Ohne Gnade
Seit der Vergabe des Friedensnobelpreises an den Regimekritiker Liu Xiaobo klagen kritische Intellektuelle darüber, dass die Freiräume in China deutlich kleiner geworden sind. Jetzt ziehen Chinas Machthaber die Daumenschrauben noch weiter an.
Seit Anfang des Jahres wurden Duzende von Oppositionellen festgenommen oder sind einfach verschwunden. Jüngstes prominentes Beispiel: der regimekritische Künstler Ai WeiWei. Dahinter könnte der Versuch der Behörden stehen, in China Proteste nach dem Vorbild der Volksaufstände in der arabischen Welt zu verhindern. Die neue Welle von Repressionen könnte aber auch auf Machtkämpfe innerhalb der chinesischen Führung deuten.
Ein Atelier im Künstlerdorf Songzhuang vor den Toren Pekings. An den Wänden stehen Bilder, Staffeleien, Farbtöpfe. Der Maler Doudou kniet vor seinem jüngsten Werk und trägt großflächig schwarze Farbe auf. In der Mitte der Leinwand prangt lediglich ein Datum und eine Uhrzeit: 3. April 2011, 8 Uhr 4. Dahinter drei Punkte, die ins Leere weisen. Der dritte April war der Tag, an dem der weltbekannte Künstler Ai Weiwei am Pekinger Flughafen festgenommen wurde. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Welle der Repression gegen Andersdenkende in China. Doch gerade die Festnahme von Ai war für Doudou und viele andere Künstler ein Schock.
"Er ist ein bedeutsamer Künstler und hat eine Menge Einfluss. Mit meinem Bild will ich an meinen Freund erinnern. Er ist einfach verschwunden. Niemand hat die Familie informiert. Wir hören nur Gerüchte. Wir sind doch eigentlich ein Rechtstaat. Dann müssen sie auch sagen, was sie ihm vorwerfen und wo er ist."
Doch seit Wochen sagt niemand den Angehörigen, wo Ai Weiwei festgehalten wird oder was genau man ihm vorwirft. Dem kritischen Künstler droht offenbar das gleiche Schicksal wie vielen Bürgerrechtlern, die bisweilen monatelang einfach verschleppt werden. Seine Schwester Gao Ge gibt trotzdem die Hoffnung nicht auf.
"Wir warten so sehr auf Nachrichten von ihm. Ai Weiwei ist nicht der erste, aber er wird auch nicht der letzte sein, der sich in so einer Lage befindet,"
sagt Gao am Telefon. Journalisten treffen mag sie nicht, vielleicht darf sie es auch nicht. Kurze Gespräche am Telefon sind möglich.
"Uns geht es genauso wie den anderen Familien, die so behandelt werden. Wir warten jeden Tag auf Neuigkeiten."
Andere Familien mussten zum Teil sehr lang warten. Der bekannte Rechtsdozent Teng Biao war im Februar festgenommen worden. 70 Tage lang blieb er verschwunden. Seit seiner Rückkehr nach Hause mag er nicht mehr mit Journalisten sprechen. Der Anwalt Li Fangping wurde fast eine Woche lang festgehalten – auch er schweigt. Kaum war er frei, wurde der nächste Anwalt abgeholt, Li Xiongbing – auch er ein bekannter Menschenrechtsanwalt. Auch die ehemalige Anwältin und Aktivistin Ni Yulan ist seit Wochen in Polizeigewahrsam. Die unheimliche Welle der Einschüchterung scheint nicht abzureißen.
"Wir können nicht zur Polizei gehen und nachfragen, erzählt Gao Ge weiter. Sie wissen nichts. Außerdem haben wir es bei der Sicherheitspolizei versucht – bei denen, die schon vor der Festnahme immer wieder mit Ai Weiwei gesprochen haben. Aber nirgends gibt es irgendwelche Informationen."
Begonnen haben die jüngsten Repressalien im Februar. Damals waren im Internet anonyme Aufrufe zu so genannten Jasmin-Protesten nach arabischem Vorbild aufgetaucht. Um gegen die Korruption in China, die Intransparenz, den Mangel an politischer Kontrolle zu protestieren, sollten sich die Menschen jeden Sonntag in Dutzenden von Städten zu "Spaziergängen" versammeln, hieß es. Der Aufruf war geschickt formuliert. Jeder weiß, dass in der Volksrepublik offener politischer Protest extrem riskant ist. Doch schweigende Protestspaziergänge an belebten Orten in den Innenstädten - das schien eine Möglichkeit, den Sicherheitsapparat austricksen zu können.
