Olympische Winterspiele 1968 in Grenoble

"Allemagne" gegen "Ostdeutschland"

Der schnellste Doppelsitzer der Olympischen Winterspiele in Grenoble wird am 18.02.1968 im Eispalast der Stadt mit der Goldmedaille geehrt: Das DDR-Rodel-Duo Thomas Köhler (4.v.l.) und Klaus Bonsack (3.v.l) sichert sich die Goldmedaille vor den Österreichern Manfred Schmid, Ewald Walch (l) und den bundesdeutschen Rennrodlern Wolfgang Winkler/Fritz Nachmann (r)
Das DDR-Rodel-Duo Klaus Bonsack und Thomas Köhler (Mitte) bekommt die Goldmedaille vor den Österreichern (l) und den bundesdeutschen Rodlern Wolfgang Winkler und Fritz Nachmann (r). © picture alliance / dpa
Von Wolf-Sören Treusch · 11.02.2018
Bei den Olympischen Winterspielen 1968 in Grenoble treten erstmals zwei deutsche Mannschaften an: "Allemagne" aus der BRD und "Ostdeutschland" aus der DDR. Die Rennrodlerinnen aus der DDR werden disqualifiziert. Die Spiele werden zum Kampfplatz zwischen Ost und West.
6. Februar 1968: In Grenoble hat es den ganzen Morgen geregnet, dann geschneit, am Nachmittag bricht endlich die Sonne durch.
"Eröffnungstag der zehnten Olympischen Winterspiele (...) Oft genannt der Ort, aus dem wir uns nun für Sie, liebe Hörer in der Heimat, melden: Grenoble. Hier ist also Grenoble in Frankreich. (...) Hier ist Grenoble."
"Hier ist das Stadion von Grenoble. (...) In diesem Augenblick, in dieser Sekunde richten sich die Blicke der Welt auf die kleine Universitätsstadt im Herzen der französischen Alpen."
Die Eröffnungsfeier kommentieren Reporter aus beiden Teilen Deutschlands. Die westdeutschen geben die Zahl der anwesenden Nationen mit 36 an, die ostdeutschen mit 37. Denn im Olympiastadion von Grenoble geschieht ihrer Ansicht nach Historisches.
"37 Länder sind gekommen, und zum ersten Male ist es auch ein ganz besonders schöner und glücklicher Tag für uns, (...) denn zum ersten Male sind die Sportler aus unserer Deutschen Demokratischen Republik als selbständige Mannschaft zugegen, (...) mussten die Herren des Internationalen Olympischen Komitees die deutsche Realität anerkennen."
"Und mit ein wenig Wehmut, meine Damen und Herren, (...) werden wir vielleicht in wenigen Augenblicken feststellen, (...) dass zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele zwei deutsche Mannschaften ins Stadion einmarschieren werden. (...) Die Mannschaft aus der Bundesrepublik Deutschland, die offiziell unter 'Allemagne' läuft, und die aus Mitteldeutschland, die unter der Bezeichnung 'Ostdeutschland' hier an den Start gehen wird."
Sieben Jahre nach dem Bau der Mauer treten deutsche Athleten erstmals getrennt bei Olympia an. Schon bei der Eröffnungszeremonie setzen sie ein erstes sichtbares Zeichen: die bundesdeutschen Sportlerinnen und Sportler tragen dunkelblaue Anoraks, die ostdeutschen lange Wintermäntel, die Männer in beige, die Frauen in rot.
"Und wenn sie auch farblich so unterschiedlich dicht hintereinander hier ins Stadion einmarschieren, es sind eben doch deutsche Buben und Mädels, die sich auf die Olympischen Spiele freuen und alles getan haben, um hier beste sportliche Leistungen zu vollbringen."

