Offene Hände

Von Victoria Eglau |
Paraguay gehört zu den korruptesten Staaten Lateinamerikas. Auch der kürzlich abgesetzte Präsident Fernando Lugo bekam das Problem nicht in den Griff. Bis heute verschwindet Geld, das für Armutsbekämpfung oder den Ausbau von Infrastruktur gebraucht wird, in dunklen Kanälen.
Paraguays Nationalkongress ist in einem Gebäude aus Beton und Spiegelglas untergebracht, gelegen zwischen dem Zentrum der Hauptstadt Asunción und dem Fluss Río Paraguay.

Neben dem Parlament ragt das Monument eines Befreiungshelden hoch zu Ross auf, daneben: ein Aussichtspunkt. Von hier aus können Besucher zwar runter zum Fluss schauen, ein Spaziergang am Ufer ist aber nicht ohne Weiteres möglich. Denn gleich unterhalb des Parlaments beginnt das Armenviertel, Chacarita – ein No Go-Gebiet für jeden Fremden.

"Viele Jugendliche aus unserem Viertel sind drogenabhängig, deshalb stehlen sie. Wir Bewohner von Chacarita sind eigentlich gute, ehrliche Arbeiter. Aber es gibt heute viele Dealer, die unsere Jugend zerstören. Die Abhängigen rauben dann hier im Viertel und in der Innenstadt die Leute aus."

erzählt Fabian Balbuena, ein untersetzter Mann in Sporthemd, Shorts und Plastikschlappen. Der Fünfzigjährige wurde in Chacarita geboren. Er hat sich nahe des Reiterstandbilds ins Gras gesetzt. Auch ein paar Mütter und Kinder sind in die kleine Grünanlage gekommen.

Balbuena lässt den Blick über das Viertel schweifen: unasphaltierte Wege, armselige Behausungen aus Sperrholz mit Wellblechdächern, dazwischen ein paar Bäume. Der Kontrast zum modernen Parlamentsbau weiter oben könnte nicht größer sein.

Nicht einmal einen Kilometer von dieser Schnittstelle zwischen Elend und Macht entfernt, im historischen Zentrum von Asunción, befindet sich die Redaktion der Tageszeitung Última Hora.

Hier, in einem von Neonröhren erhellten Großraumbüro mit roten Wänden und Dutzenden von Holzpulten arbeitet Erwin Gomez. Er ist seit sechzehn Jahren Lokalreporter. Die krassen sozialen Gegensätze in Paraguays Hauptstadt sind ihm vertraut.

"Die Stadtverwaltung räumt besseren Gegenden Priorität ein, etwa den Vierteln, in denen sich Hotels befinden. Aber sie vergisst den anderen Teil Asuncións. Das heißt, es gibt eine VIP-Zone und einen vernachlässigten Teil der Stadt."

Der bärtige Erwin Gomez trägt sein Haar schulterlang. Auf seiner Weste prangt das Logo der Zeitung. Als Reporter ist Gomez oft in jenem vernachlässigten Teil von Asunción unterwegs, in den sich andere Hauptstädter nie verirren. Die Ärmsten der Armen leben an den Ufern des Paraguay-Flusses und an den Rändern der Bäche.

"Wenn es regnet, verwandeln sich diese Rinnsale voller Abfall und Abwässer in reißende Gewässer, es kommt zu Erdrutschen. Oft stürzen nahegelegene Häuser ein. Deswegen fordern die Anwohner jetzt Schutzmauern. Offiziell darf zwar niemand direkt an den Bächen wohnen. Aber die Realität ist nun mal, dass sich viele Leute schon vor Jahren dort niedergelassen haben. Die Stadtverwaltung hat weggeschaut. Deswegen muss sie nun in die Sicherheit dieser Menschen investieren."

