Ohne Religion läuft nichts

Rezensiert von Michael Niehaus |
Der Berliner Historiker Paul Nolte vertritt in seinem neuesten Buch die These, dass eine aufgeklärte Bürgergesellschaft die Religion braucht. Nur so entstehe eine Gesellschaft, in der ein freiwillig und engagiert öffentliches Leben gestaltet werden könne.
"Wir erkennen, seitdem - ein Stichwort dazu - in den frühen 70er-Jahren der Club of Rome die Grenzen des Wachstums beschrieben hat, auch die Grenzen des menschlichen Handelns. Wir erkennen, dass der Mensch nicht alles steuern kann, dass man an Grenzen, in Konflikte, in tiefe ethische Konflikte der Machbarkeit gerät; denken wir an die großen naturwissenschaftlichen und ethischen Debatten über medizinische Machbarkeit, Herstellbarkeit oder auch Beendbarkeit des Lebens. All das sind Dinge, die Fragen aufgeworfen haben, die wir in diesem Horizont der menschlichen Machbarkeit nicht so leicht beantworten können. Ich glaube, daraus ist so etwas wie ein neuer Religionsbedarf auch der westlichen Gesellschaften erwachsen."

Auch die aufgeklärte Bürgergesellschaft braucht Religion, meint der in Berlin lehrende Historiker Paul Nolte. Die Bürgergesellschaft ist ein Bereich zwischen Staat, Markt und dem Einzelnen, in dem freiwillig und engagiert öffentliches Leben gestaltet wird, Solidarität geübt wird.

"Wir haben gelernt, dass wir stärker als Bürger und Bürgerinnen gefragt sind, dass unsere Netzwerke, das, was wir selber tun als Bürgerinnen und Bürger, auch wichtig ist, dass wir vom Staat nicht alles erwarten können. Und da kann man, glaube ich, feststellen, dass religiöse Netzwerke, das Netzwerk der Kirchen zum Beispiel, das religiös-kirchliche Netzwerk in einem ganz weiten Sinne eine ganz wichtige Ressource des bürgerschaftlichen Miteinanders geblieben ist."

Religion ist eine wertvolle Ressource für die Bürgergesellschaft, so der Grundgedanke von Paul Nolte. In welchem Maße ist sie das nun? Zum einen benötige, so Nolte, die Bürgergesellschaft Akteure, die sich durch persönliche Stärke und die Fähigkeit zu moralischer Empathie auszeichneten. Eine solche sozial verantwortliche Lebensführung lässt sich zwar leicht auch aus anderen Wertvorstellungen speisen. Doch der frisch gewählte ehrenamtliche Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin zitiert den Religionsmonitor: Es hat sich gezeigt, dass gerade sogenannte "Hochreligiöse" besonders stark ehrenamtlich engagiert sind.

"Da kommt so eine Art von moralischer Impuls mit hinein, ein moralischer Mehrwert, etwas Gutes tun zu wollen, etwas, um es im religiösen Jargon zu sagen, etwas für den Nächsten tun zu wollen, obwohl man selbst nichts dafür hat, und dafür etwas zu spenden oder Zeit zu investieren. Ein solcher moralischer Impuls muss erst einmal erzeugt werden. Es gibt, glaube ich, gar nicht so viele Chancen, den auch nachhaltig zu generieren. Der religiöse Impuls, das Gefühl, dafür von außen, von einer nicht menschlichen Instanz, von einer transzendentalen, göttlichen Instanz dazu beauftragt zu sein, der ist von ganz großer Wichtigkeit für das Wirken von Moral in die Gesellschaft hinein."

Die Dimensionen religiöser Ressourcen, wie Nolte das nennt, sind nicht nur individuell und moralisch zu betrachten; sie betreffen auch den Markt und das politische System. Die Bedeutung der Religion für moderne Gesellschaften liegt auch darin, dass sie für die Bürgergesellschaft den Ansprüchen von Markt und Staat etwas entgegensetzt. Beispiele sind da der Widerstand gegen die Aufhebung der Sonntagsruhe durch neue Ladenschlussgesetze oder auch der Widerstand gegen die Abschaffung des Religionsunterrichts. Nolte spricht hier vom Dissens- und Protestpotential der Religion.

Die Religion und die Kirchen sind damit nicht die Speerspitze der Bürgergesellschaft. Religion und Kirchen müssen sich immer wieder diese Position auf einem großen Markt sichern. Sie müssen ihr, wie Nolte es nennt, Alleinstellungsmerkmal, ihren sakralen Kern verteidigen und sich gleichzeitig in den Pluralismus der Bürgergesellschaft hineinbegeben.

Protestpotential, Einspruch gegen Anmaßungen von Markt und Staat – das ist die eine Seite. Es gibt aber noch eine andere Seite, die darin besteht, dass religiös motivierte Gemeinschaften und Individuen und die Kirchen Aufgaben übernehmen, für die der Staat nicht mehr einstehen kann. Deshalb plädiert Nolte für einen religionsfreundlichen Staat.

"Ihm müsste an starken Religionen gelegen sein, nicht deshalb, weil er sich wünscht, dass mehr Menschen beten als nicht beten, sondern weil er um die bürgergesellschaftlichen Effekte weiß und diese Effekte um seiner selbst und um der Gesellschaft wegen fördern muss. Der Staat erkennt ja zunehmend die Grenzen seiner Macht, seiner Handlungsfähigkeit, seiner Allzuständigkeit. Nicht für alles können Steuern erhoben werden. Wir müssen auch an manchen Stellen selber anpacken, ohne dass das Geld vorher durch die Staatskasse gewandert ist. Und wenn so etwas irgendwo geschieht in einer Jugendgruppe oder in einer psychiatrischen Betreuung, die der Staat nicht organisieren muss, dann muss das dem Staat wichtig sein, und er muss, so meine ich, ein religionsfreundlicher Staat sein."

Literatur:

Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?
Berlin University Press, Berlin 2009
140 Seiten, 24,90 Euro