"Wir haben da mehr oder weniger geblödelt"

"Ich weiß noch, dass es eine große Ehre war, an der Ehrentribüne mit dem General de Gaulle vorbeizumarschieren."
"Ja, natürlich hat man einen gewissen Stolz, ist doch ganz klar."
Zwei Rennrodler tragen die zwei deutschen Fahnen: Thomas Köhler vom Sportclub Traktor Oberwiesenthal und Hans Plenk vom Rodelclub Berchtesgaden. Die Fahne selbst ist für beide Teams allerdings vorerst noch die gleiche: schwarz-rot-gold, darin die fünf Olympischen Ringe in weiß. Das wird sich erst vier Jahre später, 1972 in Sapporo ändern. Und obwohl die ostdeutschen Athleten angewiesen worden sind, keinen Kontakt zu ihren westdeutschen Konkurrenten aufzunehmen, reden die beiden Fahnenträger miteinander.
"Wir haben nebeneinander gestanden und haben da mehr oder weniger geblödelt, also nicht irgendwie dass wir uns da böse waren oder wie auch immer."
"Ja, ja, daran kann ich mich wirklich erinnern."
"Über Nationen, die bei Olympischen Spielen teilnehmen, die zum Beispiel wirklich keine Berechtigung gehabt hätten, beim Rodeln da mitzumischen. War zum Beispiel einer dabei, er war zwar Deutscher, ist aber für Argentinien gestartet, und der war aber schon 56 Jahre alt. Der Stinnes."
"Also die Zeit, die der in einem Lauf hatte, die hatten wir in zwei Läufen, da haben wir uns wirklich darüber lustig gemacht, über so was haben wir gern miteinander gesprochen."

Rivalen in der Eisrinne

Thomas Köhler und Hans Plenk kennen sich gut. Seit Beginn der 60er-Jahre sind sie Rivalen in der Eisrinne. Bei Olympia 1964 in Innsbruck traten sie noch in einer gemeinsamen deutschen Mannschaft an, nun also erstmals getrennt.
"Viel war ja an der Gemeinsamkeit auch nicht mehr dran. Es war schon '64 im Grunde genommen nur noch die gemeinsame Kleidung, die gemeinsame Fahne und Hymne usw., es waren zwei getrennte Mannschaften,"
erinnert sich Thomas Köhler an den Rodelwettkampf im Einsitzer 1964.
"In Innsbruck durfte noch geheizt werden. Aber das ist nur den Österreichern und den Bundesrepublik-Fahrern eingefallen. Die Österreicher haben die Kufen aufgebohrt, heißes Öl reingegossen, und die Fahrer der Bundesrepublik haben so Schutzkufen aufgesetzt, womit elektrisch geheizt wurde usw., und das haben sie erst im letzten Trainingslauf gemacht, und eigentlich: eine gemeinsame deutsche Mannschaft müsste doch eigentlich, (…) da müsste doch die Bundesrepublik, 'wir haben da ne Idee, wie wir da schneller werden, und da müssten wir doch' (…) nichts. Vor der DDR wurde es genauso verheimlicht, ja. So dass man an diesem Beispiel auch sieht, dass jeder seins gemacht hat und schon abgegrenzt jeder um seine Medaillen kämpfte."
Ergebnis: Auch die ostdeutschen Rennrodler besorgten sich schnell noch Lötlampen. Thomas Köhler holte Gold. Hans Plenk gewann Bronze.
Der ehemalige deutsche Rennrodler Thomas Köhler
Der ehemalige deutsche Rennrodler Thomas Köhler© Wolf-Sören Treusch
Die gesamtdeutschen Olympiamannschaften sind ein Kuriosum in der deutsch-deutschen Sportgeschichte. Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges gründeten sich in West- wie in Ostdeutschland zwei Nationale Olympische Komitees. Das Internationale Olympische Komitee bestand jedoch darauf, dass nur eine deutsche Mannschaft bei Olympia antreten durfte – über alle gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Grenzen hinweg. Jutta Braun, Sporthistorikerin vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
"In den Jahren 1956 bis 1964 hatte es ja gesamtdeutsche Olympiamannschaften gegeben. Das war allerdings eine ziemliche Quälerei gewesen, weil weder die DDR-Seite noch die bundesdeutsche Seite diese sportpolitische Ehe befürwortet hatte, man war zusammen gezwungen worden regelrecht vom IOC, beide Seiten wollten eigentlich da raus. Es gab immer wieder Konflikte zwischen beiden Seiten des gesamtdeutschen Teams um Republikfluchten, um Ausscheidungswettkämpfe, aber erst 1968 erfolgte dann die Trennung."

