Ölförderung in Neufundland

Die Krise jagt den Ölboom

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Blick auf die Bucht von Marystown in Neufundland © Deutschlandradio / Kai Clement
Von Kai Clement |
Nirgendwo war in Kanada die Arbeitslosigkeit höher, als in Neufundland - bis dort Öl gefunden wurde. Nun macht der sinkende Ölpreis den Menschen in der Ölregion Sorgen. Schließlich ist sie seit des Booms wirtschaftlich von der Ölindustrie abhängig.
Von der Ölplattform Terra Nova Field rund 350 Kilometer vor der Küste Neufundlands kehrt ein Hubschrauber zurück nach St. John's, der Hauptstadt der kanadischen Küstenprovinz. Der Flughafen bietet nicht nur Passagier-Verbindungen nach New York, Toronto und Halifax an, er fertigt auch Service-Flüge zu den wichtigsten Öl-Fördergebieten ab: Hibernia, White Rose und Terra Nova – gelegen auf den Grand Banks of Newfoundland.
Pech für den Arild Boe: sein Flug wurde gerade wegen schlechter Wetteraussichten gestrichen. Die Ölplattformen liegen in menschenfeindlicher Umgebung. Bedroht durch Wellen, Nebel, Eisberge und Winterstürme mit dem gefürchteten Nor'Easter – einen großflächigen Nordoststurm. Arild Boes norwegische Firma arbeitet auf einer der Ölplattformen vor der Küste.
Der Bürgermeister blickt auf die Bucht. Seine Bucht. Die Bucht von Marystown. Das Örtchen mit nur 6.000 Einwohnern liegt auf einer Landzunge im Süden Neufundlands.
Die Provinz hat sich verrechnet
Jenseits des glitzernden Wassers liegt ein Industriegebiet am Ufer. Die Asphaltfläche mit Hunderten Autos breitet sich wie ein Teppich aus vor hoch aufragenden Fertigungshallen. Daneben stehen Autokräne, liegen Stahlelemente. Für Bürgermeister Sam Synard ist es mehr als eine Industriefläche, es ist der mit Abstand größte Arbeitgeber von Marystown.
Dort unten, sagt Synard, entstehen die Aufbauten für eine Ölplattform vor der neufundländischen Küste. Für die so genannte "Hebron" Plattform des Ölgiganten Exxon Mobile. Das dort unten: es ist ein Arbeitsplatz für 1.200 Menschen. Geplant und investiert wurde in Zeiten eines explodierenden Ölpreises. Sam Synard zeigt auf die orangefarbenen Module, die neben einer der Hallen stehen.
"Die Arbeiten hier können nicht mehr verzögert oder gestoppt werden. Andere Projekte schon. Der gefallende Ölpreis ist eine echte Gefahr für uns."
Neufundland hat für dieses Jahr mit einem Ölpreis von mehr als 100 Dollar pro Barrel gerechnet. Das bedeutet: Die Provinz hat sich verrechnet. Schmerzhaft verrechnet. Die Energieproduktion hat bislang mit einem Drittel zum Budget der Provinz bei getragen. Vor allem die Ölplattformen vor der Küste. Wenn der Preis länger auf dem jetzigen Niveau bleibt, dann, so sorgt sich Synard, ist die Provinz praktisch pleite. So ist das hier, in Neufundland und Labrador, sagt er.
Der 30. April ist kein schöner Tag für Ross Wiseman, den Finanzminister der Provinz. Neuberechnungen wegen der dramatisch gesunkenen Einnahmen durch den Energiesektor haben den Haushalt für dieses Jahr um Wochen verzögert. Jetzt muss Wiseman ein Defizit vorstellen, dass sich seit ersten Prognosen auf inzwischen 1,1 Milliarden kanadische Dollar fast verdoppelt hat.
Zunächst gab es einen Geldsegen
Die Abhängigkeit der Provinz vom Öl hat zunächst zu einem Geldsegen geführt. Den, so kritisiert Earl McCurdy von der Neuen Demokratischen Partei Kanadas NDP, habe die Regierung offenbar als selbstverständlich angesehen.
"Es ist doch eine Verrücktheit, außerordentliche Einnahmen vor allem dank Bodenschätzen zu nutzen, um die ganz normalen Aufgaben einer Regierung zu bezahlen. Genau das aber ist hier in den vergangenen Jahren passiert. Und das rächt sich jetzt."
Es rächt sich in Form von Sparmaßnahmen. Eine Sparmaßnahme: die Provinzregierung will künftig nur acht von je zehn freiwerden Stellen im öffentlichen Dienst nachbesetzen.
"Mit dem Haushalt 2015 werden wir mit diesem fünfjährigen Programm beginnen. Damit bauen wir im öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2020 insgesamt 1.400 Stellen ab. Im Ergebnis sparen wir 300 Millionen Dollar. Das ist ein Metallschneider. Für Stahl. In einer Stärke bis zu etwa zweieinhalb cm."
Wer in Marystown Aufbauten für Ölplattformen fertigen will, der kann sich in Burin ausbilden lassen. Ein Örtchen, noch kleiner als Marystown – nur halb so groß - aber mit einem Community College. Einer Mischung aus Berufs- und Fachhochschule. Verwaltungschef Stephen Warren führt durch die Metallwerkstatt. Es riecht nach Öl, nach Schweißarbeiten - aber auch ein bisschen nach Meeresbrise. Das nach draußen führende Rolltor ist weit geöffnet. Im College fürchtet man die rückläufigen Investitionen der Ölindustrie, denn man hat sich ganz auf deren Bedürfnisse eingestellt.