Doch Asuncións Stadtregierung hat wenig Geld für Investitionen. Die Hälfte der Einwohner zahlt ihre Steuern nicht. Viele auch deshalb nicht, weil die Infrastrukturmängel so groß seien, sagt Erwin Gomez – und das nicht nur in den Elendssiedlungen.
"Es gibt ganze Stadtteile ohne Abwassersystem. Dort fließen die Abwässer einfach die Straße hinab. Wenn es ein Unwetter gibt, steht ein großer Teil der Viertel unter Wasser. Häuser werden überschwemmt, der Verkehr kommt zum Erliegen. Hier müsste die Stadt investieren, aber das ist offenbar unmöglich. Manch einer sagt mir: ich zahle Steuern für die Instandhaltung der Bürgersteige, aber das Trottoir vor meinem Haus ist völlig kaputt! Oder: ich zahle Steuern für die Straßenreinigung, aber hier ist noch nie ein Straßenfeger vorbeigekommen."

Mit einem der altersschwachen, ohrenbetäubend lauten Busse von Asunción geht es ins Bañado: eine langgestreckte, wild wuchernde Elendssiedlung – ebenfalls direkt am Paraguay-Fluss gelegen. Bañado heißt "gebadet” – der Name spielt auf das Hochwasser an, das die flussnahen Viertel oft überflutet. Die Zahl der Bewohner kann nur geschätzt werden – von dreißigtausend Menschen ist die Rede.

Domingo Alonso läuft über schlammige Wege und grüßt Nachbarn, die vor ihren Häuschen aus meist unverputzten Ziegelsteinen sitzen. Obwohl der letzte Regen schon ein paar Tage her ist, muss der Vierzigjährige mit seinen Flipflops immer wieder über riesige Pfützen steigen. Mopeds fahren vorbei, hin und wieder auch ein Pferdekarren.

Wenn Domingo Alonso lächelt, sieht man, dass ihm die Eckzähne fehlen. Hier, im südlichen Bañado, ist er aufgewachsen, und hier koordiniert er heute ehrenamtlich ein Jugendzentrum: das Centro Comunal Santa Ana.

Im kahlen Versammlungsraum des Ziegelbaus hängen mehrere Ventilatoren an den Wänden, wegen der Hitze laufen sie auf Hochtouren. Alonso schiebt sich einen Stuhl heran und erzählt von der Entstehung des Viertels:

"Einige Familien leben schon seit dreißig, vierzig Jahren nahe des Flussufers. Die meisten sind aus Kleinstädten oder vom Land nach Asunción gekommen, um hier ein besseres Leben zu suchen. Die Familien sind gewachsen, ihre Kinder haben ebenfalls im Bañado gebaut – auf Land, das dem Staat gehört. Die wenigsten bauen ihre Häuser gleich aus Ziegelsteinen, die meisten fangen mit Holz an, mit Pappe oder ähnlichem."

Domingo Alonso kennt Familien, die ihr komplettes Holzhaus wegtragen, wenn das Hochwasser kommt. Immerhin ist das Viertel ans Strom- und Wassernetz angeschlossen: die Bewohner haben es von den Behörden beharrlich eingefordert. Für die Urbanisierung des Bañado war die Selbstorganisation der Nachbarn entscheidend. Heute gibt es außerdem ein paar asphaltierte Straßen, Schulen, Kirchen und Jugendzentren, wie das Centro Comunal Santa Ana.

"Hier können die Jugendlichen aus dem Viertel lesen, am Computer arbeiten, Musik hören oder in Ruhe für die Schule lernen. Ich glaube, unser Ziel hat sich erfüllt: einen Ort zu schaffen, an dem die jungen Leute sich frei fühlen und ihre Fähigkeiten entwickeln können. Es bewegt mich, zu sehen, wie dieses Zentrum ein Teil ihres Lebens geworden ist, und wie sie hier entdecken, dass sie anderen nützlich sein können. Einige unserer Freiwilligen haben selbst manchmal kaum etwas zu essen, und wollen trotzdem etwas für die Gemeinschaft tun."