Sport galt als eine der letzten Brücken zwischen Ost und West

Seit dem Mauerbau 1961 waren menschliche Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschland fast unmöglich geworden. Der Sport galt als eine der letzten Brücken, wenigstens bei Wettkämpfen kamen die Athleten aus Ost und West noch zusammen. Doch auch das wurde immer komplizierter. Ostdeutsche Sportler traten mit der DDR-Flagge an: schwarz-rot-gold, darin das Wappen mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz. In der Bundesrepublik galt das Zeigen dieser so genannten "Spalterflagge" als Straftatbestand. Je erfolgreicher nun DDR-Sportler wurden, desto häufiger trat das anstößige Tuch in Erscheinung. Bei internationalen Wettkämpfen, erzählt Werner Kilian, viele Jahrzehnte Diplomat im Auswärtigen Amt, ergaben sich für seine Kollegen skurrile Situationen.
"Der Generalkonsul von Rotterdam, der hatte ein Springreiterturnier da und sollte die DDR-Fahne verhindern und hat das nicht geschafft, die hing da. Es war auch kein furchtbar energischer Mann, der hatte wahrscheinlich schon beim zweiten Bitten aufgegeben und berichtete nach Hause: Es sah aber niemand, dass es die Spalterflagge war, denn sie hing den ganzen Tag schlaff im Wind, es war kein Wind da. Das war dann seine Erlösung, und es war für viele die Erlösung, wenn man die Fahne überhaupt nicht bemerkte, es wusste hinterher keiner: Hat sie da gehangen oder nicht?"
In der Bundesrepublik galt die Hallstein-Doktrin. Sie besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik durch Drittstaaten als "unfreundlicher Akt" gegenüber der Bundesrepublik betrachtet werden müsse. Schon das Hissen der DDR-Fahne konnte die bundesdeutsche Diplomatie verstimmen. Die Hallstein-Doktrin erwies sich jedoch bald schon als wirkungslos.
"Die war ja im Grunde genommen schon gestorben 1965, als Ulbricht an den Nil fuhr, einen Staatsbesuch machte. Das war ja im Grunde genommen das Schlimmste, was passieren konnte: ein Staatsbesuch eines DDR-Staatsoberhaupts mit allem Pomp und allen Zeremonien, im Grunde genommen war damit die Hallstein-Doktrin beerdigt. Weil wir nicht die Beziehungen zu Ägypten abgebrochen haben. Das wäre eigentlich normal gewesen. An dem Tag, wo sein Schiff einlief in Alexandria und er umjubelt wurde von Nasser und seinen Leuten, hätte die Bonner Regierung eigentlich abbrechen müssen."

Ab 1968 gab es zwei deutsche Mannschaften

Wenige Monate später, am 08. Oktober 1965, trug das Internationale Olympische Komitee den politischen Realitäten Rechnung. Auf seiner Session in Madrid beschloss das IOC mit großer Mehrheit, zukünftig zwei deutsche Mannschaften bei Olympia starten zu lassen. Die ARD berichtete.
"Das NOK der Zone ist vollgültiges Mitglied des IOC geworden, aber es wurde getadelt, weil es nicht weiter für eine gemeinsame deutsche Mannschaft gestritten hat. Daher trägt das NOK der Bundesrepublik den Namen NOK Deutschland, die Zone dagegen NOK Ostdeutschland."
Eine Entscheidung von sportpolitischer Tragweite. Der Bundestag in Bonn nahm sie zähneknirschend an, die DDR-Staatsführung jubelte. Für sie war der Beschluss des IOC ein wichtiger Erfolg im Kampf um die weltweite völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Staates.
"Für die DDR war das Jahr 1968 eine ganz wichtige Wegmarke, weil man nun eben für das eigene Land, vor allem aber auch für das eigene Gesellschaftssystem Erfolge erringen konnte. Und das war ja ein ganz wichtiges sportpolitisches Ziel der DDR von Beginn an gewesen, die Vorzüge des Sozialismus auf den Fußballplätzen und in den olympischen Arenen zu demonstrieren."

