Österreichische Geschichte als Familienroman

Rezensiert von Rainer Moritz · 09.09.2005
Schon wieder ein Familienroman! Nachdem im vergangenen Bücherfrühjahr viele Romane – darunter so erfolgreiche wie Eva Menasses "Vienna" – familiäre Strukturen als wunderbares Transportmittel wiederentdeckt haben, um privates und geschichtliches Erleben miteinander zu verknüpfen, zeichnet nun der Österreicher Arno Geiger eine Familiengeschichte über fast siebzig Jahre nach.
Sein Generationenroman "Es geht uns gut" setzt im Jahr 2001 ein, als der Schriftsteller Philipp Erlach das Haus seiner Großeltern in der Wiener Vorstadt erbt. Trotz anfänglichen Widerwillens beginnt Philipp, dessen Freundin ihm eine tiefsitzende "familiäre Unambitioniertheit" nachsagt, sich nach und nach auf die geschichtsträchtigen Annalen seiner Vorfahren einzulassen. Das marode Haus, das von alten Möbeln und Taubenheerscharen in Beschlag genommen ist, löst Erinnerungsschübe aus, und vor diesem Hintergrund breitet Arno Geiger drei Erzählebenen aus, die er geschickt miteinander verschränkt.

Da ist die Epoche seiner Großeltern Alma und Richard, die sich Anfang der 1930er Jahren kennen lernen. Richard, der dem Anschluss durch Nazi-Deutschland feindlich gegenüber steht, macht nach dem Krieg als Minister Karriere und spielt bei den Verhandlungen über den österreichischen Staatsvertrag von 1955 eine wichtige Rolle.

Arno Geiger gelingt es mit erstaunlichem Vorstellungsvermögen und genauem Blick für historische Details, sich in den Alltag dieser Ehe hineinzuversetzen. Das Leben der liebenswürdig selbstständigen Alma, die in ihren letzten Jahren ganz in der Arbeit als Bienenzüchterin aufgeht, gewinnt große Eindringlichkeit, ebenso wie das des Patriarchen Richard, der mit seiner Wertschätzung für "Verantwortungsgefühl, Sorgfalt und Pflicht" mehr und mehr zum einsamen alten Mann wird, zuletzt seine Erinnerungen verliert und im Pflegeheim stirbt.

Ihre Tochter Ingrid, eine selbstbewusste Ärztin, die sich mit dem Vater verbissene Machtkämpfe liefert, markiert den zweiten Erzählstrang. Als Teenager rebelliert sie gegen den biederen Geist der Fünfzigerjahre und lässt sich mit dem jungen Peter Erlach ein, einem Taugenichts in den Augen ihres Vaters. Bald ist Ingrid mit Philipp schwanger und Minister Richard Sterk kommt nicht umhin, dieser Ehe zuzustimmen.

Arno Geigers Roman spiegelt, wie sich die Lebensumstände von den Fünfziger- bis in die Siebzigerjahre verändern, wie Ingrid an traditionellen Geschlechtervorstellungen zu leiden beginnt – ehe ein Unfall, den Arno Geiger meisterlich schildert, ihrem hoffnungsvollen Leben ein jähes Ende setzt.

Arno Geiger, Jahrgang 1968, ist klug genug, die Geschichte dreier Generationen nicht als folgerichtiges Kontinuum zu erzählen. Er weiß um die Fragmentierung der Schicksale, um das Fehlen einer durchgehenden Ordnung. Und dennoch macht sein ironisch "Es geht uns gut" betitelter Roman deutlich, wie sich auch aus Erzählfragmenten ein "Grundstoff" herausbildet, der "Generationen vermengt, zu eingedickter, eingeschrumpfter, ihrer Farben beraubter Familiengeschichte".

Dass die Gegenwartshandlung um den hin und hergerissenen Schriftsteller Philipp, der zuletzt mit dubiosen Gestalten in die Ukraine aufbrechen will, den schwächsten Part dieses Romans ausmacht, überrascht nicht. Die Fantasie waltet umso eindrücklicher, je länger das zu erzählende Leben, dieses "große Hindernislaufen", zurückliegt.

Arno Geiger: Es geht uns gut
Roman. Hanser Verlag, München 2005.
392 S., 21,50 Euro