On the road
Über 4.000 Kilometer führt die Route 66 vom Lake Michigan bis nach Los Angeles am Pazifik. Die "Mutter aller Straßen", wie sie John Steinbeck nannte, verbindet acht Bundesstaaten und führt die Reisenden durch drei Zeitzonen. Die Route 66 war die erste durchgehende Ost-West-Verbindung der USA. Tom Noga ist ihr gefolgt.
Die Personen in der Reihenfolge ihres Auftretens
Sprecher 1 - Curt Dail, gemütlicher, älterer Mann
Sprecher 2 - Scott Presley, einfach gestrickter Musiker vom Land
Sprecherin 3 - Nancy Carrigan, Typ Karrierfrau, Anfang 30
Sprecher 4 - Nick Auker, Cowboy, ein Mann der Tat, offen und ehrlich
Sprecherin 5 - Amy Auker, seine Frau, all American girl, aber mit Tiefgang
Sprecher 6 - David Kessler, Historiker. Schräger Typ, Schnellredner.
Sprecher 7 - Albert Okura, Möchtegern-Fast-Food-Mogul japanischer Herkunft; hat
etwas Gehirngewasches.
Radiosuchlauf, dann startet "Route 66" von Bobby Troup
"If you ever plan to motor west
Travel my way
Take the highway
That‘s the best.
Get your kicks
On Route 66
It winds from Chicago to L.A.
More than 2.000 miles all the way..."
Sie windet sich nicht, zumindest nicht in Chicago. Schnurgerade führt Route 66 weg vom Lake Michigan. Über 4.000 Kilometer sind es von hier bis nach Los Angeles am Pazifik, durch acht Bundesstaaten und drei Zeitzonen.
Der Weg aus Chicago führt durch düstere Häuserschluchten, darüber die Trasse der Hochbahn. Die "Mutter aller Straßen", so Nobelpreisträger John Steinbeck in seinem Roman "Früchte des Zorns", ist hier alles andere als die Traumstraße, als die sie durch Reisekataloge, TV-Serien und Songs geistert. Zerborstene Scheiben, Häuser, deren Türen und Fenster mit Holzbrettern vernagelt sind, überall Müll. Kein Mensch auf den Straßen. "Luxus-Appartments zu vermieten", steht an einer fensterlosen Hauswand, die aussieht, als hätte sie jemand mit Granaten beschossen.
Raus aus Chicago. Endlose Felder, längst abgeerntet und von der Sonne ausgedörrt. Illinois ist leer und flach. Route 66 ist Amerikas Hautpstraße gewesen, die erste durchgehende Ost-West-Verbindung. Heute extiert sie nur noch in Fragmenten. Und so führt der Weg nach Springfield, der Hauptstadt von Illinos, im Zickzack durch die Felder.
Das Cozy Dog Inn, eine Mischung aus Imbissbude und Museum, bekannt geworden durch eine kulinarische Erfindung: den Hot Dog im Teigmantel. Die Wände sind mit alten Straßenschildern und Fotos tapeziert. An einem Resopaltisch drei Männer in Latzhosen und Baseballkappen, die wortlos vor sich hin stieren.
Ein Paar kommt herein, beide grauhaarig, beide massig. Sie bestellen zwei Cozy Dogs und zwei Diät-Cola. Anne und Curt Dail.
"My wife said, I wanted to travel Route 66 some time… Meine Frau wollte unbedingt noch mal über Route 66 reisen. Und jetzt machen wir’s, wir fahren nach Kalifornien, um uns dort ein paar Baseball-Spiele anzusehen. Ich bin Mitte 60, ich wuchs in der Blütezeit der Route 66 auf. Diese Reise bringt so viele Erinnerungen zurück, so vieles, was ich glaubte, längst vergessen zu haben."
Ein herzhafter Biss. Curt verzieht den Mund, irgendwie war der Cozy Dog früher leckerer, nicht so künstlich und weniger fettig. Aber vielleicht trügt auch die Erinnerung an die ersten Urlaubsreisen in den 50er Jahren. Wie Millionen Amerikaner haben sich die Dails damals aufgemacht, dieses riesige Land zu erkunden – natürlich über Route 66, lange Zeit die einzige Verbindung in den Westen.
Und wie Millionen Amerikaner sehen die Dails diese Reisen romantisch verklärt. Nun also die Rückkehr auf die Straße des früheren Glücks. Zehn Tage haben sie für Fahrt nach L.A. einkalkuliert.
"Sehen Sie, der Großraum Chicago, wo eine Stadt an die andere grenzt, liegt kaum hinter uns, und schon fahren wir 70, 80 Kilometer, ohne jemandem zu begegnen."
Abschied von den Dails, wieder on the road. Nach 500 Kilometern der Mississippi. Breit und träge wälzt er sich dahin. Der Beat-Poet Jack Kerouac beschreibt in seinem Kult-Buch "Unterwegs" hat ihn "den starken, üppigen Duft, der riecht wie der rohe Körper Amerikas."
Hinterm Mississippi beginnt der Westen. Missouri, das sind endlose bewaldete Hügel, die Ozark Mountains. Eine märchenhafte, wilde Landschaft, durch die Route 66 mäandert. Vorbei an Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben ist. Tankstelle, Gemischtwarenladen, Restaurant und ein paar Holzhäuser mit ausladenden Veranden – schon ist man durch.
Nur die riesigen Reklametafeln passen nicht recht in Bild. Sie weisen auf Branson hin, "the music capital of the world", die Musikhauptstadt der Welt.
Branson ist ein Städtchen mit 3.000 Einwohnern und jährlich bis zu fünf Millionen Besuchern. Es ist abends, showtime, und die Hauptstraße, die sich über die Hügel schlängelt, ist total verstopft.
Zu beiden Seiten der Straße Konzerthallen, mal aufgemacht als kitschiges Schlösschen, mal als schlichter Schuppen. Die Osmonds und Dolly Parton treten hier auf, der japanische Country-Sänger Shoji Tabuchi , ein paar Elvis-Imitatoren. Und die Presleys, weder verwandt, noch verschwägert mit dem King.
