Oligarch

Die Maske heruntergerissen

Michail Chodorkowski spricht am 22.12.2013 bei einer Pressekonferenz im "Mauermuseum am Checkpoint Charlie" in Berlin.
Michail Chodorkowski bei seiner Pressekonferenz in Berlin © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Jochen Stöckmann · 12.06.2014
Michail Chodorkowski hat ein halbes Jahr nach seiner überraschenden Freilassung die Schweiz verlassen – für einen kurzen Besuch in Berlin. Hier stellte er sein in der Haft entstandenes Buch vor.
"Das russische Sprichwort sagt, "von der Armut und vom Gefängnis kannst Du dich ohnehin nicht lossagen". Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Russen sich nie sehr gerne an diejenigen erinnert haben, die im Gefängnis sitzen. Das war im Bewusstsein der Menschen so eine Art verbotene Zone. Und wenn wir darüber sprechen, welchen Nutzen das Gefängnis für mich persönlich hatte, dann liegt dieser Nutzen vielleicht darin, dass die russische Gesellschaft jetzt genauer hinschaut, was in den Gefängnissen passiert und dass in den Gefängnissen vielleicht nicht sehr viel, aber doch einige positive Veränderungen geschehen sind."
Seine eigenen Gefängniserlebnisse stellt Michail Chodorkowski bei der Vorstellung seines Buches "Meine Mitgefangenen" ganz hintan, obwohl der Moderator Wolfgang Eichwede oft genug danach fragt. Dem Mann, der viele Jahre zu Unrecht in russischer Haft war, geht es um mehr als sein prominentes Einzelschicksal. Mit Porträts der Häftlinge, die er in den Straflager kennen lernte, mit durchaus literarisch geglückten, lakonischen Miniaturen lenkt er die Aufmerksamkeit auf politische und gesellschaftliche Probleme, die sich in den Einzelschicksalen spiegeln:
"Russische Gesellschaft hat Schere im Kopf"
"Die russische Gesellschaft, eigentlich jede Gesellschaft hat eine Art Schere im Kopf: Unseren Kindern bringen wir bestimmte Regeln bei, leben aber selbst nach anderen Regeln. Ich habe den Eindruck, dass je totalitärer ein Land ist, desto stärker ist diese Schere im Kopf zu spüren. Im Gefängnis ist es so, dass mit dieser Janusköpfigkeit die Maske heruntergerissen wird."
Da ist zum Beispiel Kolja, der gegen Haftvergünstigung ein zusätzliches Delikt auf sich nehmen soll. Er willigt zunächst ein, als er aber erfährt, dass ihm der Handtaschenraub an einer alten Frau untergeschoben werden soll, verweigert er diese übliche Form der "Kooperation". Großmütter bestehlen, das geht gegen seine Ehre. Einen Ehrbegriff, den der seit seiner Kindheit beiseitegeschobene in einer kriminellen Subkultur gelernt hat, die Chodorkowski als "Kollektiv der Verstoßenen" beschreibt. Da wird ein gewaltiger Unterschied deutlich zum "Lagersystem", wie es noch in den Achtzigern, zu Zeiten der gegen das Sowjetsystem opponierenden Dissidenten herrschte:
"Damals gab es noch politische Strafkolonien, in denen Gefangene waren, die die gleichen politischen Auffassungen teilten. Vielleicht hatten sie auch unterschiedliche politische Positionen, aber sie hatten zumindest ein gemeinsames Interesse an der Politik."
Chodorkowski wurden politisch die Augen geöffnet, als er, ein zum mächtigen Wirtschaftsführer aufgestiegener Student, quasi über Nacht vor Gericht gezerrt wurde – und anfangs noch hoffte, hier die Wahrheit enthüllen zu können über die Art und Weise, wie Präsident Putins Freunde, die Oligarchen, nicht nur Lücken des Gesetzes genutzt, sondern jede Form des Rechts außer Kraft gesetzt hatten:
Über den eigenen Fall hinaus
"Für mich war es ehrlich gesagt ein richtiger Schock zu sehen, dass das Gericht der Ort ist, an dem eigentlich das menschliche Schicksal niemanden so recht interessiert und auch die Wahrheit niemanden so recht interessiert und letztlich auch das Gesetz niemanden interessiert. Später hat man mir erzählt, dass eine der Richterinnen, bevor sie das Urteil unterschrieben hat weinen musste - Gericht nicht, aber sie hat es dennoch unterschrieben."
Auch in dieser Frage geht Michail Chodorkowski über seinen eigenen Fall hinaus, analysiert anhand seiner kurzen Geschichten über Mitgefangene die tieferen Ursachen seiner Erlebnisse. Da war zum Beispiel Alexej, er wohnte mit seiner noch nicht volljährigen Freundin bei deren Eltern – und geriet in die Mühlen der von Putin ausgerufenen Kampagne gegen Pädophilie. Ein Abschnittsbevollmächtigter der Miliz brachte die Sache vor Gericht. Die Eltern des Mädchens schrieben Eingaben, die Richterin hatte – wie im Fall Chodorkowski – "Verständnis", musste dann aber die Kampagne bedienen, um nicht ihren Posten zu verlieren. Und wie hier im Kleinen, so zeigen sich die bis in die hintersten Winkel reichenden Mechanismen des Putinschen Machtsystems auch im großen, sogar im Weltmaßstab:
"Die Korruption war eine Art Kontrollmechanismus, ein Mechanismus zur Kontrolle der Eliten. Putin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen, dass Korruption zur tragenden Konstruktion des Systems werden sollte. Übrigens ist Putin davon überzeugt – und er beweist es ja sehr effektiv – dass die Korruption auch in der Außenpolitik ein sehr effizientes Instrument ist."