Doch der chinesische Staat reagierte mit aller Härte. Wie hier in der Wangfujing-Straße im Zentrum Pekings versuchten Polizei und Sicherheitskräfte in Zivil an mehreren Sonntagen in Folge jedwede Menschenansammlung zu verhindern. Ein Großaufgebot an Sicherheitsleuten riegelte die Gegend ab, ging rüde gegen jeden vor, der stehen blieb, attackierte gezielt ausländische Journalisten, schlug einen amerikanischen Video-Reporter brutal zusammen, der wie viele andere gekommen war, um nachzusehen, ob die Jasmin-Aufrufe in China Wirkung zeigen.
Der Einsatz des Sicherheitsapparats stand in keinem Verhältnis zum Anlass. Denn Demonstranten waren gar nicht zu sehen. Stille Protestspaziergänger, wenn es sie überhaupt gab, waren von Passanten und Schaulustigen nicht zu unterscheiden. Jemand warf einen Strauß Jasmin-Blumen auf die Straße. Als ein junger Mann sie aufheben wollte, wurde er abgeführt.
Seit diesen Februar-Tagen hat sich das Klima in China verändert. Ausländische Journalisten erleben seitdem, dass ihre Arbeit stärker behindert wird als in den Monaten und Jahren zuvor. Viele Korrespondenten wurden zur Sicherheitspolizei einbestellt und vor laufenden Kameras – wie bei einem Verhör – belehrt, verwarnt und eingeschüchtert. Alles wegen der Berichterstattung über Polizeieinsätze zu Protesten, die gar nicht stattgefunden haben. Doch den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit ließ Außenamtssprecherin Jiang Yu nicht gelten.
"Niemand soll das Gesetz als Schutzschild benutzen. Einige Menschen wollen die Welt in Unordnung sehen und Unruhe in China anstiften. Wer diese Ziele verfolgt, kann nicht vom Gesetz geschützt werden."
Auch die Zensur in China ist seit Februar deutlich verschärft worden. Alles, was mit Jasmin-Protesten im Zusammenhang steht, wird seitdem blockiert. Manchmal mit absurden Folgen.
Hier zum Beispiel singt der chinesische Staatspräsident Hu Jintao das Lied "Molihua" oder Jasmin-Blüte zusammen mit afrikanischen Studenten. Aber weil das beliebte Volkslied das verbotene Jasmin-Wort enthält, lassen sich Webseiten mit dem Song nicht mehr aufrufen. Wer im chinesischen Internet Suchanfragen mit dem Wort Molihua eingibt, bekommt eine Fehlermeldung angezeigt.
Das Internet mit seinen 450 Millionen Nutzern bereitet der Führung ganz besonders viel Kopfzerbrechen. Erst vor einer Woche wurde eine neue Kontrollbehörde eingerichtet, die jetzt als zentrale Instanz das Internet, wie es heißt, "leiten, koordinieren und überwachen" soll. Die neue Behörde ist direkt beim Informationsamt des Staatsrates angesiedelt, dem Propaganda-Arm der Regierung.
Aber wovor hat China eigentlich Angst? Experten gehen davon aus, dass Unruhen wie in Nordafrika und im Nahen Osten derzeit in China wenig wahrscheinlich sind. Die kleine Gruppe der Dissidenten und Bürgerrechtler wird zwar im Ausland wahrgenommen, hat aber im eigenen Land kaum Breitenwirkung. Trotzdem ist die politische Führung extrem nervös. Denn während die Volksrepublik von außen betrachtet, als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, mächtig und stark erscheint, stellt sich die Lage aus Sicht der Führung ganz anders da: Im Regierungssitz Zhongnanhai hat man offenbar zunehmend das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. Im März, zur Eröffnung des jährlichen Volkskongresses, machte Ministerpräsident Wen Jiabao ein überraschend offenes Eingeständnis.
"Es gibt eine Reihe von Themen, die wir bislang nicht gelöst haben und die die Menschen sehr beschäftigten,"
räumte Wen ein und nannte unter anderem die Bildung, die ärztliche Versorgung, Inflation, explodierende Wohnungspreise, illegale Enteignungen, Lebensmittelsicherheit und die weit verbreitete Korruption.