An diesem Sonntagnachmittag bereiten die Jugendlichen ein Festival vor, das am Abend stattfinden soll: mit Gesangs- und Tanzeinlagen, mit Aufklärung über Drogen und AIDS. Auf der Straße dröhnt bereits jetzt Musik aus einem großen Laut-sprecher. Liz Cardoso, 18, und Gustavo Jimenez, 19, kommen in den Versammlungsraum. Gustavo trägt Shorts und eine Baseballkappe, Liz hat enge Jeans und ein rotes T-Shirt an, auf das ihre dunkle Lockenmähne fällt.

"Unser größtes Problem in diesem Viertel ist, dass es einen schlechten Ruf hat. Wir Jugendlichen aus dem Zentrum versuchen, diesen Ruf zu verbessern. Die Presse berichtet immer nur über die Drogenabhängigen, Dealer und Prostituierten. Wir wollen dieses Image ändern. Denn hier leben viele junge Leute, die arbeiten, die sich in der Kirche oder in Jugendgruppen engagieren, die allein oder mit Hilfe ihrer Familie vorankommen."

Liz hat einen Gelegenheitsjob, sie macht Telefonumfragen. Viel lieber aber würde sie Kriminalistik studieren. Gustavo sucht Arbeit, seit er letztes Jahr das Abitur ge-macht hat.

Die Stadtverwaltung von Asunción ist in einem Hochhaus im modernen Norden der Stadt untergebracht. Davor blühen rosarote Bougainvilleas. Im Wind flattert die blau-weiß-rote Flagge Paraguays. Die hohe Eingangshalle wird von einer Stadtansicht in Schwarz-Weiß und von attraktiven Farbfotos von Asunción dekoriert.

Im ersten Stock befindet sich, hinter einer Glastür, das Büro der Vizepräsidentin der Stadtverordnetenversammlung. Karina Rodriguez hat glattes, blondes Haar, trägt Jeans und ein langärmliges T-Shirt. Auf ihrem Schreibtisch liegen gleich zwei Terminkalender. Die 35-jährige Lokalpolitikerin vom Linksbündnis Frente Guasu hat viel zu tun, seit im Juni ihr politischer Chef, Paraguays Präsident Fernando Lugo, vom Nationalkongress abgesetzt wurde. Schlechte Amtsführung warfen die traditionellen Parteien dem politischen Newcomer vor, der 2008 sechs Jahrzehnten Herrschaft der rechten Colorado-Partei ein Ende gesetzt hatte. Viele Paraguayer sehen Lugos Absetzung als parlamentarischen Putsch. Gewählt wird aber zum vorgesehen Termin im kommenden April.

"Wir arbeiten intensiv für die Wiederherstellung der Demokratie im nächsten Jahr. Aber wir kämpfen auch dafür, dass die Sozialprogramme, die unter Lugos Regierung in Paraguay eingeführt wurden, fortgesetzt, beziehungsweise wieder aufgenommen werden. Die Volksküchen in den Armenvierteln etwa haben seit drei Monaten keine Lebensmittel mehr bekommen. Das bedeutet, dass Hunderte Familien ihr tägliches Mittagessen nicht mehr bekommen."

Traditionell bestimmt Klientelismus die Sozialpolitik in Paraguay: Unterstützung für die Armen im Tausch gegen Wählerstimmen. Unter Präsident Fernando Lugo, sagt Lokalpolitikerin Rodriguez, sei die Hilfe stärker institutionalisiert worden – jetzt befürchtet sie eine Rückkehr der alten Praktiken.

"Viele Arme sind darauf angewiesen, sich mit bestimmten Politikern zu verbünden, um Unterstützung zu erhalten – und zahlen dafür bei Wahlen mit ihrer Stimme. Wir haben den Menschen gezeigt, dass sie ein Recht auf Hilfe haben, dass das eine Politik des Staates sein muss, und nicht ein Gefallen von irgendeinem Minister oder Bürgermeister."