Olympia 1968: Fünf Medaillen für die DDR

"Ich habe jetzt inzwischen die offiziellen 5-km-Zeiten bekommen (…)"
Bei den Olympischen Winterspielen in Grenoble erringt die DDR fünf Medaillen. Eine völlig überraschend in der Nordischen Kombination.
"(…) sodass für Andreas Kunz, wenn er auch im zweiten Drittel das durchhalten kann, durchaus noch ein kleiner Medaillenplatz, vielleicht der bronzene, in Sichtweite wäre."
Mit der drittbesten Zeit im 15-Kilometer-Langlauf belegt Andreas Kunz nach Platz 10 im Sprunglauf auch in der Gesamtwertung den dritten Platz.
Reporter: "Und Andreas Kunz hat die Bronzemedaille errungen. Unser junger Klingenthaler Bub, 21 Jahre jung, herzlichen Glückwunsch Andreas zu diesem schönen Erfolg."
Kunz: "Danke schön, freue mich sehr, dass es doch noch geklappt hat."
Heute, 50 Jahre später, wirkt Andreas Kunz immer noch ein wenig verblüfft über seinen Coup.
"Ich komme ins Ziel rein, bin zusammengebrochen, da stand ein Haufen voller Leute: Kameraleute, Fotografen und alles Mögliche: 'Wie kann einer aus dem Osten so was zustande bringe'’?"

Ralph Pöhlands Flucht in den Westen

Eigentlich gilt damals Ralph Pöhland in der Nordischen Kombination als die große Medaillenhoffnung der DDR. Kurz vor Beginn der Spiele flieht er jedoch in den Westen. Auf Druck der Funktionäre aus dem Ostblock verweigert ihm das IOC daraufhin die Starterlaubnis.
"Republikfluchten waren das große Trauma der SED-Führung, dieses Phänomen machte auch vor dem Leistungssport nicht Halt, und es war natürlich ein politischer Imageschaden, wenn ein sozialistisches Vorzeigeidol sich dafür entschied, im Kapitalismus die eigene Laufbahn fortzusetzen."
Sein damaliger Fluchthelfer: Olympiasieger Georg Thoma aus Hinterzarten, der mittlerweile seine Karriere beendet hat. Eines Tages erhält er den Anruf von einem Funktionär des Schwarzwälder Skiverbandes. Der heute 80-jährige Georg Thoma erinnerst sich an jenen 19. Januar 1968:
"'Ich soll den Ralph Pöhland in Les Brassus in der Französischen Schweiz abholen. Meine Frau hat gesagt, 'das machst gar net, das gibt nur Probleme'. Und ich: 'Menschenskinder, ist doch nix dabei, ich kann ihn ja holen'. Also bin ich nach Les Brassus gefahren, und: wo gehe ich am besten hin, dass dich niemand sieht oder erkennt? Auf die Sprungschanze ganz oben hin."
Der ehemalige deutsche Skispringer und Olympiasieger Georg Thoma
Der ehemalige deutsche Skispringer und Olympiasieger Georg Thoma © Wolf-Sören Treusch
Ralph Pöhland, der sich mit seinen Mannschaftskollegen aus der DDR in Les Brassus auf Olympia vorbereitet, erwartet ihn schon.
"Georg Thoma sagt zu mir an der Sprungschanze: 'Ralph, ich bin da, wir können heute Abend in die Bundesrepublik, ich organisier alles'. Dann habe ich meine Koffer gepackt und habe sie abends um sieben, nach dem Abendbrot, einen nach dem anderen hinterm Hotel in den Schnee geschmissen, bin ich hinaus und habe sie 100, 150 Meter hinterm Hotel vergraben."
Kurz darauf legt er sich schlafen. Nicht lange, erinnert sich Zimmernachbar Andreas Kunz.
"Wir lagen im Bett, auf einmal höre ich ein Rascheln, mache ich Licht an, stand der Pöhland dort. Sage ich 'was machste denn hier?' 'Ich kann hier nicht schlafen, ich gehe rüber zu den Spezialisten'. Also die Spezialspringer. 'Von mir aus', umgedreht, weiter geschlafen."
Ralph Pöhland liegt nun im Nachbarzimmer. Er wälzt sich hin und her, sein Herz klopft. Dann ist endlich der vereinbarte Zeitpunkt gekommen.
"Kurz vor 12 bin ich hinaus, und da habe ich schon gehört, die Trainer kommen auch, weil das Restaurant geschlossen wird. Habe ich das Fenster auf und bin sofort hinaus gesprungen, plötzlich habe ich Scheinwerfer im Gesicht."
Rasch wuchtet Ralph Pöhland seine Koffer, die er vorher im Schnee vergraben hat, ins Fluchtauto von Georg Thoma – einen Porsche 911. Die Scheinwerfer blenden ihn immer noch.
"Und dann sage ich zu ihm: 'Sind die aus der DDR hinter uns?' Hat er gesagt: 'Nein, das war ein Fernsehteam hinter uns, vom ZDF aus Mainz'."
"Und dann sind wir zugefahren, und mir ist dann nur noch aufgefallen, dass in Basel an der Grenze der Schlagbaum auf war. Das war an und für sich nicht üblich. Und dann sind wir nach Hinterzarten. Und dann waren wir daheim."