Die lange Liste der ungelösten sozialen Probleme erklärt zumindest teilweise die harte Haltung der Führung. Als Konsequenz hat die Partei der Stabilität höchste Priorität eingeräumt. In ihrem Namen werden Debatten unterdrückt, die verschärfte Zensur und das Vorgehen gegen Kritiker gerechtfertigt. Der kritische Jurist Jiang Ping sieht das als Symptom für einen Rückschritt auf breiter Front.
"Dass wir heute die Stabilität an erste Stelle setzen, ist ein erschreckendes Phänomen. Was ist denn Stabilität und was ist der Maßstab für Stabilität? Darüber entscheiden jetzt örtliche Regierungen. Selbst ein Landkreis kann darüber befinden, das heißt, letztlich der Parteisekretär dieses Kreises. Unter dem Schlagwort 'Stabilität hat Vorrang' kann man die Herrschaft einzelner wieder einführen und die Rechtstaatlichkeit zurückdrängen. Das ist genau das Gegenteil von unseren Vorstellungen eines Rechtstaates."
Der 80jährige Jiang Ping gilt als gemäßigter Liberaler. Er ist zwar kritisch gegenüber der Führung, aber er ist das, was man in China als "zhi nei" bezeichnet, also ein Kritiker, der sich innerhalb des Systems bewegt und das Machtmonopol der Partei nicht in Frage stellt; anders als deutlich radikalere Bürgerrechtler, die sich außerhalb des Systems sehen. Als "zhi nei" war es für Jiang Ping noch möglich, sich im vergangenen Oktober zusammen mit anderen Altkadern in einem Aufruf für ein Ende der Zensur einzusetzen. Solche Aufrufe, sagt er, seien im jetzigen Klima nicht mehr möglich.
"Solange es um Themen wie die Lebensverhältnisse der Menschen geht, reagieren die Behörden relativ gelassen. Da darf jeder offen seine Meinung äußern. Aber bestimmte Themen – etwa die Mehrparteien-Herrschaft oder Pressefreiheit – das sind Minenfelder. Darüber wagt keiner mehr zu sprechen."
Wie Jiang Ping sind viele kritische Intellektuelle, Bürgerrechtler und Aktivisten in den letzten Monaten deutlich vorsichtiger geworden. Leute, die sich vor wenigen Monaten noch relativ offen äußerten, halten sich jetzt zurück. Anfragen von ausländischen Journalisten werden mit den Worten abgelehnt, es sei "gerade nicht die richtige Zeit" für Treffen oder Gespräche. Andere sind ganz verstummt. Eine Telefonansage auf Chinesisch und Englisch:
"The number you have dialled is not in service"
Zum Beispiel die Frau, die noch bis vor wenigen Monaten unter dieser Telefonnummer zu erreichen war. Liu Xia, die Ehefrau von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Sie steht seit Anfang Oktober in ihrer Pekinger Wohnung unter Hausarrest. Ihre Telefone wurden abgeschaltet, ihre Internetverbindung gekappt. Ihre Wohnung darf sie nicht verlassen. Obwohl ihr die Behörden kein Vergehen vorwerfen, wird sie in ihrer Wohnung gefangen gehalten, ist, wie auch ihr inhaftierter Mann, von der Außenwelt abgeschnitten.
Immer wieder versuchen Journalisten oder Diplomaten, Liu Xia zu besuchen, werden jedoch schon an der Schranke zu ihrer Wohnanlage abgewiesen, einem Areal mit mehrstöckigen Apartmenthäusern. Fotografieren und Filmen verboten, schreien die Wachleute und jagen Besucher davon. Enge Freunde von Liu Xia, wie der kritische Schriftsteller Yu Jie, machen sie zunehmend Sorgen.
"Gesundheitlich geht es ihr schon länger nicht gut. Sie leidet an Depressionen und Schlaflosigkeit. Wegen des langen illegalen Hausarrests und ihrer Isolation bin ich sehr besorgt."
Yu Jie stand selbst nach der Bekanntgabe des Nobelpreises im vergangenen Oktober monatelang unter Hausarrest – wie auch seine Frau. Wenn sie einkaufen wollten, mussten sie ihren Einkaufszettel der Polizei geben – die Beamten besorgten dann die Lebensmittel. Auch jetzt redet er lieber am Telefon, will nur ungern in Begleitung ausländischer Journalisten gesehen werden
"Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus hatten wir seit 1989 nicht mehr so eine Situation, so viel Druck, so viele Schwierigkeiten."
