Oper

Bauernfolklore und Seelendrama

Von Stefan Keim · 21.01.2014
Janeceks "Jenufa" steht auf jedem zweiten Theaterspielplan und ist damit der Opernblockbuster der letzten Jahre. In seiner Brüsseler Inszenierung zeigt sich Alvis Hermanis als Meister psychologischer Personenführung. Er schafft eine Oper mit kammermusikalischen Anklängen und großartigen Darbietern.
Die Sänger tragen Kostüme wie in einer Folkloreshow. Ballonärmel, weite Röcke, allerhand buntes Gemüse auf dem Kopf. Würde jetzt jemand "Kalinka" anstimmen, wäre das keine Überraschung. Aber natürlich geht es um anderes, um Leos Janaceks "Jenufa", den Opernblockbuster der letzten Jahre. Die spannende und berührende Familientragödie vom Anfang des 20. Jahrhunderts steht auf jedem zweiten Musiktheaterspielplan. Da macht es Sinn, dass der lettische Starregisseur Alvis Hermanis mal einen anderen Zugang versucht.
Ein riesiges Portal verengt die Bühne in der Brüsseler Oper La Monnaie. Es dient als Projektionsfläche für verschiedene Ornamente. Erst sind es Rosen, dann im zweiten Akt Eisformationen, wie sie an Winterfenstern entstehen. Die Bilder sind ständig in Bewegung, ebenso wie ein Tänzerinnensemble, das vor allem mit den Händen arbeitet. Sie halten sie sich vor die Augen, lassen sie durch die Luft gleiten, verschränken Arme und Körper.
Nähe zum Kitsch
Einen dramaturgischen Sinn hat Alla Sigalovas Choreographie nicht, aber sie schafft eine eigenartige, konzentrierte Stimmung. Die Tänzerinnen und die Videoornamente werden eins, ein lebendes Bild, in das sich die Sänger mit genau geführten, langsamen Bewegungen einfinden. Alvis Hermanis, der auch das Bühnenbild entworfen hat, wagt die Nähe zum Kitsch, aber er versinkt nicht darin. Weil der zweite Akt ganz anders ist, ein realistischer Emotionskracher.
Plötzlich sieht die Bühne aus wie man es aus vielen Schauspielinszenierungen des Regisseurs kennt. Ein konkreter Raum, wie aus dem Leben gegriffen. Vergammelte Wände, ein Kühlschrank, ein Bett, der Fernseher läuft die ganze Zeit. Die Wohnung eines Menschen, der sich nicht lieb hat. Hier hat die Küsterin ihre schwangere Ziehtochter Jenufa versteckt, nun ist das Kind da, Jenufa fiebert, die Küsterin will ihre Zukunft organisieren. Der Vater, der Frauenschwarm Steva taucht auf, und erklärt, er wolle eine andere heiraten. Die Küsterin sieht nur einen Ausweg, einen Kindsmord aus Liebe, an dem sie fast wahnsinnig wird.
Jeanne-Michèle Charbonnets Schwerpunkt liegt im deutschen Fach, "Isolde" und "Elektra" sind zwei ihrer Paraderollen. Beides ist nun in ihrer Küsterin zu hören, zu sehen, zu fühlen. Sie betont erst kurz vor dem Mord die hysterischen Seiten der Partitur, dann aber mit Mut zu Misstönen. Vorher versucht, sie die Welt zusammen zu halten, die Stimme erzählt von unterdrückter Verzweiflung aber auch der Hoffnung, dass die Melodie nicht zerstört, dass alles noch gut wird.
Eher bei Mozart zu Hause
Sally Matthews, die Jenufa, ist eher bei Mozart zu Hause. In ihrem hellen Sopran liegt ein Schimmern, das auch durch großes Leid nicht zerstört werden kann. Zusammen mit den beiden differenzierten und kraftvollen Tenören Charles Workman (Laca) und Nicky Spence (Steva), die um Jenufa rivalisieren, hat die Brüsseler Oper ein grandioses Sängerensemble beisammen.
Alvis Hermanis zeigt im zweiten Akt seine Meisterschaft in psychologischer Personenführung. Als sie vom Tod ihres Kindes erfährt, legt Jenufa Babykleidung zusammen, still und traurig. Die Küsterin kann das nicht ertragen und stopft die Klamotten ins Gefrierfach des Kühlschranks. Bilder hilfloser Übersprungshandlungen, unterfüttert durch Janaceks aufwühlende Musik. Ludovic Morlot erzählt von Gefühlen mit filmmusikalischer Direktheit, arbeitet aber auch folkloristische Anklänge heraus, in dem er einzelne Instrumente stark hervor hebt. Bei ihm hat die Oper neben der großen Dramatik auch kammermusikalische Feinheit.
Keine lebenden Kostümständer
Durch die hohe musikalische Qualität bleibt die Emotionalität erhalten, auch wenn Alvis Hermanis im dritten Akt wieder zum konsequent durchstilisierten Ornament zurück kehrt. Nun stehen da keine lebenden Kostümständer aus der Folkloreshow mehr, sondern Menschen, die sich in ein ästhetisches System einfügen. Es gibt ihnen Halt. Die Tänzerinnen, die im zweiten Akt als Todesengel am Fenster vorbei geschwebt waren, treten nun ins Zentrum. Und am Ende ranken wahrhaftig wieder Rosen auf dem Portal.
Vielleicht ist es der Schluss, der "Jenufa" heute beliebter macht als "Madame Butterfly" oder "Lucia die Lammermoor". Der Tod wäre zu einfach. Das Weiterleben nach einer Katastrophe ist die wahre Herausforderung. Und diese ungewöhnliche, am Ende vollständig überzeugende Aufführung enthält in Zeiten kritischen Regietheaters noch etwas anderes – die Ehrenrettung des Ornaments.
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