Mit dem Predigersohn Lloyd Presley hat der Aufstieg Bransons zur Musik-Hochburg begonnen. Erst ist er mit seiner Familie in der Scheune seiner Farm aufgetreten. Später ist eine Halle daraus geworden, andere haben sich drumherum angesiedelt. Heute rangiert Branson mit 90 verschiedenen Shows hinter Las Vegas auf Platz zwei der amerikanischen Unterhaltungsstädte.
Im Presley Theatre herrscht Gemütlichkeit auf Amerikanisch: viel Holz und Plüsch. Kaum ein Zuschauer ist unter 50, Leute vom Land in Jeans, T-Shirt und Baseballkappen. Die meisten tragen etwas in den Nationalfarben rot, blau und weiß. Hier ist Amerika ganz bei sich.
An einem Stand gibt‘s geröstete Mandeln, nach einem Rezept von Oma Presley. Am Tresen daneben ein Mann im Gespräch mit Zuschauern: rundes Gesicht, schütteres Haar, blaue Glitzerjacke mit Fransen. Scott ist Lloyds Enkel, der Gitarrist der Presleys.
"Unsere Show ist sehr vielfältig, gute christliche Unterhaltung für die gesamte Familie. Bei uns wird niemand vor den Kopf gestoßen. Sie können mit ihren Kindern kommen, mit ihren Eltern und Großeltern. Wir haben weder Glücksspiel, noch Nachtleben. Es gibt wenige Orte auf der Welt, wo du sicher sein kannst, dass deine Kinder keine Schimpfworte zu hören kriegen."
Stimme: "Ladies and gentlemen, you are about to experience an American entertainment tradition. Bransons first family of entertainment proudly presents: Presley‘s Country Jubilee."
Die Show beginnt mit Dolly Partons "Take me back to the country". Ein programmatischer Auftakt: Ich bin das Stadtleben leid, nichts als Dreck, Drogen, Kriminalität. Die Presleys feiern das Land als Ursprung von allem, was an Amerika gut ist: Rechtschaffenheit, Glaube, Familie. Ihre Show ist rasant. Sie jagen durch Country-Klassiker, gefolgt von Gospel- und Rock’n’Roll-Medleys.
Dazwischen Comedy. Auftritt Herkimer, ein Hillbilly in Latzhose mit dicker Brille, gespielt von Scotts Vater Gary. Herkimers Witze sind steinalt: Was haben Politiker und Windeln gemeinsam? Man muss sie gleich oft wechseln.
Zum Schluss "God bless the USA", die inoffizielle Hymne: Ich bin stolz Amerikaner zu sein, denn ich weiß, ich bin frei. Alle erheben sich, spätestens als das Lied in "America the beautiful" übergeht, haben sie Tränen der Rührung in den Augen.
Nach der Show sitzen sie vorne auf der Bühne: Lloyd und seine Söhne Gary und Frank, Scott mit seinen Brüdern und Cousins und Tochter Jenny. Ein Schwätzchen mit den Zuschauern. Die meisten haben ein Video der Show gekauft, aber niemand verlangt Autogramme – die auf der Bühne sind auch nicht anders als die davor. Eine halbe Stunde, dann verabschieden sich die Presleys.
Zurück auf Route 66. Über die Grenze nach Oklahoma, Anfang des 20. Jahrhunderts dank reicher Ölvorkommen ein Boom-Staat, in den 30er Jahren das Armenhaus Amerikas. Zig tausend Farmer sind damals nach Kalifornien geflohen – John Steinbeck hat ihnen in "Früchte des Zorns" ein Denkmal gesetzt.
Arm ist Oklahoma immer noch. Winzige Dörfer, die nicht mehr sind als eine Ansammlung von Fertighäusern oder Wohnwagenparks. In jedem Ort, so klein er auch sein mag, gibt es eine Pfandleihe.
Oklahoma City: ein paar Hochhäuser inmitten endloser, Schachbrett-artig angelegter Wohnsiedlungen. Ein Stadt gewordenes Dorf. Wie die meisten Städte im Mittleren Westen.
Auf einem Platz mitten in der Stadt zwei stilisierte Tore mit Uhren, die für immer stehen geblieben sind. Die eine um 9:01 Uhr, die andere um 9:02 Uhr. Dazwischen fließt Wasser – als Symbol der Heilung. Und drum herum stehen 168 Stühle. Das Monument erinnert an die Opfer des Bombenanschlags auf das Murrah Building, ein Regierungsgebäude, verübt von Timothy McVeigh am 19. April 1995. Noch heute ist für Nancy Carrigan jede Minute dieses traumatischen Tages präsent.
"Ich kann mich noch erinnern, dass kurz nach dem Anschlag die Fernsehsender kamen. Fast scheint es mir, als hätten wir es live erlebt, tagelang hast du ständig daran gedacht. Und wir haben alle geholfen: Wir haben Batterien besorgt oder Schühchen für die Suchhunde oder wir haben Blut gespendet. Für die meisten wird diese Erinnerung nie vergehen, viele hier aus Oklahoma City waren bis heute hier, weil ihre Wunden noch nicht verheilt sind."
Nancy Carirgan ist Kuratorin des Oklahoma City National Memorials, zu dem auch ein Museum gehört. In einem Schaukasten sind die persönlichen Gegenstände der Opfer ausgestellt, auf Monitoren laufen Fernsehberichte von damals, auf anderen erinnern sich Augenzeugen unter Tränen. Die Installationen sind bedrückend und verstörend. Aber der Kontext der Tat bleibt unklar. Kein Wort über McVeighs Vebindungen zu rechtsradikalen Gruppen, von denen es nach Recherchen des Southern Poverty Law Center in Oklahoma und den angrenzenden Staaten über 200 gibt.
