Offenes Haus für Juden und Nicht-Juden

Von Gerald Beyrodt · 09.03.2012
1962 suchten Juden wieder ganz bewusst den Kontakt zu den deutschen Mitbürgern und gründeten erneut die Jüdische Volkshochschule in Berlin. Wer wissen möchte, wie man in Israel kocht oder feiert, ist hier an der richtigen Adresse. Auch Deutschkurse für jüdische Zuwanderer sind im Angebot.
Wer sich in westdeutschen jüdischen Gemeinden zu den 50er-Jahren und dem Beginn der 60er umhört, bekommt zu hören: Oft bestanden sie aus traumatisierten Menschen, aus Überlebenden. Die Gemeinden waren nach außen abgeschlossen, denn die Überlebenden hatten mit sich zu tun. An die Öffentlichkeit zu treten oder Nicht-Juden ins Gemeindehaus einzuladen, wäre ihnen meist nicht eingefallen.

Doch die jüdische Gemeinde in West-Berlin gründete 1962 eine jüdische Volkshochschule: Von Anfang an richtete sich das Angebot an Juden genauso wie an Nicht-Juden. Sie konnten zum Beispiel Hebräisch lernen und sich über jüdische Religion informieren. Ohnehin war das Gemeindehaus in der Fasanenstraße in der Nähe vom Bahnhof Zoo bei zahlreichen Veranstaltungen offen für Nicht-Juden.

Den Anstoß zur Gründung der Jüdischen Volkshochschule gab der Gemeindevorsitzende Heinz Galinksi, sagt Sigalit Meidler-Waks, die heutige Leiterin:

"Das war das Anliegen von Heinz Galinski, selig Angedenken, das Konzept eines offenen Gemeindehauses zu verfolgen. Und das hat er mit dem Haus verfolgt, so wie das konzipiert war. Und das hat er dann noch mal erweitert mit der Jüdischen Volkshochschule, die ganz maßgeblich auf ihn zurückgeht. Es ist auch interessant, dass die Jüdische Volkshochschule vor 50 Jahren im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit eröffnet wurde. Und es ging ihm wirklich um den Dialog."

Die Eröffnung der Jüdischen Volkshochschule war sogar der "New York Times" einen Artikel wert.

"Rabbi Cuno Lehmann erklärte seinen Zuhörern, einer der wichtigsten jüdischen Grundsätze bestehe darin, Gutes zu tun, ohne es auf eine Belohnung anzulegen. Dies habe der berühmte jüdische Lehrer Moses Maimonides im Frühmittelalter in seinen 13 Glaubensartikeln niedergeschrieben. Viele Zuhörer hatten vorher wenig oder gar kein Wissen über jüdisches Denken. Rabbi Lehmanns Vortrag war der vierte in der achtteiligen Reihe 'Einführung ins Wesen des Judentums'. Jede Woche wird die Menge der Zuhörer größer."

Nach nur vier Wochen Betrieb sei die Jüdische Volkshochschule Berlin ein klarer Erfolg, schrieb die New York Times weiter.

Die Volkshochschule bot damals auch Lehrerfortbildungen an, denn an deutschen Schulen war bis dahin über den Nationalsozialismus wenig zu hören und in deutschen Schulbüchern war davon wenig zu lesen. Sigalit Meidler-Waks:

"Es stand anscheinend nicht allzu viel drin. Und das, was drinstand, muss auch nicht besonders adäquat gewesen sein. Und über Vorträge, die in der Jüdischen Volkshochschule gehalten worden sind, gab es dann einen Austausch mit dem Senat, also das hat eben wirklich weite Kreise auch gezogen."

Damals wie heute kann man sich in der Jüdischen Volkshochschule über jüdische Religion und Kultur informieren, die Sprachen Jiddisch, Neu- und Althebräisch lernen. Seit 20 Jahren sind Deutschkurse am Vormittag fester Bestandteil des Programms: für die vielen jüdischen Zuwanderer aus Staaten der Ex-Sowjetunion, aber auch für die vielen Israelis in Berlin.

Kurse aus dem aktuellen Programm heißen: "Der lange Weg zum Monotheismus" oder auch "Jüdische Tradition". Daneben kann man tanzen, kochen, anhand von Liebesliedern Hebräisch lernen. Knapp 2000 Besucher kommen jedes Jahr in die Jüdische Volkshochschule Berlin, unter ihnen Renate Schrader. Die Rentnerin hat an der JVHS gleich drei Sprachkurse belegt - einen in Althebräisch und zwei in Neuhebräisch:

"Wenn man eine Sprache lernen will, geht das einfach nur, wenn man mehrmals in der Woche sich damit beschäftigt. Zu allererst habe ich nur einen Kurs mitgemacht und habe gemerkt, es reicht nicht, um wirklich voranzukommen."

Biblische Texte aus dem Buch Kohelet im Original lesen zu können, war für die gläubige Baptistin ein wichtiges Erlebnis.

Ursula Schabram lernt Neubräisch, weil ihre Tochter mit ihrer Lebenspartnerin in Israel lebt. Kinder haben die beiden auch. In Tel Aviv will Ursula Schabram Schilder lesen und sich verständigen können:

"Initialzündung war zum Beispiel, als ich meinen Enkel vom Kindergarten abholte, und die Erzieherin erzählte mir lautstark in Hebräisch, und ich hab's nicht verstanden und hab den Kleinen gefragt: Was hat sie denn gesagt? Da war er aber überfordert, da war er ja erst drei oder so. Und da hab ich gedacht: Jetzt muss ich anfangen, mich damit zu beschäftigen."

Erika Klein-Albenhausen besucht Vorträge in der Jüdischen Volkshochschule. Sie interessiere sich von Kindheit an für Archäologie und Geschichte, sagt sie. Doch warum für jüdische Archäologie und Geschichte?

"Das hat mit Sicherheit auch zu tun mit der deutschen vergangenen Geschichte, mit der deutschen Vergangenheit, natürlich. Ich bin geboren 1944, also ein Jahrgang, von dem man sagt, dass er keine Schuld hat, aber es steckt natürlich Verantwortung dahinter."

Sarah Groß ist selbst jüdisch und kann in den Vorträgen immer Neues dazulernen, zum Beispiel neulich über die Geschichte der staatenlosen Juden nach dem Krieg, der sogenannten "displaced persons". Eine jüdische Volkshochschule sei wichtig, um den Berlinern lebendiges Judentum zu vermitteln – zu zeigen, dass nicht alle Juden bei Klezmermusik in Verzückung geraten und nicht aussehen wie früher im Shtetl:

"Die meisten haben ja die Vorstellung von toten Juden. Für sie sind Juden tot, weil sie Judentum mit der Nazizeit in Verbindung bringen. Ganz oft habe ich das erlebt, dass Menschen nicht die Vorstellung hatten, dass Juden hier leben, dass sie ganz normal aussehen wie sie selbst auch, dass sie hier leben wie andere Menschen auch. Das, denke ich, wird hier sehr gut vermittelt."

Die jüdische Volkshochschule und andere Bildungsangebote scheinen heute genauso nötig zu sein wie vor 50 Jahren: Heutzutage ist wichtig zu verbreiten, dass das Judentum als solches nichts mit Tod und Vernichtung zu tun hat. Es ist eine fröhliche Religion, die das Leben bejaht.
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