Ohne Erzähler

Von Camilla Hildebrandt |
Mehmet E. Göker hat mit de, Vertrieb privater Krankenversicherungen schnell viel Geld verdient, und sein Umsatz wächst stetig - bis er 1000 Beschäftigte hat. Doch 2009 ist alles vorbei, und es kommt zur Insolvenz. Göker setzt sich in die Türkei ab. Der Dokumentarfilmer Klaus Stern hat die Geschichte nun auf die Leinwand gebracht.
Film: "Bitte begrüßt nun mit mir unseren Chef, unseren Freund, unseren Mehmet Göker"

Ein Theater in Kassel, geladene Gäste in Abendgarderobe, eine Bühne bombastisch dekoriert wie für einen Filmstar. Im Hintergrund läuft Carmina Burana von Carl Orff. Für Mehmet E. Göker eine ganz normale Firmenveranstaltung. Gefeiert wird: vor allem er selbst, als Chef seiner Firma, die private Krankenversicherungen verkauft und dafür von den Konzernen Provisionen bis zu 10.000 Euro kassiert!

"Ich habe Ziele, realistische Ziele, und das realistische Ziel ist es, den größten Finanzvertrieb der Welt zu haben."

Ein Unternehmen, das funktioniert, aber nur wenn es im Stil der ehemaligen Sowjetunion geführt wird, erklärt Göker im Film. Seine Mitarbeiter sagen:

"Zum Ende dort meiner Zeit war es so schlimm, dass es schon wie eine Diktatur war. Es war kein ‚Mitarbeiter führen’, sondern kontrollieren, Befehl und Gehorsam, MEG AG. AG stand für mich dann für alleiniger Gebieter."
Regisseur Klaus Stern, 43, schmale Statur, hat ein Faible für extrem geltungsbedürftige Menschen. Ein Bürgermeister, der im trostlosen Nordhessen ein Luxus-Ferienresort bauen will, ein Ski-Ass, das eine Filmfirma gründet und Leo Kirch Konkurrenz macht, Versicherungs-vertreter Mehmet Göker - seine Film-Protagonisten haben eins gemeinsam: Sie haben den Bezug zur Realität verloren. Aber er mag sie - irgendwie.

Stern: "Weil ich glaube, dass in all diesen Menschen auch Sehnsüchte und Wünsche von uns allen stecken, die sie nur extrem ausleben. Auch ich habe die Gier manchmal in meinen Augen, und auch heute noch vielleicht."

Wie Versicherungsvertreter arbeiten, das hat Klaus Stern schon als junger Mann - mit 20 - erlebt.

Stern: "Ich hab Zivildienst gemacht in Marburg. Und ein Kollege von mir hat Versicherungen verkauft und hat mich mitgeschleift auf so ein Rekrutierungsseminar. Und das war eine sehr gute Schule! Ich hab niemals so viele dumme, gierige Menschen auf so einem kleinen Raum gesehen."

"Als Vertriebsdirektor habe ich am Schluss 30.000 Euro verdient. Im Monat? Ja, im Monat."

Dass er jemals darüber einen Film drehen würde, war damals aber noch undenkbar. Denn sein erster Beruf war Postbote, oder wie Stern korrigiert: Dienstleistungsfachkraft bei der Deutschen Bundespost in Kassel.

Stern: "Ich bin nicht in eine Regisseur- oder Schauspieler-Dynastie reingeboren worden, sondern ich bin ganz schlicht auf dem Bauernhof im Nordhessischen aufgewachsen, in der Schwalm. Und da gab es keine Zeit, die Talente der Jungs zu fördern, sie zum Fussball zur fahren, zur Geige zu fahren, das gab´s alles bei uns nicht."

Erst in der Berufsschule macht ihn ein Lehrer darauf aufmerksam, dass er vielleicht mehr aus seinem Leben machen könnte. Der junge Mann - mit der markanten Nase und den kinnlagen braunen Haaren - holt das Abitur nach, studiert Politik und Wirtschaft. Die Idee, Geschichten zu erzählen, war schon immer da, sagt er, aber nie konkret. Mit 25 entschließt er sich für sein erstes Fernseh-Praktikum.

Stern: "Ich hab erst als Reporter für "Live aus dem Schlachthof" gearbeitet. Und dann durfte ich so kleine Drei- bis Fünf-Minuten-Beiträge machen. Mein erster Sieben-Minuten-Beitrag war ein Film über die Chaostage in Hannover 1996/97. Und dieser lächerliche kleine Beitrag ist sofort kassiert worden vom Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks, weil die CDU im Hesssichen Landtag nicht mit dem Beitrag einverstanden war."

Was danach kam, hat Klaus Stern sich selbst beigebracht. 1998 schreibt er seine Diplomarbeit über die Entführung des Politikers Peter Lorenz. Im Anschluss entsteht darüber sein erster Dokumentarfilm. Seine Filme haben keinen Erzähler, niemanden, der über Gut und Böse entscheidet, nur Bilder, die für sich stehen. Eine wichtige, dramaturgische Entscheidung.

Stern: "Ich bin im klassischen Sinne kein investigativer Journalist. Aber ich versuche, dass die Leute - nein, das ist zu hart, wenn man sagt: sich selbst demontieren, aber dass der Zuschauer das alles darin sieht, bisschen nachdenken muss, und dass man das nicht mundgerecht serviert bekommt, und dass die Geschichte sich selbst entlarvt."

Film: "Gier frisst Hirn - den kennt ja jeder. Und das ist der Spruch, den der Mehmet Göker sehr oft gebraucht hat, nur leider auf seiner Wolke sieben hat er es selbst nicht mehr gemerkt, dass dieses ‚Gier frisst Hirn’, dass er das beste Beispiel dafür war."

Auch über Mehmet Göker will er sich kein Urteil erlauben, das muss der Zuschauer selbst machen. Und, fügt Stern hinzu, wenn man gute Filme drehen möchte, dann muss man seine Hauptperson auch auf gewisse Art und Weise lieben.

"Viele von den Protagonisten wissen, das ihre Geschichten gut bei mir aufgehoben sind, dass ich versuche Pro und Kontra von den Figuren - die meistens fragwürdige Figuren sind - zu zeigen. Und es gab in Kassel zum Beispiel Leute, die von mir enttäuscht waren, die von mir erwarten, ich müsste der Staatsanwalt sein, müsste ihn anklagen und überführen. Aber ich zeige nur, warum er so viel Erfolg hatte, dass er die Leute um den Finger gewickelt hat."

Klaus Stern, der in Berlin und Kassel lebt, und einen Sohn hat, legt keinen großen Wert auf Ruhm. Preise seien wunderbar, vor allem für die Finanzierung des nächsten Films. Aber wichtig sei ihm Unabhängigkeit.

"Von einem Produzenten lass ich mir nix sagen, weil mein Produzent bin ich selber! Und von den Sendern? Natürlich, ich muss werben um meine Filme. Alle Herzensangelegenheiten hab ich bisher unterbekommen, aber ich hab vielleicht ein Drittel von dem Budget, was so eine Dokumentation normalerweise kostet."

Film: "Wie schafft man das zurückzuzahlen im Leben? Gar nicht! Wie soll man 20 Millionen zurückzuzahlen?"