"Dieses Museum ist den Überlebenden gewidmet, den Opfern und den Rettern. Wir bieten auch Informationen über die Suche nach den Tätern und über das Gerichtsverfahren - aber nur als Nebenaspekt. Primär wollen wir zeigen, welche Auswirkungen Gewalt hat. Und das kann man auch verstehen, ohne sich mit den Hintergründen von Terrorismus zu befassen. Außerdem wollte Timothy McVeigh mit seiner Gewalttat die Regierung herausfordern, aber er hat das Land gegen Hass und Terrorismus geeint. Er hat also keinen Erfolg gehabt – auch das wollen wir rüber bringen."
Hinter Oklahoma City beginnt die Wüste. Flaches Land, auf dem nichts wächst und kaum jemand lebt. Route 66 ist eine schnöde Servicestraße neben der Autobahn. Ab und an ein Ort, bestehend aus Motel und Diner, einem amerikanischen Restaurant, nebst Souvenirladen. Wie Adrian, exakt auf halber Strecke zwischen Chicago und Los Angeles. Eine Gruppe Harley-Fahrer aus Italien macht hier Station. Sie haben die "Mutter aller Straßen" als Selbstfahrerreise gebucht, mit Motorrad und vorbestellten Übernachtungen – Abenteuer light.
Weiter in den Panhandle, den sanft gewellten Norden von Texas. Üppige, von Rissen und Furchen durchzogene Weiden, so weit das Auge reicht. Keine Konturen, nichts, was dem Auge Halt bietet. Ein Hauch von Ewigkeit liegt über dieser Landschaft.
Der Texas Panhandle ist die Heimat der Aukers. Amy, klein und zierlich, mit randloser Brille und Blümchenkleid. Und Nick, zwei Meter groß, breitschultrig, mächtiger Schnäuzer, immer einen Stetson auf dem Kopf und die Hose in kniehohen Cowboy-Stiefeln. So läuft er über eine Weide am Rande der Route 66, auf der rund fünfzig Rinder grasen.
"Das ganze Land hier ist in Privatbesitz. Kaufen ist nicht, mit Viehzucht kriegst du die Kosten nie wieder rein. Ne Ranch oder Farm betreiben, das ist legales Glücksspiel: Du arbeitest mit gepumptem Geld, alles hängt davon ab, wie billig du Vieh kaufst, ob es genug regnet und du genug Gras hast. Und natürlich vom Markt: Einer sagt was Falsches im Fernsehen, schon bist du im Arsch."
Nick ist Cowboy, einer der wenigen, die es noch gibt. Er macht sich krumm für 1.500 Dollar im Monat plus freie Unterkunft. Früher hat er mal eine eigene Ranch gehabt, aber damit ist er pleite gegangen. Kein Einzelschicksal: Seit 1980 sind in den USA über eine Million Ranches unter den Hammer gekommen.
Der Amerikanische Traum, das eigene Häuschen mit einem bisschen Platz drum herum? Nicht drin, die Aukers haben zwei Kinder, das Geld reicht gerade, um über die Runden zu kommen.
"Ich lebe auf dem Land, unter diesem großen Himmel, der Horizont so weit, die Milchstraße jede Nacht sichtbar. In der Stadt hätte ich das alles nicht. Nur in diesem Teil der USA kann ich so mit dem Land verwurzelt leben. Ich fühle mich auch nicht einsam. Hier bekommst Du ein Gefühl für deine eigene... Winzigkeit. Du erfährst, wie unbedeutend du eigentlich bist."
Nick und Amy müssen Abendbrot für die Kinder bereiten. Wieder auf Route 66. Vorbei an Amarillo, einer trostlosen Wüstenstadt. Vorbei an der so genannten Cadillac Farm, auf der ein verrückter Millionär acht Straßenkreuzer mit der Schnauze voran in den Boden betoniert hat – eine Hommage ans automobile Zeitalter. Aber wie so oft auf Route 66 liegen das Originelle und Banale nah beieinander. Ein paar Kilometer weiter die Bug Ranch: die gleiche Idee, nur stecken dort VW Käfer im Boden.
New Mexico. Die Sonne brennt vom Himmel der Asphalt flimmert. Am Horizont schieben sich schroffe Berge vorbei, die im Mittagslicht wie Scherenschnitte wirken. Diese Landschaft erzählt von den Zufällen des Lebens. Von Orten, die entstanden und aufgeblüht sind, weil Route 66 durch sie führt und die zerfallen, seit sie der Autobahn gewichen ist: Tucumcari, Montoya, Santa Rosa.
Das Route-66-Diner in Albuquerque, der größten Stadt New Mexicos, ist hell blau gestrichen - eine Reminiszenz an die 50er Jahre. Hellblau sind auch die Uniformen der Kellner, gesprenkelt mit Ketchupflecken. Es gibt Hamburger und Sandwiches in allen Varianten – sonst nichts. Wie jeden Sonntag ist es brechend voll im Route-66-Diner. Und wie jeden Sonntag isst David Kessler hier zu Mittag.
"Route 66 ist mehr als eine Überlandstraße, sie steht für privates Unternehmertum. Schon Cyrus Avery, der Vater der Route 66, verfolgte kommerzielle Interessen: Er wollte eine durchgehende Verbindung schaffen von den Industrieregionen um Chicago über die damals boomenden Ölfelder Oklahomas bis nach Kalifornien. Route 66 bot auch Leuten eine Chance, die vielleicht nur ein paar hundert Dollar hatten. Sie konnten Tankstellen betreiben oder Getränke verkaufen. Ohne dieses Unternehmertum wäre Route 66 überhaupt nicht denkbar."
David Kesslers Haare sind grau und schütter und die letzte Rasur liegt über eine Woche zurück. Er ist Historiker und Route 66 sein Steckenpferd. In Albuquerque ist er für Denkmalpflege zuständig. So hat er Einfluss auf Baumaßnahmen entlang Route 66, die hier aussieht wie ein beliebiger, von Einkaufzentren und Tankstellen flankierter Highway in einer beliebigen amerikanischen Stadt.