Auf der Fahrt von der Stadtverwaltung Richtung Flughafen ziehen draußen Shopping-Center, Autohäuser, Villen und Hotels vorbei. Im Bus bieten ärmlich gekleidete Verkäufer Obst, Süßigkeiten und sogar Waschpulver zum Verkauf an. Dann taucht rechterhand eine riesige Baugrube auf.

Hier, an der Avenida Aviadores del Chaco, entsteht das Word Trade Center Asunción – ein Bauprojekt, das wie kein anderes den Aufschwung des nördlichen Teils von Paraguays Hauptstadt symbolisiert. 2015 soll der Komplex fertig sein - vier zwanzigstöckige Bürotürme.

Victor Cálcena, dessen Immobilienfirma Capitalis bereits drei Viertel der Büros verkauft hat, ist Anfang vierzig und dunkelblond, in seinem hellblauen Hemd hängt eine verspiegelte Sonnenbrille. Der Unternehmer sitzt in einem Container auf der Baustelle am Planungstisch.

"Wir haben vor Jahren angefangen, diesen Teil von Asunción als Unternehmensstandort zu entwickeln. Wie auch in anderen Großstädten der Welt, gibt es hier eine Verlagerung der Firmen aus dem historischen Zentrum in die Nähe der Villenviertel. Die neuen Investitionen haben das Antlitz von Asunción völlig verändert. Heute ist dies eine andere Stadt als noch vor 15 Jahren, vor allem wegen Paraguays boomender Landwirtschaft. Die meisten Firmen in Asunción sind Soja-Exportunternehmen, gefolgt von Mobiltelefonanbietern."

Eine kleine Schule in einem Armenviertel in Luque, am Stadtrand von Asunción. Hier führt das Zentrum für rechtliche Studien, eine Nichtregierungsorganisation, ein Anti-Korruptions-Projekt durch. Laut Transparency International gehört Paraguay zu den korruptesten Ländern der Welt, und dieses Übel ist eine der Ursachen der Armut. Schon die Kinder sollen sensibilisiert werden - Soledad Rojas spricht mit einer dritten Klasse:

"Wir müssen alle darüber wachen, dass unsere Rechte nicht missachtet werden. Ihr habt ein Recht darauf, jeden Tag hier in der Schule ein Glas Milch und Kekse zu bekommen, und ihr habt ein Recht auf Unterrichtsmaterial. Also müsst Ihr kontrollieren, ob die Milch und die Buntstifte in gutem Zustand bei euch ankommen. Und wenn nicht, habt ihr das Recht, es einzufordern."

Nach der Schulstunde erzählt Soledad Rojas von den korrupten Praktiken bei der Auftragsvergabe des Bildungsministeriums an Firmen, die Schulmilch und Materialien liefern.

"Es gibt immer wieder Probleme mit der Verteilung und der Qualität. Und das verursacht immens hohe soziale Kosten. Denn für die Eltern dieser Kinder bedeutet die Schulmilch, genauso wie das kostenlose Unterrichtsmaterial, einen großen Anreiz, ihre Kinder in die Schule zu schicken."

Und nur durch Bildung, sagt die Mitarbeiterin der NGO, könnten Menschen die Armut überwinden.

In der Redaktion der Zeitung Última Hora im Zentrum von Asunción schreibt Erwin Gomez gerade einen Artikel. Nachdenklich schaut der Lokalreporter von seinem Computer auf.
"Für mich sind die Straßenkinder und die Elendsviertel die Folge von Korruption. Zur Zeit wird in Asunción eine Uferstraße gebaut. Mit dem Geld, das durch Korruption verschwindet, müsste man all den Menschen, die am Fluss leben, woanders ein neues Zuhause schaffen, damit sie nie wieder dorthin zurückkehren."
Der frühere katholische Bischof Fernando Lugo hat die Präsidentenwahl in Paraguay mit 40 Prozent klar gewonnen.
Am 22. Juni 2012 wurde Paraguays Präsident Fernando Lugo nach einem Putsch im Schnellverfahren abgesetzt.© AP
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