Die Eltern des Sportlers verloren ihre Jobs

Die Flucht belastet die deutsch-deutschen Sportbeziehungen sehr. Die DDR-Staatsführung tobt: Sie spricht von Verrat und Menschenraub, macht den Westen für die Republikflucht eines ihrer Sportler verantwortlich. Ihren Olympiateilnehmern in Grenoble erlegt die DDR-Mannschaftsleitung eine Art Kontaktsperre auf – Gespräche mit Funktionären, Journalisten oder Sportlern aus Westdeutschland sollten vermieden werden.
"Typisch für diese Flucht ist aber auch der Nachgang der Geschichte",
Ergänzt die Sporthistorikerin Jutta Braun vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
"Denn, wie bei allen Republikfluchten, mussten die Angehörigen des Leistungssportlers für diese Flucht büßen: beide Eltern von Ralph Pöhland, die in staatlichen Betrieben angestellt waren, verloren wenige Wochen danach ihren Arbeitsplatz, das gesamte familiäre Umfeld wurde mit der Staatssicherheit durchsetzt, auch Pöhland selbst wurde weiterhin im Westen von der Stasi unter Beobachtung gehalten, der letzte Eintrag in seiner Stasiakte ist aus den 80er-Jahren, wo er unter dem operativen Vorgang "Sportverräter" abgelegt war."
2011 stirbt Ralph Pöhland. Georg Thoma und er bleiben zwar bis zu seinem Tod befreundet, aber der Olympiasieger aus Hinterzarten hat es später oft bereut, dem Athleten aus dem anderen Teil Deutschlands zur Flucht verholfen zu haben.
"Ich würde es heute nimmer machen. Ich hatte ja bis dahin unglaublich viel Fanpost von der DDR. Also ganz normale Menschen. Die haben mir gratuliert, die wollten ein Autogramm und alle diese Sachen, so wie bei uns auch. Und dann kam die Pöhland-Geschichte, und dann kam auch andere Post, auch negative, ja gut, ich würde es heute nicht mehr machen. Nein."
Und Andreas Kunz, der Shooting-Star in der Nordischen Kombination von Grenoble? 1968 gefeiert, lässt ihn die SED-Führung zwei Jahre später fallen. Der Grund: Andreas Kunz hatte dem "Vaterlandsverräter" Pöhland bei einem Wettkampf im Ausland eine todschicke Wildlederjacke abgekauft – die Stasi hatte davon Wind bekommen.
"Da musste ich zur Parteileitung von Klingenthal, und das Fazit war: Aufhören oder MfS beitreten. Habe ich mich mit meinen Eltern unterhalten, Vater unterhalten: 'Mach den Scheißdreck nicht'. Da habe ich drauf gehört, und das war’s dann."