"Route 66 hat sicher zur Uniformität Amerikas beigetragen. Das Ansom Motel, es stand dort drüben, war eines von vieren entlang der Strecke, die ihren Gäste einen Gratisanruf in einem der anderen erlaubten, um ein Zimmer für die folgende Nacht zu buchen. Aus diesen vier Motels entstand die Kette Best Western. Und mit den Holiday Inns und später natürlich McDonalds breitete sich das Franchise-Modell im ganzen Land aus. Das alles begann auf Route 66. Ironischerweise suchen die Touristen auf Route 66 heute das exakte Gegenteil davon, nämlich kleine Familienbetriebe, die sie an ein vermeintlich unschuldigere Zeit erinnern."
Viele kleine Familienbetriebe sind nicht übrig geblieben. Und was historisch wirkt, muss es noch lange nicht sein. Wie das Route 66 Diner: Es stammt aus den 80er Jahren, als die "Mutter aller Straßen" von der Reiseindustrie wieder entdeckt wird. "Kaum noch etwas ist echt entlang Route 66", sagt Kessler. Und so uniform wie viele Orte, ist auch das Angebot an Souvenirs: Überall gibt es die gleichen T-Shirts, Kaffetassen, Straßenschilder.
"Früher fand ich das schlimm. Diese Kommerzialisierung schien mir der historischen Bedeutung von Route 66 zu wider zu laufen. Heute weiß ich, dass die vielen Museen und Trödelläden ein Beispiel für das sind, was wir schon vor 70, 80 Jahren beobachtet haben, nämlich für die Nischen, in denen die Leute entlang der Straße ihr Auskommen suchen."
Weiter, immer weiter. Die Straße als Heimat und Bewegung als Ausdrucksmittel, wie Steinbeck es ausdrückte.
Arizona. Route 66 schlängelt sich durch kahle Berge. Dahinter die Monumente Amerikas: Grand Canyon, Hoover Staudamm, Las Vegas. Das Ewige, das große Bauwerk, unter immensen Opfern während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre errichtet, und das Spielerparadies mit seinen künstlichen Welten.
Immer wieder Geisterstädte in denen der Wilde Westen für Touristen inszeniert wird, komplett mit Schießereien, die mehrmals täglich zu festen Zeiten stattfinden. Schließlich Kalifornien. Die Mohave Wüste, knochentrocken und lebensfeindlich. Noch einmal geht es durch die Berge. Und dann hinab nach San Bernadino.
San Bernadino ist die Heimat von McDonalds. In den 50er Jahren betreiben die schottischen Einwanderer hier eine Pommesbude mit besonderes effizientem Service. Der Handelsvertreter Ray Kroc kauft sie ihnen ab und baut sie zum Imperium aus. Die Bude ist heute ein Museum, was sonst. Es gehört Albert Okura.
"Dieses Museum ist meine Berufung, denn ich habe Ray Krocs Leben studiert. 1954 gründete er McDonalds. Er hatte die Brüder gesehen, sie waren sehr erfolgreich mit ihrem Restaurant. Ray Kroc hatte die Vision, die USA mit diesem Konzept zu erobern. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nach dem Krieg, als die Babyboomer geboren wurden und der Hamburger regierte. Er sah die Chance, all diese Leute zu gewinnen."
Albert Okura wischt sich die Hände an seiner Schürze ab. Wie sein Vorbild hat er eine Fast-Food-Kette aufgebaut. Sie heißt Juan Pollo. Heute arbeitet Albert in der Filiale auf der fünften Straße mit. Gestern ist er im Laden in Riverside aufgetaucht. Und morgen? Albert lächelt viel sagend, mit diesen Überraschungsbesuchen hält er seine Mitarbeiter auf Trab.
Albert Okura ist ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren. Wie üblich hat er seinen Vater im Schlepptau. Der ist 1942 als japanischer Kriegsgefangener in die USA gekommen und nie wieder zurück gegangen. Dass sein Sohn es zum erfolgreichen Unternehmer gebracht hat, macht ihn stolz. Sagt Albert. Und bald wird Vater Okura noch stolzer sein, denn Albert hat Großes vor.
"Mein Traum war immer, das neue McDonalds zu gründen. Aber der Markt in Amerika ist gesättigt, es gibt zu viele Ketten. Deshalb setze ich auf Huhn. In den meisten Entwicklungsländern wird Geflügel gegessen, ich bin also zur richtigen Zeit am richtigen Ort, global betrachtet, so, wie Ray Kroc damals in Amerika. Das ist eine Parallele. Die Tür steht weit offen für mich, ich muss nur noch hindurch treten."
Seinen Feldzug hat Albert generalstabsmäßig geplant. Der Name Juan Pollo zielt auf den Markt in Mittel- und Südamerika , ein animiertes Huhn als Werbefigur soll Kinder anlocken, die Uniformen seiner Mitarbeiter sind grün – die Farbe kommt in den Flaggen vieler Länder vor, außerdem sieht man Fettspritzer darauf nicht so. 33 Filialen umfasst Alberts Imperium, alle in der Gegend um San Bernadino. Als nächstes will er entlang Route 66 expandieren: von West nach Ost – mal anders herum.
"Ich brauche Leute, die meine Vision teilen, mit ihnen will ich strukturiert wachsen. Am besten mit Leuten, die nicht aus dem Restaurantgewerbe kommen. Ich muss die Regeln brechen, um mein Schicksal zu erfüllen. Und mein Schicksal ist es, der größte Hähnchenverkäufer der Welt zu werden."
Die letzten Kilometer im Großraum Los Angeles. Auf einer chronisch verstopften sechsspurigen Straße. So hat die Reise in Chicago auch begonnen. Dazwischen liegen 4.000 Kilometer. Und Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Von der heilen Welt in Branson zum kalifornischen Hähnchen-Imperium, von den Dails auf ihrem Erinnerungs-Trip in die Welt der 50er Jahre zum harten Arbeitsalltag der Aukers im Cowboy-Staat Texas.
