Offene Wunden

Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 © Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel |
Die beiden großen europäischen Katastrophen des 20.Jahrhunderts - der Nationalsozialismus und der Kommunismus - haben offene Wunden hinterlassen. "Open Wounds: Reflections on Nazism, Communism, and the 20th Century" nannte das Einstein Forum in Potsdam eine internationale Tagung, zu der auch der Geheimdienstchef der DDR, Markus Wolf, eingeladen war.
Auf den Podien diskutierten mehrheitlich Historiker und Philosophen über das diktatorische Erbe des 20.Jahrhunderts. Markus Wolf war der einzige Vertreter eines der beiden Systeme. Doch der ehemalige Geheimdienstchef der DDR wurde nicht als Täter befragt. Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall ist auch er ein ganz normaler Zeitzeuge – übrigens ohne, dass er irgendetwas Neues zu sagen gehabt hätte. Ein (immer noch bekennender) Vertreter des Kommunismus ist bei einer solchen Tagung salonfähig – ein Neonazi wäre es nicht, wie der Historiker Martin Sabrow bemerkte:

" Wir würden es ja nicht ertragen, wenn hier ein Vertreter des nationalsozialistischen Gedankenguts sitzen würde. Wir würden das Verbrechen mitsehen, und wir sind sehr stark davon beherrscht, dass die Verbrechen und Verbrechensnähe den Nationalsozialismus ex ante delegitimieren. "

Der Nationalsozialismus ist offenbar schlimmer als der Stalinismus, das ist das erste, elementare Ergebnis des Vergleichs. Hakenkreuze sind in Deutschland verboten, doch der Verkauf von sowjetischen Memorabilien ist erlaubt, beobachtete auch die Philosophin Susan Neiman, Leiterin des Einstein Forums. Doch nach welchen Kriterien will man die beiden Systeme überhaupt vergleichen? Geht es um die Zahl der Opfer? Oder um die ideologische Absicht? Der britische Historiker Jonathan Glover sagt dazu Folgendes:

" If we're judging by intention it's clear that Hitler's project is far darker than Stalin's. If we're judging by consequences: Stalin killed many more people, so there is a case to be made that Stalin's consequences were worse."

Wenn es um die Intention geht, sei klar, dass Hitler der größere Verbrecher war, meint der britische Historiker Jonathan Glover. Doch Stalin wiederum hat mehr Menschen umgebracht. Auf der Tagung war man sich einig, dass der bloße "body count" als moralisches Kriterium nicht genügt. Vergleicht man die Absicht der beiden Ideologien, wird es jedoch schnell kompliziert. Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Kommunismus waren Utopien und strebten danach, ihre jeweiligen Ideale zu verwirklichen. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Utopie der Nazis nur die eigene Volksgruppe einschloss, wie der renommierte Historiker Eric Hobsbawm feststellte. Die anderen wurden nicht nur ausgeschlossen, sie wurden eliminiert. Der Kommunismus dagegen war in seinem Ideal der Weltverbesserung universal. Darüber herrschte an der Tagung Konsens: Stalin hat mit seinem Terror die Ideale des Kommunismus verraten. Hitler musste für die Shoa seine Ideale nicht verraten – er setzte sie um.

Auch wenn die Zahl der Opfer kein moralisches Kriterium sein kann, so fällt doch das enorme Ungleichgewicht der Erinnerung ins Auge. Die Shoa ist in den Medien und in der Wissenschaft ein Thema, doch die Opfer des Gulag scheinen vergessen. Auch an der Tagung war von ihnen nur am Rand die Rede, und es erstaunt ein wenig, dass kein Vertreter von "Memorial" anwesend war, jener Bürgerorganisation, die sich um die Vergangenheitsbewältigung der Sowjetunion bemüht.

Dieses Vergessen hat auch mit der Wirkung von Bildern zu tun. Die politisierte Erinnerungskultur hat Auschwitz zu einem äußerst wirkungsmächtigen Symbol gemacht. Der Gulag hat schlicht keinen Schauplatz, der mit Auschwitz konkurrieren könnte, stellte der ungarische Historiker István Rév fest:

" Despite all the efforts to construct the ultimate Gulag site at Sziget, Kolyma or on Solofki island, the Gulag does not have an Auschwitz in the sense of a concrete site that could point beyond itself. "

Der Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus ist nicht mehr tabu – doch ist er überhaupt sinnvoll? Im Verlauf der äußerst anregenden Tagung gewann diese Frage immer mehr Gewicht. Der Osteuropa-Historiker und Philosoph Karl Schlögel ist skeptisch gegenüber dem neuen Paradigma:

" Es gibt so einen Selbstlauf des Vergleichens der einfach gar nichts bringt, und der zum Teil ganz gedankenlos und geistlos ist. Es gibt, wie immer, wenn es ein neues Paradigma gibt – das fängt dann an, sich zu verselbständigen, und es werden dann hunderte von Dissertationen geschrieben, wo es dann gar nicht mehr um das Verstehen einer bestimmten Geschichte geht, sondern einfach um das Durchexerzieren einer bestimmten Methode, eben der vergleichenden Methode."

So differenziert man den Vergleich zwischen den beiden Systemen auch handhaben mag – letztlich sei er ein Ausdruck des Schwarz-Weiß-Denkens, das den Kalten Krieg geprägt hat, so gab Eric Hobsbawm zu bedenken. Die beiden großen europäischen Katastrophen des 20.Jahrhunderts haben offene Wunden hinterlassen - Unerklärtes, vielleicht Unerklärliches. Das Instrumentarium des Vergleichens liefert interessante Apercus. Doch verstehen lässt sich damit weniger, als man denkt.

Service:

Die internationale Konferenz "Open Wounds: Reflections on Nazism, Communism, and the 20th Century" fand vom 14. bis 16. April 2005 im Potsdamer Einstein Forum statt.

Link:

Einstein Forum: Tagung "Open Wounds"