer nichts vom Wedekindschen Kindweib hat, Ehefrau des alten Medizinalrats Goll (Thomas Böckstiegel) ist und nach dessen Herztod im Bett, in dem auch schon der Maler Schwarz (Andreas Hermann) liegt, dessen Gattin wird.

Dann, wie sich dieser plötzlich erfolgreiche Künstler selbst vor ihr im Badezimmer entleibt, als er von Chefredaktor Dr. Schön (Heiko Trinsinger) auf das Vorleben als dessen "Mignon" sowie die Parallelwirklichkeiten "seiner Eva" aufmerksam gemacht wird – und wie sie dann diesen alternden Machtmenschen Schön heiratet, betrügt und erschießt, als er sie zum Selbstmord nötigen will. Für die Schüsse kommt sie ins Gefängnis, nach einem Jahr jedoch durch eine hochriskante List der lesbischen Gräfin Geschwitz wieder frei.

Bis zum Ende des großen Wartens auf Lulus Rückkehr ins rauschende Leben steht die authentische Musik Bergs zu Verfügung – und bis hierher folgt auch die von Stefan Soltesz umsichtig und differenziert geleitete Essener Produktion dem Original.

Als Pantomime wird dann jedoch nicht der mähliche Niedergang der Varietétänzerin und -sängerin in Paris und der Tod als Prostituierter unter den Händen von Jack the Ripper gezeigt, sondern – im leergeräumten Raum – ihre Hinrichtung. Alle, die an ihrem Aufstieg und Niedergang beteiligt waren, sind zur Stelle: Der von den Toten auferstandene Dr. Schön geleitet sie, mit der Waffe im Anschlag, zum einsam in der Mitte stehenden Bett. Auf dem Messinggeländer der Kopfseite schneidet ihr der ebenfalls wieder zum Leben erwachte Maler die Kehle durch.

So rundet sich die gediegene Inszenierung mit dem pauschalen Hinweis auf "die Männer" als Täter. Hilsdorf und das übrige Regieteam wollte sich dem Essener Publikum, das einhellig applaudierte, nicht zeigen.