Ein mal noch abbiegen, dann hat die "Mutter aller Straßen" Santa Monica erreicht. Zwischen sündhaft teuren Hotels und edlen Boutiquen glitzert der Pazifik. Dort ist Amerika zu Ende.
Sprecher 1 - Curt Dail, gemütlicher, älterer Mann
Sprecher 2 - Scott Presley, einfach gestrickter Musiker vom Land
Sprecherin 3 - Nancy Carrigan, Typ Karrierfrau, Anfang 30
Sprecher 4 - Nick Auker, Cowboy, ein Mann der Tat, offen und ehrlich
Sprecherin 5 - Amy Auker, seine Frau, all American girl, aber mit Tiefgang
Sprecher 6 - David Kessler, Historiker. Schräger Typ, Schnellredner.
Sprecher 7 - Albert Okura, Möchtegern-Fast-Food-Mogul japanischer Herkunft; hat
etwas Gehirngewasches.
Radiosuchlauf, dann startet "Route 66" von Bobby Troup
"If you ever plan to motor west
Travel my way
Take the highway
That‘s the best.
Get your kicks
On Route 66
It winds from Chicago to L.A.
More than 2.000 miles all the way..."
Sie windet sich nicht, zumindest nicht in Chicago. Schnurgerade führt Route 66 weg vom Lake Michigan. Über 4.000 Kilometer sind es von hier bis nach Los Angeles am Pazifik, durch acht Bundesstaaten und drei Zeitzonen.
Der Weg aus Chicago führt durch düstere Häuserschluchten, darüber die Trasse der Hochbahn. Die "Mutter aller Straßen", so Nobelpreisträger John Steinbeck in seinem Roman "Früchte des Zorns", ist hier alles andere als die Traumstraße, als die sie durch Reisekataloge, TV-Serien und Songs geistert. Zerborstene Scheiben, Häuser, deren Türen und Fenster mit Holzbrettern vernagelt sind, überall Müll. Kein Mensch auf den Straßen. "Luxus-Appartments zu vermieten", steht an einer fensterlosen Hauswand, die aussieht, als hätte sie jemand mit Granaten beschossen.
Raus aus Chicago. Endlose Felder, längst abgeerntet und von der Sonne ausgedörrt. Illinois ist leer und flach. Route 66 ist Amerikas Hautpstraße gewesen, die erste durchgehende Ost-West-Verbindung. Heute extiert sie nur noch in Fragmenten. Und so führt der Weg nach Springfield, der Hauptstadt von Illinos, im Zickzack durch die Felder.
Das Cozy Dog Inn, eine Mischung aus Imbissbude und Museum, bekannt geworden durch eine kulinarische Erfindung: den Hot Dog im Teigmantel. Die Wände sind mit alten Straßenschildern und Fotos tapeziert. An einem Resopaltisch drei Männer in Latzhosen und Baseballkappen, die wortlos vor sich hin stieren.
Ein Paar kommt herein, beide grauhaarig, beide massig. Sie bestellen zwei Cozy Dogs und zwei Diät-Cola. Anne und Curt Dail.
"My wife said, I wanted to travel Route 66 some time… Meine Frau wollte unbedingt noch mal über Route 66 reisen. Und jetzt machen wir’s, wir fahren nach Kalifornien, um uns dort ein paar Baseball-Spiele anzusehen. Ich bin Mitte 60, ich wuchs in der Blütezeit der Route 66 auf. Diese Reise bringt so viele Erinnerungen zurück, so vieles, was ich glaubte, längst vergessen zu haben."
Ein herzhafter Biss. Curt verzieht den Mund, irgendwie war der Cozy Dog früher leckerer, nicht so künstlich und weniger fettig. Aber vielleicht trügt auch die Erinnerung an die ersten Urlaubsreisen in den 50er Jahren. Wie Millionen Amerikaner haben sich die Dails damals aufgemacht, dieses riesige Land zu erkunden – natürlich über Route 66, lange Zeit die einzige Verbindung in den Westen.
Und wie Millionen Amerikaner sehen die Dails diese Reisen romantisch verklärt. Nun also die Rückkehr auf die Straße des früheren Glücks. Zehn Tage haben sie für Fahrt nach L.A. einkalkuliert.
"Sehen Sie, der Großraum Chicago, wo eine Stadt an die andere grenzt, liegt kaum hinter uns, und schon fahren wir 70, 80 Kilometer, ohne jemandem zu begegnen."
Abschied von den Dails, wieder on the road. Nach 500 Kilometern der Mississippi. Breit und träge wälzt er sich dahin. Der Beat-Poet Jack Kerouac beschreibt in seinem Kult-Buch "Unterwegs" hat ihn "den starken, üppigen Duft, der riecht wie der rohe Körper Amerikas."
Hinterm Mississippi beginnt der Westen. Missouri, das sind endlose bewaldete Hügel, die Ozark Mountains. Eine märchenhafte, wilde Landschaft, durch die Route 66 mäandert. Vorbei an Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben ist. Tankstelle, Gemischtwarenladen, Restaurant und ein paar Holzhäuser mit ausladenden Veranden – schon ist man durch.
Nur die riesigen Reklametafeln passen nicht recht in Bild. Sie weisen auf Branson hin, "the music capital of the world", die Musikhauptstadt der Welt.
Branson ist ein Städtchen mit 3.000 Einwohnern und jährlich bis zu fünf Millionen Besuchern. Es ist abends, showtime, und die Hauptstraße, die sich über die Hügel schlängelt, ist total verstopft.
Zu beiden Seiten der Straße Konzerthallen, mal aufgemacht als kitschiges Schlösschen, mal als schlichter Schuppen. Die Osmonds und Dolly Parton treten hier auf, der japanische Country-Sänger Shoji Tabuchi , ein paar Elvis-Imitatoren. Und die Presleys, weder verwandt, noch verschwägert mit dem King.