1968: Zwei DDR-Sportlerinnen werden disqualifiziert

"So, nun schlägt die Stunde für Ortrun Enderlein. Die Uhr läuft bereits. Ich vergegenwärtige mir, wie sie sich oben vom Startblock gelöst hat, im Pinguinstil die Hände links und rechts in den Schnee krallen, um Fahrt zu bekommen, (...)"
13. Februar 1968: in Villard-de-Lans, dem Austragungsort der Rennrodelwettkämpfe bei den Olympischen Spielen von Grenoble, findet der dritte Durchgang im Einsitzer der Frauen statt.
"Da ist sie schon, Ortrun Enderlein kommt nun auf dieser langen Geraden heran, der Schlitten liegt haargenau in der Mitte, nirgendwo kollidiert sie, jetzt die Zeit: 49 Sekunden, 96 Hundertstel."
Die beiden Favoritinnen aus der DDR liegen klar vorne. Plötzlich werden sie disqualifiziert. Begründung: Sie hätten die Kufen ihrer Schlitten künstlich beheizt. Seit Olympia 1964 in Innsbruck ist das verboten. Bereits vor dem dritten Lauf will der oberste Kampfrichter, der Pole Swiderski, Vize-Chef des Internationalen Schlittensportverbandes, das mit Hilfe eines Schneetests festgestellt haben. Hämische Kommentare vom "Kombinat heiße Kufe" machen die Runde. Grenoble erlebt einen der größten Skandale in der Geschichte der Olympischen Spiele.
"Die tatsächlichen Vorgänge um diesen Kufenskandal werden sich wohl nicht mehr lückenlos aufklären lassen. Die DDR-Seite hat das sofort von sich gewiesen, wohingegen die bundesdeutsche Boulevardpresse aber hier in Kalter-Kriegs-Manier getitelt hat: 'Werft alle Zonenrodler zur Strafe aus dem Wettbewerb'. Das zeigt im Grunde, wie derartige sportpolitischen Konflikte sofort die breite Öffentlichkeit erreichten, sofort die Atmosphäre des Kalten Krieges Besitz ergriff von diesen Ereignissen."
Die DDR-Mannschaftsleitung veranstaltet umgehend eine internationale Pressekonferenz – auf der dann doch fast nur westdeutsche Journalisten zugegen sind. Ihnen erläutert Rennrodler Thomas Köhler, wie er den sogenannten Schneetest erlebt hat.
"Herr Swiderski nahm ein kleines Stück Schnee, in Größe eines Fingernagels vielleicht, legte das auf die Seitenfläche der Eiskante des Schlittens, des schräg gestellten Schlittens, im Ergebnis merkte er nach wenigen Sekunden das völlige Zerschmelzen des Schnees und Herabrinnen des Wassers. Alle Sportler, die darum standen, fanden es etwas lächerlich, weil es für sie selbstverständlich war, dass eine Kufe bei einer wärmeren Außentemperatur als der Schnee, dass der Schnee auf dieser Kufe schmelzen muss."
Kalte-Kriegs-Rhetorik bestimmt nun das Geschehen. Die westdeutsche Mannschaftsleitung fordert, alle ostdeutschen Rennrodler vom Wettkampf auszuschließen. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN vermeldet einen "sorgsam vorbereiteten westdeutschen Anschlag" auf ihre Athleten. Der Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, Manfred Ewald, unterstellt der BRD, sie versuche, Zitat: "die Schlittensportverbände anderer Länder gegen die Sportler der DDR aufzuhetzen".
"Fürchten sie etwa, dass die DDR-Sportler im regulären Wettkampf mehr Medaillen als die Sportler Westdeutschlands erkämpfen könnten?"
Tatsächlich profitieren zwei bundesdeutsche Rennrodlerinnen von der Disqualifikation der DDR-Sportlerinnen und gewinnen Silber und Bronze. Hochrangige bundesdeutsche Sportfunktionäre wie NOK-Präsident Willi Daume halten sich mit ihren Kommentaren eher zurück.
"Wir wollten in Grenoble den olympischen Frieden nicht weiter stören, man ist sowieso den Ärger mit den deutschen Problemen leid. Im Übrigen können wir nur hoffen, dass schnell Gras über diese schlimme Geschichte wachsen wird."