All das scheint darauf hinzudeuten, dass es möglicherweise um mehr geht als um die Unterdrückung von Jasmin-Protesten oder den Friedensnobelpreis. Möglicherweise gibt es einen ungelösten Machtkampf in der Führung, im neunköpfigen ständigen Ausschuss des Politbüros, dem eigentlichen Machtzentrum Chinas. Oder dieser Machtkampf ist bereits entschieden. Die Hardliner, Leute wie Sicherheitschef Zhou Yongkang, hätten die Oberhand gewonnen; Reformer an Einfluss verloren, sagt Nicholas Bequelin, China-Experte bei der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Von Hongkong aus beobachtet er seit Jahren die Entwicklung in der Volksrepublik. Die derzeitige politische Eiszeit ist für ihn Ausdruck der neuen Machtverhältnisse.
"Es geht mit darum, die zivilgesellschaftlichen Fortschritte der letzten zehn bis 20 Jahre zurückzunehmen. Es geht auch darum, Freiräume für freie Meinungsäußerungen zu schließen, die sich gerade im Internet in den letzten Jahren gebildet haben. Es geht um den breit angelegten Versuch, neu zu definieren, wie viel Kritik an der Regierung eigentlich zulässig ist, die Meßlatte niedriger zu hängen, die Werbung für universelle Werte zu untergraben, die sich auch in China mehr und mehr verbreiten."
Dazu passt, dass die Strafen für Kritiker extrem hart sind. Im März wurde der Dissident Liu Xianbin wegen des Vorwurfs der Untergrabung der Staatsgewalt zu zehn Jahren Haft verurteilt. Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sitzt wegen des gleichen Vorwurfs derzeit eine elfjährige Haftstrafe ab. Vor wenigen Tagen wurde in Peking ein Aktionskünstler zu einem Jahr Arbeitslager verdonnert. Sein Vergehen: eine Performance, die sich indirekt über den Kunstbetrieb und hohe Funktionäre lustig machte. Weil die beiden Akteure nackt auftraten, galt das Ganze als "Störung der öffentlichen Ordnung" und als pornographisch. Auch diese Strafe ist offenbar eine Folge der neuen politischen Eiszeit. Der Künstler Gao Qiang sagt, mittlerweile sei völlig unklar, was Kunst noch darf und was nicht.
"Es gibt keine klare Linie, die man nicht überschreiten darf, obwohl wir uns das manchmal wünschen würden. Wir denken, Künstlern sollte alles erlaubt sein, so lange sie niemanden verletzen. Obwohl es keine klare Linie gibt, wissen wir natürlich, dass bestimmte politische Themen tabu sind und nicht angerührt werden dürfen."
In so einem Klima beschränken sich Künstler und Intellektuelle schlimmstenfalls schließlich selbst. Erst vor wenigen Wochen wurde ein Dokumentarfilmfestival in der Nähe von Peking abgesagt – von den Veranstaltern. Die Zeiten seien zu schwierig, hieß es zur Begründung. Und nichts deutet derzeit darauf hin, dass sich an diesen "schwierigen Zeiten" kurzfristig etwas ändert. Denn in China folgt die Repression auch einem komplizierten politischen Kalender von offiziellen Jahrestagen und Großereignissen und solchen, die totgeschwiegen werden.
Zur zweiten Kategorie gehört der Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Um den 4. Juni ist die Lage immer angespannt. Am 1. Juli feiert die Kommunistische Partei ihr 90jähriges Bestehen – auch dann soll – zumindest nach außen – Harmonie herrschen im Land. Im Oktober jährt sich die Vergabe des Friedensnobelpreises – wieder ein Jahrestag, den es offiziell gar nicht gibt, der aber die Führung nervös macht. Damit scheint es für dieses Jahr unwahrscheinlich, dass sich die Spielräume doch noch einmal vergrößern.
Viele Intellektuelle richten ihren Blick daher schon auf das nächste Jahr, auf den 18. Parteitag der KP im Herbst 2012. Dann nämlich wird der Führungswechsel in China eingeleitet. Wird Hu Jintao abgelöst, erst als Chef der KP, später auch als Staatspräsident. Führungswechsel in einem undemokratischen und intranparenten System wie dem chinesischen sind extrem heikle Angelegenheiten. Wenn an der Spitze Unklarheit und Übergang herrscht, kann man Unruhe und Kritik im Land noch weniger gebrauchen als sonst. Bevor die neue Führungsspitze nicht fest im Sattel sitzt, gibt es nach Einschätzung vieler chinesischer Intellektueller daher wenig Hoffnung auf mehr Freiräume.