Mit dem Predigersohn Lloyd Presley hat der Aufstieg Bransons zur Musik-Hochburg begonnen. Erst ist er mit seiner Familie in der Scheune seiner Farm aufgetreten. Später ist eine Halle daraus geworden, andere haben sich drumherum angesiedelt. Heute rangiert Branson mit 90 verschiedenen Shows hinter Las Vegas auf Platz zwei der amerikanischen Unterhaltungsstädte.
Im Presley Theatre herrscht Gemütlichkeit auf Amerikanisch: viel Holz und Plüsch. Kaum ein Zuschauer ist unter 50, Leute vom Land in Jeans, T-Shirt und Baseballkappen. Die meisten tragen etwas in den Nationalfarben rot, blau und weiß. Hier ist Amerika ganz bei sich.
An einem Stand gibt‘s geröstete Mandeln, nach einem Rezept von Oma Presley. Am Tresen daneben ein Mann im Gespräch mit Zuschauern: rundes Gesicht, schütteres Haar, blaue Glitzerjacke mit Fransen. Scott ist Lloyds Enkel, der Gitarrist der Presleys.
"Unsere Show ist sehr vielfältig, gute christliche Unterhaltung für die gesamte Familie. Bei uns wird niemand vor den Kopf gestoßen. Sie können mit ihren Kindern kommen, mit ihren Eltern und Großeltern. Wir haben weder Glücksspiel, noch Nachtleben. Es gibt wenige Orte auf der Welt, wo du sicher sein kannst, dass deine Kinder keine Schimpfworte zu hören kriegen."
Stimme: "Ladies and gentlemen, you are about to experience an American entertainment tradition. Bransons first family of entertainment proudly presents: Presley‘s Country Jubilee."
Die Show beginnt mit Dolly Partons "Take me back to the country". Ein programmatischer Auftakt: Ich bin das Stadtleben leid, nichts als Dreck, Drogen, Kriminalität. Die Presleys feiern das Land als Ursprung von allem, was an Amerika gut ist: Rechtschaffenheit, Glaube, Familie. Ihre Show ist rasant. Sie jagen durch Country-Klassiker, gefolgt von Gospel- und Rock’n’Roll-Medleys.
Dazwischen Comedy. Auftritt Herkimer, ein Hillbilly in Latzhose mit dicker Brille, gespielt von Scotts Vater Gary. Herkimers Witze sind steinalt: Was haben Politiker und Windeln gemeinsam? Man muss sie gleich oft wechseln.
Zum Schluss "God bless the USA", die inoffizielle Hymne: Ich bin stolz Amerikaner zu sein, denn ich weiß, ich bin frei. Alle erheben sich, spätestens als das Lied in "America the beautiful" übergeht, haben sie Tränen der Rührung in den Augen.
Nach der Show sitzen sie vorne auf der Bühne: Lloyd und seine Söhne Gary und Frank, Scott mit seinen Brüdern und Cousins und Tochter Jenny. Ein Schwätzchen mit den Zuschauern. Die meisten haben ein Video der Show gekauft, aber niemand verlangt Autogramme – die auf der Bühne sind auch nicht anders als die davor. Eine halbe Stunde, dann verabschieden sich die Presleys.
Zurück auf Route 66. Über die Grenze nach Oklahoma, Anfang des 20. Jahrhunderts dank reicher Ölvorkommen ein Boom-Staat, in den 30er Jahren das Armenhaus Amerikas. Zig tausend Farmer sind damals nach Kalifornien geflohen – John Steinbeck hat ihnen in "Früchte des Zorns" ein Denkmal gesetzt.
Arm ist Oklahoma immer noch. Winzige Dörfer, die nicht mehr sind als eine Ansammlung von Fertighäusern oder Wohnwagenparks. In jedem Ort, so klein er auch sein mag, gibt es eine Pfandleihe.
Oklahoma City: ein paar Hochhäuser inmitten endloser, Schachbrett-artig angelegter Wohnsiedlungen. Ein Stadt gewordenes Dorf. Wie die meisten Städte im Mittleren Westen.
Auf einem Platz mitten in der Stadt zwei stilisierte Tore mit Uhren, die für immer stehen geblieben sind. Die eine um 9:01 Uhr, die andere um 9:02 Uhr. Dazwischen fließt Wasser – als Symbol der Heilung. Und drum herum stehen 168 Stühle. Das Monument erinnert an die Opfer des Bombenanschlags auf das Murrah Building, ein Regierungsgebäude, verübt von Timothy McVeigh am 19. April 1995. Noch heute ist für Nancy Carrigan jede Minute dieses traumatischen Tages präsent.
"Ich kann mich noch erinnern, dass kurz nach dem Anschlag die Fernsehsender kamen. Fast scheint es mir, als hätten wir es live erlebt, tagelang hast du ständig daran gedacht. Und wir haben alle geholfen: Wir haben Batterien besorgt oder Schühchen für die Suchhunde oder wir haben Blut gespendet. Für die meisten wird diese Erinnerung nie vergehen, viele hier aus Oklahoma City waren bis heute hier, weil ihre Wunden noch nicht verheilt sind."
Nancy Carirgan ist Kuratorin des Oklahoma City National Memorials, zu dem auch ein Museum gehört. In einem Schaukasten sind die persönlichen Gegenstände der Opfer ausgestellt, auf Monitoren laufen Fernsehberichte von damals, auf anderen erinnern sich Augenzeugen unter Tränen. Die Installationen sind bedrückend und verstörend. Aber der Kontext der Tat bleibt unklar. Kein Wort über McVeighs Vebindungen zu rechtsradikalen Gruppen, von denen es nach Recherchen des Southern Poverty Law Center in Oklahoma und den angrenzenden Staaten über 200 gibt.
"Dieses Museum ist den Überlebenden gewidmet, den Opfern und den Rettern. Wir bieten auch Informationen über die Suche nach den Tätern und über das Gerichtsverfahren - aber nur als Nebenaspekt. Primär wollen wir zeigen, welche Auswirkungen Gewalt hat. Und das kann man auch verstehen, ohne sich mit den Hintergründen von Terrorismus zu befassen. Außerdem wollte Timothy McVeigh mit seiner Gewalttat die Regierung herausfordern, aber er hat das Land gegen Hass und Terrorismus geeint. Er hat also keinen Erfolg gehabt – auch das wollen wir rüber bringen."
