Ohne Selektion in die Gaskammer

Von Jörg Taszman · 21.05.2006
Beim 12. Jewish Film Festival in Berlin erlebte der Dokumentarfilm "Belzec" von Guillaume Moscovitz seine Deutschlandpremiere. Im gleichnamigen ersten Vernichtungslager der Nazis wurden zwischen März und Dezember 1942 über 600.000 meist polnische Juden ermordet. Danach ebnete die SS das Vernichtungslager ein, das weit weniger bekannt ist als Auschwitz, Treblinka oder Sobibor.
Die Spuren sind verwischt. Es ist dieses friedliche, saftige Grün, das so im Kontrast zu dem riesigen Massengrab von Belzec steht. Unweit des Ortes, an dem über eine halbe Million Menschen vergast und verbrannt wurden, befindet sich das 2000 Einwohner Dorf Belzec. Hier hat Guillaume Moscovitz mit einigen älteren Polen geredet hat, die 1942 meist Kinder oder Jugendliche waren. Die Antworten kommen zögerlich. Aber jeder im Dorf wusste, dass nur wenige hundert Meter entfernt die Juden in Transporten ankamen. Tausende waren es jeden Tag, die das kleine Lager gar nicht fassen konnte. Vom Gestank der verbrannten Leichen reden die Zeitzeugen noch heute. Wer nach Belzec fuhr, den erwartete der sichere Tod.

Für den Historiker Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Berliner TU, waren Belzec, Treblinka und Sobibor die ersten reinen Vernichtungslager.

"Die Aktion Reinhardt, mit der das Generalgouvernement, das besetzte Polen, leer gemordet wurde von Juden, ist der Beginn der industriellen Tötung von Menschen. Diese drei Vernichtungslager haben einen ganz anderen Stellenwert als die Konzentrationslager. In diese Lager kommt man nur, um sofort innerhalb von wenigen Stunden getötet zu werden. …Das ist ein neuer Punkt in der Geschichte der Menschheit. Die organisierte, industrielle Tötung von Menschen, gleichzeitig verbunden damit mit der vollkommenen Ausraubung bis zur Verwertung dessen, was von den Ermordeten übrig bleibt."

Guillaume Moscovitz ist Jahrgang 1969 und redet immer wieder davon, dass dieser Film fast zu spät kommt. Gedreht hat er ganz bewusst vom Stativ und er gibt zu, formal sehr von Claude Lanzman’s "Shoah" beeinflusst zu sein. Der Film verzichtet auf einen Kommentar, manipulative Musik oder so genannte Experten, die kühl die historischen Fakten aufzählen. In einem aber unterscheidet sich Moscovitz von Lanzman.

"Der Unterschied, der mir sehr bewusst war, besteht darin, dass Lanzman und ich nicht der gleichen Generation angehören. Ich habe diese Zeit nicht erlebt. Das ist der Grund, warum Lanzman in seinem Film vor der Kamera agiert. Er ist auch noch Zeitzeuge. Mein Platz war wirklich hinter der Kamera und meine Arbeit bestand auch darin, Distanz zu halten. Es ist ein Film über Grenzen, auch die Grenzen zwischen den Generationen."

Wer heute einen Film über die "Shoah" macht, muss immer wieder gegen das Vorurteil kämpfen, es gäbe doch bereits genug "Holocaust"-Filme. Moscovitz aber ließ sich nicht beirren. Belzec hat wie jedes Vernichtungslager oder KZ auch seine ganz eigene Geschichte. Wenn die Transporte nach Belzec kamen, gab es keine Selektion. Der Weg führte direkt in die Gaskammer. Von der Ankunft bis zum Tod vergingen nur etwa vier Stunden. Gerade weil es insgesamt nur vier Überlebende dieser Todesfabrik gibt, war es Moscovitz so wichtig, das Andenken der Toten zu ehren. Es ging ihm darum, die Balance zu halten zwischen Einzelschicksalen und dem nicht fassbaren Schrecken, der in Zahlen fast abstrakt wirkt.

"Es war gar keine Frage. Ich musste mich mit dieser Maßlosigkeit des Schreckens auseinandersetzen. Es ging darum sie zu bezeugen, Mittel zu finden, darüber zu erzählen. Der Zuschauer sollte diese enorme Dimension des Verbrechens erfassen können. Und dann gibt es natürlich die Einzelschicksale. Beide Formen des Schicksals stehen sich wie in einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren gegenüber. Wer die Kamera auf ein Einzelschicksal lenkt, kann im nächsten Bild nicht das Schicksal der Masse ausblenden. Durch diese Kontraste und Oppositionen und das Unfassbare des Schreckens entsteht Geschichte."

In der Diskussion nach dem Film ging es auch um den Umgang mit den Toten, über das vor zwei Jahren in Belzec neu entstandene Mahnmal. Anders als bei einem Dokumentarfilm meint der Historiker Wolfgang Benz, sei eine Inszenierung der Shoah in einer Gedenkstätte durchaus legitim und nicht zu umgehen. Für Daniel Widmann vom Leo Baeck Institut in London wirft der Film noch eine andere Frage auf. So verwischten die Nazis nicht immer ihre Spuren wie in Belzec.

"Auschwitz beginnt nicht in Auschwitz und NS-Judenpolitik beginnt nicht in Auschwitz. NS-Judenpolitik beginnt 1933 nach der so genannten Machtergreifung. NS-Judenpolitik war immer sichtbar. Alle waren Zeugen. Es wurde auch vieles offen diskutiert. Es gab Berichte Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre über das Ghetto Lodz im Lodzer Tageblatt. Insofern würde ich dem widersprechen, dass es so was gab wie ein langfristiges Denken der Elite der Nationalsozialisten: Wir müssen alles verbergen. - Es gab ja sogar einen Plan, ein Museum an die zum Verschwinden zu bringenden Juden zu errichten, als Zeuge von dem was die Nazis … haben zum Verschwinden bringen lassen."

In der Bundesrepublik der Adenauerzeit wurde den Tätern von Belzec nur einmal der Prozess gemacht. Von vier Angeklagten wurden drei freigesprochen, weil sie nur Befehle befolgt hätten. Nur ein einziger Verantwortlicher wurde verurteilt und nach zwei Jahren Gefängnis wegen "guter Führung" entlassen.