Doch danach, sagt ein liberaler Pekinger Ökonom optimistisch, könnte es besser werden. Aber, schränkt er sofort wieder ein, Belege habe er dafür natürlich nicht.
Ein Atelier im Künstlerdorf Songzhuang vor den Toren Pekings. An den Wänden stehen Bilder, Staffeleien, Farbtöpfe. Der Maler Doudou kniet vor seinem jüngsten Werk und trägt großflächig schwarze Farbe auf. In der Mitte der Leinwand prangt lediglich ein Datum und eine Uhrzeit: 3. April 2011, 8 Uhr 4. Dahinter drei Punkte, die ins Leere weisen. Der dritte April war der Tag, an dem der weltbekannte Künstler Ai Weiwei am Pekinger Flughafen festgenommen wurde. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Welle der Repression gegen Andersdenkende in China. Doch gerade die Festnahme von Ai war für Doudou und viele andere Künstler ein Schock.
"Er ist ein bedeutsamer Künstler und hat eine Menge Einfluss. Mit meinem Bild will ich an meinen Freund erinnern. Er ist einfach verschwunden. Niemand hat die Familie informiert. Wir hören nur Gerüchte. Wir sind doch eigentlich ein Rechtstaat. Dann müssen sie auch sagen, was sie ihm vorwerfen und wo er ist."
Doch seit Wochen sagt niemand den Angehörigen, wo Ai Weiwei festgehalten wird oder was genau man ihm vorwirft. Dem kritischen Künstler droht offenbar das gleiche Schicksal wie vielen Bürgerrechtlern, die bisweilen monatelang einfach verschleppt werden. Seine Schwester Gao Ge gibt trotzdem die Hoffnung nicht auf.
"Wir warten so sehr auf Nachrichten von ihm. Ai Weiwei ist nicht der erste, aber er wird auch nicht der letzte sein, der sich in so einer Lage befindet,"
sagt Gao am Telefon. Journalisten treffen mag sie nicht, vielleicht darf sie es auch nicht. Kurze Gespräche am Telefon sind möglich.
"Uns geht es genauso wie den anderen Familien, die so behandelt werden. Wir warten jeden Tag auf Neuigkeiten."
Andere Familien mussten zum Teil sehr lang warten. Der bekannte Rechtsdozent Teng Biao war im Februar festgenommen worden. 70 Tage lang blieb er verschwunden. Seit seiner Rückkehr nach Hause mag er nicht mehr mit Journalisten sprechen. Der Anwalt Li Fangping wurde fast eine Woche lang festgehalten – auch er schweigt. Kaum war er frei, wurde der nächste Anwalt abgeholt, Li Xiongbing – auch er ein bekannter Menschenrechtsanwalt. Auch die ehemalige Anwältin und Aktivistin Ni Yulan ist seit Wochen in Polizeigewahrsam. Die unheimliche Welle der Einschüchterung scheint nicht abzureißen.
"Wir können nicht zur Polizei gehen und nachfragen, erzählt Gao Ge weiter. Sie wissen nichts. Außerdem haben wir es bei der Sicherheitspolizei versucht – bei denen, die schon vor der Festnahme immer wieder mit Ai Weiwei gesprochen haben. Aber nirgends gibt es irgendwelche Informationen."
Begonnen haben die jüngsten Repressalien im Februar. Damals waren im Internet anonyme Aufrufe zu so genannten Jasmin-Protesten nach arabischem Vorbild aufgetaucht. Um gegen die Korruption in China, die Intransparenz, den Mangel an politischer Kontrolle zu protestieren, sollten sich die Menschen jeden Sonntag in Dutzenden von Städten zu "Spaziergängen" versammeln, hieß es. Der Aufruf war geschickt formuliert. Jeder weiß, dass in der Volksrepublik offener politischer Protest extrem riskant ist. Doch schweigende Protestspaziergänge an belebten Orten in den Innenstädten - das schien eine Möglichkeit, den Sicherheitsapparat austricksen zu können.