Hinter Oklahoma City beginnt die Wüste. Flaches Land, auf dem nichts wächst und kaum jemand lebt. Route 66 ist eine schnöde Servicestraße neben der Autobahn. Ab und an ein Ort, bestehend aus Motel und Diner, einem amerikanischen Restaurant, nebst Souvenirladen. Wie Adrian, exakt auf halber Strecke zwischen Chicago und Los Angeles. Eine Gruppe Harley-Fahrer aus Italien macht hier Station. Sie haben die "Mutter aller Straßen" als Selbstfahrerreise gebucht, mit Motorrad und vorbestellten Übernachtungen – Abenteuer light.
Weiter in den Panhandle, den sanft gewellten Norden von Texas. Üppige, von Rissen und Furchen durchzogene Weiden, so weit das Auge reicht. Keine Konturen, nichts, was dem Auge Halt bietet. Ein Hauch von Ewigkeit liegt über dieser Landschaft.
Der Texas Panhandle ist die Heimat der Aukers. Amy, klein und zierlich, mit randloser Brille und Blümchenkleid. Und Nick, zwei Meter groß, breitschultrig, mächtiger Schnäuzer, immer einen Stetson auf dem Kopf und die Hose in kniehohen Cowboy-Stiefeln. So läuft er über eine Weide am Rande der Route 66, auf der rund fünfzig Rinder grasen.
"Das ganze Land hier ist in Privatbesitz. Kaufen ist nicht, mit Viehzucht kriegst du die Kosten nie wieder rein. Ne Ranch oder Farm betreiben, das ist legales Glücksspiel: Du arbeitest mit gepumptem Geld, alles hängt davon ab, wie billig du Vieh kaufst, ob es genug regnet und du genug Gras hast. Und natürlich vom Markt: Einer sagt was Falsches im Fernsehen, schon bist du im Arsch."
Nick ist Cowboy, einer der wenigen, die es noch gibt. Er macht sich krumm für 1.500 Dollar im Monat plus freie Unterkunft. Früher hat er mal eine eigene Ranch gehabt, aber damit ist er pleite gegangen. Kein Einzelschicksal: Seit 1980 sind in den USA über eine Million Ranches unter den Hammer gekommen.
Der Amerikanische Traum, das eigene Häuschen mit einem bisschen Platz drum herum? Nicht drin, die Aukers haben zwei Kinder, das Geld reicht gerade, um über die Runden zu kommen.
"Ich lebe auf dem Land, unter diesem großen Himmel, der Horizont so weit, die Milchstraße jede Nacht sichtbar. In der Stadt hätte ich das alles nicht. Nur in diesem Teil der USA kann ich so mit dem Land verwurzelt leben. Ich fühle mich auch nicht einsam. Hier bekommst Du ein Gefühl für deine eigene... Winzigkeit. Du erfährst, wie unbedeutend du eigentlich bist."
Nick und Amy müssen Abendbrot für die Kinder bereiten. Wieder auf Route 66. Vorbei an Amarillo, einer trostlosen Wüstenstadt. Vorbei an der so genannten Cadillac Farm, auf der ein verrückter Millionär acht Straßenkreuzer mit der Schnauze voran in den Boden betoniert hat – eine Hommage ans automobile Zeitalter. Aber wie so oft auf Route 66 liegen das Originelle und Banale nah beieinander. Ein paar Kilometer weiter die Bug Ranch: die gleiche Idee, nur stecken dort VW Käfer im Boden.
New Mexico. Die Sonne brennt vom Himmel der Asphalt flimmert. Am Horizont schieben sich schroffe Berge vorbei, die im Mittagslicht wie Scherenschnitte wirken. Diese Landschaft erzählt von den Zufällen des Lebens. Von Orten, die entstanden und aufgeblüht sind, weil Route 66 durch sie führt und die zerfallen, seit sie der Autobahn gewichen ist: Tucumcari, Montoya, Santa Rosa.
Das Route-66-Diner in Albuquerque, der größten Stadt New Mexicos, ist hell blau gestrichen - eine Reminiszenz an die 50er Jahre. Hellblau sind auch die Uniformen der Kellner, gesprenkelt mit Ketchupflecken. Es gibt Hamburger und Sandwiches in allen Varianten – sonst nichts. Wie jeden Sonntag ist es brechend voll im Route-66-Diner. Und wie jeden Sonntag isst David Kessler hier zu Mittag.
"Route 66 ist mehr als eine Überlandstraße, sie steht für privates Unternehmertum. Schon Cyrus Avery, der Vater der Route 66, verfolgte kommerzielle Interessen: Er wollte eine durchgehende Verbindung schaffen von den Industrieregionen um Chicago über die damals boomenden Ölfelder Oklahomas bis nach Kalifornien. Route 66 bot auch Leuten eine Chance, die vielleicht nur ein paar hundert Dollar hatten. Sie konnten Tankstellen betreiben oder Getränke verkaufen. Ohne dieses Unternehmertum wäre Route 66 überhaupt nicht denkbar."
David Kesslers Haare sind grau und schütter und die letzte Rasur liegt über eine Woche zurück. Er ist Historiker und Route 66 sein Steckenpferd. In Albuquerque ist er für Denkmalpflege zuständig. So hat er Einfluss auf Baumaßnahmen entlang Route 66, die hier aussieht wie ein beliebiger, von Einkaufzentren und Tankstellen flankierter Highway in einer beliebigen amerikanischen Stadt.