DDR war bei der Olympia besser als die BRD

Richtig beruhigt haben sich die Gemüter jedoch bis heute nicht. Auch 50 Jahre danach ist Thomas Köhler immer noch erzürnt über die Manipulationsvorwürfe.
"Nun sind die beiden Mädchen, die auf Gold und Silber lagen, auch noch kirchlich sehr eng gebunden gewesen. Denen irgendwie Betrug zu unterstellen, das war eigentlich für uns ausgeschlossen."
Er wünscht sich, dass der Internationale Rennrodelverband die Athletinnen endlich offiziell rehabilitiert. Und auch Hans Plenk, sein damaliger Konkurrent aus dem Westen, empfindet den so genannten Schneetest an den Kufen bis heute als Farce.
"Weil: Ob sie zu warm waren oder nicht zu warm waren, okay, das weiß ich nicht, aber es gab ja keine Grundlage, das zu messen. In der Zeit gab es also noch kein Reglement über das, wie warm oder wie heiß darf die Kufe sein. Heute gibt es das Reglement seit der Zeit: Es darf also fünf Grad über der Lufttemperatur, darf die Schiene sein. Es war ein Skandal, das war eine Unverschämtheit."
Der ehemalige deutsche Rennrodler Hans Plenk
Der ehemalige deutsche Rennrodler Hans Plenk© Wolf-Sören Treusch
Thomas Köhler bleibt die Genugtuung, dass er fünf Tage nach den skandalösen Vorfällen in Grenoble mit seinem Partner Klaus-Michael Bonsack die Goldmedaille im Doppelsitzer erringt.
"Wir haben gesagt: 'Denen müssen wir es zeigen, und wir werden nicht nur Olympiasieger, wir fahren zwei Mal Bestzeit'. Das haben wir uns auch noch vorgenommen in jedem Lauf, damit das klar ist, wer hier der Beste ist, ja."
Kampfplatz Olympia – die Spiele von Grenoble vor 50 Jahren stehen wie kaum ein anderes Sportereignis für die Umwälzungen im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.
"Man muss alles immer im Vorfeld von '72 in München sehen. Die DDR hat dort eine selbständige Mannschaft an den Start gebracht."
Mit eigener Fahne und eigener Hymne. Der Kampf um Gold wird zur deutsch-deutschen Prestigefrage. Bei den Sommerspielen 1968 in Mexico-City liegt die DDR, offiziell noch 'Ostdeutschland', im Medaillenspiegel erstmals vor der Bundesrepublik, offiziell noch 'Deutschland'. Die Reihenfolge wird zum Dauerzustand, systematisches Doping hilft dabei. Das "Sportwunder DDR", so Jutta Braun vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, ebnet den Weg des Staates in die Weltgemeinschaft.
"Das Bemerkenswerte ist, dass die DDR in den gesamten Jahren ihrer Existenz diesen Vorsprung nie wieder aufgegeben hat. Bei allen Olympischen Wettkämpfen, die es gegeben hat, bei denen beide deutsche Mannschaften antraten, schaffte es die DDR, immer besser zu sein als die Bundesrepublik. Natürlich waren Olympische Spiele, man kann das wirklich sagen, von Beginn an bis zum Ende des Kalten Krieges Schauplätze des Ost-West-Konfliktes. Ich würde nicht sagen, dass der Sport den Kalten Krieg verschärft hat, aber die Hochphasen des Kalten Krieges haben sich auch immer im Sport gespiegelt."
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