Doch der chinesische Staat reagierte mit aller Härte. Wie hier in der Wangfujing-Straße im Zentrum Pekings versuchten Polizei und Sicherheitskräfte in Zivil an mehreren Sonntagen in Folge jedwede Menschenansammlung zu verhindern. Ein Großaufgebot an Sicherheitsleuten riegelte die Gegend ab, ging rüde gegen jeden vor, der stehen blieb, attackierte gezielt ausländische Journalisten, schlug einen amerikanischen Video-Reporter brutal zusammen, der wie viele andere gekommen war, um nachzusehen, ob die Jasmin-Aufrufe in China Wirkung zeigen.
Der Einsatz des Sicherheitsapparats stand in keinem Verhältnis zum Anlass. Denn Demonstranten waren gar nicht zu sehen. Stille Protestspaziergänger, wenn es sie überhaupt gab, waren von Passanten und Schaulustigen nicht zu unterscheiden. Jemand warf einen Strauß Jasmin-Blumen auf die Straße. Als ein junger Mann sie aufheben wollte, wurde er abgeführt.
Seit diesen Februar-Tagen hat sich das Klima in China verändert. Ausländische Journalisten erleben seitdem, dass ihre Arbeit stärker behindert wird als in den Monaten und Jahren zuvor. Viele Korrespondenten wurden zur Sicherheitspolizei einbestellt und vor laufenden Kameras – wie bei einem Verhör – belehrt, verwarnt und eingeschüchtert. Alles wegen der Berichterstattung über Polizeieinsätze zu Protesten, die gar nicht stattgefunden haben. Doch den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit ließ Außenamtssprecherin Jiang Yu nicht gelten.
"Niemand soll das Gesetz als Schutzschild benutzen. Einige Menschen wollen die Welt in Unordnung sehen und Unruhe in China anstiften. Wer diese Ziele verfolgt, kann nicht vom Gesetz geschützt werden."
Auch die Zensur in China ist seit Februar deutlich verschärft worden. Alles, was mit Jasmin-Protesten im Zusammenhang steht, wird seitdem blockiert. Manchmal mit absurden Folgen.
Hier zum Beispiel singt der chinesische Staatspräsident Hu Jintao das Lied "Molihua" oder Jasmin-Blüte zusammen mit afrikanischen Studenten. Aber weil das beliebte Volkslied das verbotene Jasmin-Wort enthält, lassen sich Webseiten mit dem Song nicht mehr aufrufen. Wer im chinesischen Internet Suchanfragen mit dem Wort Molihua eingibt, bekommt eine Fehlermeldung angezeigt.
Das Internet mit seinen 450 Millionen Nutzern bereitet der Führung ganz besonders viel Kopfzerbrechen. Erst vor einer Woche wurde eine neue Kontrollbehörde eingerichtet, die jetzt als zentrale Instanz das Internet, wie es heißt, "leiten, koordinieren und überwachen" soll. Die neue Behörde ist direkt beim Informationsamt des Staatsrates angesiedelt, dem Propaganda-Arm der Regierung.
Aber wovor hat China eigentlich Angst? Experten gehen davon aus, dass Unruhen wie in Nordafrika und im Nahen Osten derzeit in China wenig wahrscheinlich sind. Die kleine Gruppe der Dissidenten und Bürgerrechtler wird zwar im Ausland wahrgenommen, hat aber im eigenen Land kaum Breitenwirkung. Trotzdem ist die politische Führung extrem nervös. Denn während die Volksrepublik von außen betrachtet, als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, mächtig und stark erscheint, stellt sich die Lage aus Sicht der Führung ganz anders da: Im Regierungssitz Zhongnanhai hat man offenbar zunehmend das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. Im März, zur Eröffnung des jährlichen Volkskongresses, machte Ministerpräsident Wen Jiabao ein überraschend offenes Eingeständnis.
"Es gibt eine Reihe von Themen, die wir bislang nicht gelöst haben und die die Menschen sehr beschäftigten,"
räumte Wen ein und nannte unter anderem die Bildung, die ärztliche Versorgung, Inflation, explodierende Wohnungspreise, illegale Enteignungen, Lebensmittelsicherheit und die weit verbreitete Korruption.
Die lange Liste der ungelösten sozialen Probleme erklärt zumindest teilweise die harte Haltung der Führung. Als Konsequenz hat die Partei der Stabilität höchste Priorität eingeräumt. In ihrem Namen werden Debatten unterdrückt, die verschärfte Zensur und das Vorgehen gegen Kritiker gerechtfertigt. Der kritische Jurist Jiang Ping sieht das als Symptom für einen Rückschritt auf breiter Front.