"Route 66 hat sicher zur Uniformität Amerikas beigetragen. Das Ansom Motel, es stand dort drüben, war eines von vieren entlang der Strecke, die ihren Gäste einen Gratisanruf in einem der anderen erlaubten, um ein Zimmer für die folgende Nacht zu buchen. Aus diesen vier Motels entstand die Kette Best Western. Und mit den Holiday Inns und später natürlich McDonalds breitete sich das Franchise-Modell im ganzen Land aus. Das alles begann auf Route 66. Ironischerweise suchen die Touristen auf Route 66 heute das exakte Gegenteil davon, nämlich kleine Familienbetriebe, die sie an ein vermeintlich unschuldigere Zeit erinnern."
Viele kleine Familienbetriebe sind nicht übrig geblieben. Und was historisch wirkt, muss es noch lange nicht sein. Wie das Route 66 Diner: Es stammt aus den 80er Jahren, als die "Mutter aller Straßen" von der Reiseindustrie wieder entdeckt wird. "Kaum noch etwas ist echt entlang Route 66", sagt Kessler. Und so uniform wie viele Orte, ist auch das Angebot an Souvenirs: Überall gibt es die gleichen T-Shirts, Kaffetassen, Straßenschilder.
"Früher fand ich das schlimm. Diese Kommerzialisierung schien mir der historischen Bedeutung von Route 66 zu wider zu laufen. Heute weiß ich, dass die vielen Museen und Trödelläden ein Beispiel für das sind, was wir schon vor 70, 80 Jahren beobachtet haben, nämlich für die Nischen, in denen die Leute entlang der Straße ihr Auskommen suchen."
Weiter, immer weiter. Die Straße als Heimat und Bewegung als Ausdrucksmittel, wie Steinbeck es ausdrückte.
Arizona. Route 66 schlängelt sich durch kahle Berge. Dahinter die Monumente Amerikas: Grand Canyon, Hoover Staudamm, Las Vegas. Das Ewige, das große Bauwerk, unter immensen Opfern während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre errichtet, und das Spielerparadies mit seinen künstlichen Welten.
Immer wieder Geisterstädte in denen der Wilde Westen für Touristen inszeniert wird, komplett mit Schießereien, die mehrmals täglich zu festen Zeiten stattfinden. Schließlich Kalifornien. Die Mohave Wüste, knochentrocken und lebensfeindlich. Noch einmal geht es durch die Berge. Und dann hinab nach San Bernadino.
San Bernadino ist die Heimat von McDonalds. In den 50er Jahren betreiben die schottischen Einwanderer hier eine Pommesbude mit besonderes effizientem Service. Der Handelsvertreter Ray Kroc kauft sie ihnen ab und baut sie zum Imperium aus. Die Bude ist heute ein Museum, was sonst. Es gehört Albert Okura.
"Dieses Museum ist meine Berufung, denn ich habe Ray Krocs Leben studiert. 1954 gründete er McDonalds. Er hatte die Brüder gesehen, sie waren sehr erfolgreich mit ihrem Restaurant. Ray Kroc hatte die Vision, die USA mit diesem Konzept zu erobern. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nach dem Krieg, als die Babyboomer geboren wurden und der Hamburger regierte. Er sah die Chance, all diese Leute zu gewinnen."
Albert Okura wischt sich die Hände an seiner Schürze ab. Wie sein Vorbild hat er eine Fast-Food-Kette aufgebaut. Sie heißt Juan Pollo. Heute arbeitet Albert in der Filiale auf der fünften Straße mit. Gestern ist er im Laden in Riverside aufgetaucht. Und morgen? Albert lächelt viel sagend, mit diesen Überraschungsbesuchen hält er seine Mitarbeiter auf Trab.
Albert Okura ist ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren. Wie üblich hat er seinen Vater im Schlepptau. Der ist 1942 als japanischer Kriegsgefangener in die USA gekommen und nie wieder zurück gegangen. Dass sein Sohn es zum erfolgreichen Unternehmer gebracht hat, macht ihn stolz. Sagt Albert. Und bald wird Vater Okura noch stolzer sein, denn Albert hat Großes vor.
"Mein Traum war immer, das neue McDonalds zu gründen. Aber der Markt in Amerika ist gesättigt, es gibt zu viele Ketten. Deshalb setze ich auf Huhn. In den meisten Entwicklungsländern wird Geflügel gegessen, ich bin also zur richtigen Zeit am richtigen Ort, global betrachtet, so, wie Ray Kroc damals in Amerika. Das ist eine Parallele. Die Tür steht weit offen für mich, ich muss nur noch hindurch treten."
Seinen Feldzug hat Albert generalstabsmäßig geplant. Der Name Juan Pollo zielt auf den Markt in Mittel- und Südamerika , ein animiertes Huhn als Werbefigur soll Kinder anlocken, die Uniformen seiner Mitarbeiter sind grün – die Farbe kommt in den Flaggen vieler Länder vor, außerdem sieht man Fettspritzer darauf nicht so. 33 Filialen umfasst Alberts Imperium, alle in der Gegend um San Bernadino. Als nächstes will er entlang Route 66 expandieren: von West nach Ost – mal anders herum.
"Ich brauche Leute, die meine Vision teilen, mit ihnen will ich strukturiert wachsen. Am besten mit Leuten, die nicht aus dem Restaurantgewerbe kommen. Ich muss die Regeln brechen, um mein Schicksal zu erfüllen. Und mein Schicksal ist es, der größte Hähnchenverkäufer der Welt zu werden."
Die letzten Kilometer im Großraum Los Angeles. Auf einer chronisch verstopften sechsspurigen Straße. So hat die Reise in Chicago auch begonnen. Dazwischen liegen 4.000 Kilometer. Und Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Von der heilen Welt in Branson zum kalifornischen Hähnchen-Imperium, von den Dails auf ihrem Erinnerungs-Trip in die Welt der 50er Jahre zum harten Arbeitsalltag der Aukers im Cowboy-Staat Texas.
Ein mal noch abbiegen, dann hat die "Mutter aller Straßen" Santa Monica erreicht. Zwischen sündhaft teuren Hotels und edlen Boutiquen glitzert der Pazifik. Dort ist Amerika zu Ende.