"Dass wir heute die Stabilität an erste Stelle setzen, ist ein erschreckendes Phänomen. Was ist denn Stabilität und was ist der Maßstab für Stabilität? Darüber entscheiden jetzt örtliche Regierungen. Selbst ein Landkreis kann darüber befinden, das heißt, letztlich der Parteisekretär dieses Kreises. Unter dem Schlagwort 'Stabilität hat Vorrang' kann man die Herrschaft einzelner wieder einführen und die Rechtstaatlichkeit zurückdrängen. Das ist genau das Gegenteil von unseren Vorstellungen eines Rechtstaates."
Der 80jährige Jiang Ping gilt als gemäßigter Liberaler. Er ist zwar kritisch gegenüber der Führung, aber er ist das, was man in China als "zhi nei" bezeichnet, also ein Kritiker, der sich innerhalb des Systems bewegt und das Machtmonopol der Partei nicht in Frage stellt; anders als deutlich radikalere Bürgerrechtler, die sich außerhalb des Systems sehen. Als "zhi nei" war es für Jiang Ping noch möglich, sich im vergangenen Oktober zusammen mit anderen Altkadern in einem Aufruf für ein Ende der Zensur einzusetzen. Solche Aufrufe, sagt er, seien im jetzigen Klima nicht mehr möglich.
"Solange es um Themen wie die Lebensverhältnisse der Menschen geht, reagieren die Behörden relativ gelassen. Da darf jeder offen seine Meinung äußern. Aber bestimmte Themen – etwa die Mehrparteien-Herrschaft oder Pressefreiheit – das sind Minenfelder. Darüber wagt keiner mehr zu sprechen."
Wie Jiang Ping sind viele kritische Intellektuelle, Bürgerrechtler und Aktivisten in den letzten Monaten deutlich vorsichtiger geworden. Leute, die sich vor wenigen Monaten noch relativ offen äußerten, halten sich jetzt zurück. Anfragen von ausländischen Journalisten werden mit den Worten abgelehnt, es sei "gerade nicht die richtige Zeit" für Treffen oder Gespräche. Andere sind ganz verstummt. Eine Telefonansage auf Chinesisch und Englisch:
"The number you have dialled is not in service"
Zum Beispiel die Frau, die noch bis vor wenigen Monaten unter dieser Telefonnummer zu erreichen war. Liu Xia, die Ehefrau von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Sie steht seit Anfang Oktober in ihrer Pekinger Wohnung unter Hausarrest. Ihre Telefone wurden abgeschaltet, ihre Internetverbindung gekappt. Ihre Wohnung darf sie nicht verlassen. Obwohl ihr die Behörden kein Vergehen vorwerfen, wird sie in ihrer Wohnung gefangen gehalten, ist, wie auch ihr inhaftierter Mann, von der Außenwelt abgeschnitten.
Immer wieder versuchen Journalisten oder Diplomaten, Liu Xia zu besuchen, werden jedoch schon an der Schranke zu ihrer Wohnanlage abgewiesen, einem Areal mit mehrstöckigen Apartmenthäusern. Fotografieren und Filmen verboten, schreien die Wachleute und jagen Besucher davon. Enge Freunde von Liu Xia, wie der kritische Schriftsteller Yu Jie, machen sie zunehmend Sorgen.
"Gesundheitlich geht es ihr schon länger nicht gut. Sie leidet an Depressionen und Schlaflosigkeit. Wegen des langen illegalen Hausarrests und ihrer Isolation bin ich sehr besorgt."
Yu Jie stand selbst nach der Bekanntgabe des Nobelpreises im vergangenen Oktober monatelang unter Hausarrest – wie auch seine Frau. Wenn sie einkaufen wollten, mussten sie ihren Einkaufszettel der Polizei geben – die Beamten besorgten dann die Lebensmittel. Auch jetzt redet er lieber am Telefon, will nur ungern in Begleitung ausländischer Journalisten gesehen werden
"Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus hatten wir seit 1989 nicht mehr so eine Situation, so viel Druck, so viele Schwierigkeiten."
All das scheint darauf hinzudeuten, dass es möglicherweise um mehr geht als um die Unterdrückung von Jasmin-Protesten oder den Friedensnobelpreis. Möglicherweise gibt es einen ungelösten Machtkampf in der Führung, im neunköpfigen ständigen Ausschuss des Politbüros, dem eigentlichen Machtzentrum Chinas. Oder dieser Machtkampf ist bereits entschieden. Die Hardliner, Leute wie Sicherheitschef Zhou Yongkang, hätten die Oberhand gewonnen; Reformer an Einfluss verloren, sagt Nicholas Bequelin, China-Experte bei der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Von Hongkong aus beobachtet er seit Jahren die Entwicklung in der Volksrepublik. Die derzeitige politische Eiszeit ist für ihn Ausdruck der neuen Machtverhältnisse.
"Es geht mit darum, die zivilgesellschaftlichen Fortschritte der letzten zehn bis 20 Jahre zurückzunehmen. Es geht auch darum, Freiräume für freie Meinungsäußerungen zu schließen, die sich gerade im Internet in den letzten Jahren gebildet haben. Es geht um den breit angelegten Versuch, neu zu definieren, wie viel Kritik an der Regierung eigentlich zulässig ist, die Meßlatte niedriger zu hängen, die Werbung für universelle Werte zu untergraben, die sich auch in China mehr und mehr verbreiten."
Dazu passt, dass die Strafen für Kritiker extrem hart sind. Im März wurde der Dissident Liu Xianbin wegen des Vorwurfs der Untergrabung der Staatsgewalt zu zehn Jahren Haft verurteilt. Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sitzt wegen des gleichen Vorwurfs derzeit eine elfjährige Haftstrafe ab. Vor wenigen Tagen wurde in Peking ein Aktionskünstler zu einem Jahr Arbeitslager verdonnert. Sein Vergehen: eine Performance, die sich indirekt über den Kunstbetrieb und hohe Funktionäre lustig machte. Weil die beiden Akteure nackt auftraten, galt das Ganze als "Störung der öffentlichen Ordnung" und als pornographisch. Auch diese Strafe ist offenbar eine Folge der neuen politischen Eiszeit. Der Künstler Gao Qiang sagt, mittlerweile sei völlig unklar, was Kunst noch darf und was nicht.
"Es gibt keine klare Linie, die man nicht überschreiten darf, obwohl wir uns das manchmal wünschen würden. Wir denken, Künstlern sollte alles erlaubt sein, so lange sie niemanden verletzen. Obwohl es keine klare Linie gibt, wissen wir natürlich, dass bestimmte politische Themen tabu sind und nicht angerührt werden dürfen."
In so einem Klima beschränken sich Künstler und Intellektuelle schlimmstenfalls schließlich selbst. Erst vor wenigen Wochen wurde ein Dokumentarfilmfestival in der Nähe von Peking abgesagt – von den Veranstaltern. Die Zeiten seien zu schwierig, hieß es zur Begründung. Und nichts deutet derzeit darauf hin, dass sich an diesen "schwierigen Zeiten" kurzfristig etwas ändert. Denn in China folgt die Repression auch einem komplizierten politischen Kalender von offiziellen Jahrestagen und Großereignissen und solchen, die totgeschwiegen werden.
Zur zweiten Kategorie gehört der Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Um den 4. Juni ist die Lage immer angespannt. Am 1. Juli feiert die Kommunistische Partei ihr 90jähriges Bestehen – auch dann soll – zumindest nach außen – Harmonie herrschen im Land. Im Oktober jährt sich die Vergabe des Friedensnobelpreises – wieder ein Jahrestag, den es offiziell gar nicht gibt, der aber die Führung nervös macht. Damit scheint es für dieses Jahr unwahrscheinlich, dass sich die Spielräume doch noch einmal vergrößern.
Viele Intellektuelle richten ihren Blick daher schon auf das nächste Jahr, auf den 18. Parteitag der KP im Herbst 2012. Dann nämlich wird der Führungswechsel in China eingeleitet. Wird Hu Jintao abgelöst, erst als Chef der KP, später auch als Staatspräsident. Führungswechsel in einem undemokratischen und intranparenten System wie dem chinesischen sind extrem heikle Angelegenheiten. Wenn an der Spitze Unklarheit und Übergang herrscht, kann man Unruhe und Kritik im Land noch weniger gebrauchen als sonst. Bevor die neue Führungsspitze nicht fest im Sattel sitzt, gibt es nach Einschätzung vieler chinesischer Intellektueller daher wenig Hoffnung auf mehr Freiräume.
Doch danach, sagt ein liberaler Pekinger Ökonom optimistisch, könnte es besser werden. Aber, schränkt er sofort wieder ein, Belege habe er dafür natürlich nicht.