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Eingang des "College of the North" – die Akademie des Nordens – in Marystown© Deutschlandradio / Kai Clement
Das so genannte College of the North – die Akademie des Nordens – hat 17 Standorte verteilt über die ganze Provinz von Neufundland und Labrador. Verwaltungschef Stephen Warren sagt, über die vergangenen 15 Jahre sei die Nachfrage nach ausgebildeten Mitarbeitern geradezu durch die Decke gegangen.
Und nun? Krisenstimmung? Als staatlich finanzierte Bildungseinrichtung blicke man mit Sorge auf das riesige Defizit der Provinz, sagt Warren. Welche Folgen werden Sparmaßnahmen und Stellenkürzungen für das College haben? Die Frage bleibt unbeantwortet. Auch die berufliche Perspektive für all die Studentinnen und Studenten des laufen Ausbildungsjahres.
"Der Preisverfall beim Öl – den gibt es seit ein paar Monaten. Unsere Studenten haben sich im September eingeschrieben. Das hat sich noch nicht ausgewirkt."
Die Menschen hier an der Ostküste, sagt Kevin Brenton, seien immer schon abhängig gewesen. Seine Geschichte – das ist die Geschichte von dem anderen Ölboom Neufundlands. Einem Ölboom, der sich tausende Kilometer weiter westlich abspielt: in den Teersandgebieten der Provinz Alberta.
Es ist ein teurer und aufwändiger Förderprozess. Teersande werden auf riesigen Flächen abgebaut, so groß, dass sie auf Satellitenbildern aus dem All zu erkennen sind. Dann wird mittels eines Heißwasserverfahrens Öl daraus gewonnen. Nicht nur Kosten- und Energieaufwand sind hoch – sondern auch der Personalaufwand. Und das in einer Region, in der im Schnitt nur sechs Menschen pro Quadratkilometer wohnen.
Allein im Februar 7.000 Stellen verloren gegangen
Aus manchen Neufundländern sind so Berufspendler über tausende von Kilometern hinweg geworden. Kevin Brenton war einer von ihnen. Nur das Einkommen sei gut gewesen, sagt er. Alles andere... Tja - darüber kann er nur lachen.
Kevin Brenton nennt geheimnisvolle Zahlenkombinationen: Manchmal 21-7. Auch schon mal 14-7: Das steht für drei Wochen Knochenarbeit in den Teersanden von Alberta, eine Woche Rückkehr an den Atlantik, nach Neufundland, Erholung. Familienleben. Freunde. Beim Rhythmus 14-7 ist die Arbeitsphase nur zwei Wochen lang.
"An Arbeitstagen muss man morgens um fünf aufstehen. Bei minus 40 Grad im Winter. Mir hat das nicht gefallen. Nur Arbeiten, Essen, Schlafen. Arbeiten, Essen, Schlafen."
Mit seinen Studenten arbeitet Kevin Brenton an einer Pumpe, die aus der Energie von Wellen Strom erzeugt, wie Stephen Warren vom College erläutert
"Das ist ein nationales Forschungsprojekt. Wir bauen ein Wellenkraftwerk. Wir werden dann sozusagen die Energie der Wellen mittels einer Art Pumpe ernten. Das wird Strom für die Küsten erzeugen. Wir haben ein Modell gebaut und getestet. Und jetzt bauen wir das Kraftwerk hier in dieser Werkstatt, um es binnen der nächsten drei Monate einzusetzen."
Erneuerbare Energie statt der umweltpolitisch hoch umstrittenen Teersandförderung in Alberta. Dort müssen die Unternehmen zwar alle Abbaugebiete wieder renaturieren. Kevin Brenton aber hat, nachdem er das Ausmaß der Zerstörung in Alberta gesehen hat, Zweifel, dass das jemals geschehen wird, geschehen kann. Sieben Stunden dauerte der Flug damals für ihn nach Alberta. Alles vom Arbeitgeber bezahlt.
"Ich habe vier Brüder und zwei Schwestern. Sehe sie aber kaum. Es fehlt einfach die Zeit. Sie sind zu müde. Bis dieser Ölboom einmal zu Ende geht, alles wieder normal wird. So ist das halt. Die Wahl ist: Festessen oder Hunger, alles oder nichts."
Noch ist der Boom nicht zu Ende. Die Ölförderung hat Hochkonjunktur. Das Überangebot aber ruiniert die Preise. Wegen der hohen Förderkosten leidet besonders die Teersandindustrie Albertas. Kanadas Statistiker schätzen, dass allein im Februar in Albertas Öl- und Gasindustrie 7.000 Stellen verloren gegangen sein dürften. Bereits zu Jahresanfang habe das Unternehmen Suncor 1.000 Mitarbeiter entlassen habe, sagt Kevin Brenton. Deshalb machten sich die Menschen so große Sorgen.
Eine Tankstelle. Ein Café - der Doughnut-Kette Tim Hortons, gegründet von, wie könnte es in Kanada anders sein, dem gleichnamigen Eishockey-Spieler. Der unvermeidliche McDonald's. All das säumt die Straße zurück in Marystown. Den Columbia Drive entlang und dann auf den Ville Marie Drive – nach nur ein paar Fahrminuten ist die Marystown Mall erreicht
Sorgen der Menschen sind schlecht fürs Geschäft
Ein kleines Einkaufszentrum. Vielfältig ist die Auswahl nicht, aber es gibt den Supermarkt Sobeys, eine Bank, Chalky's Billiards inklusive voll lizensierter Bar – also mit Alkoholausschank - und Young Street Sports: das Geschäft von Ross Drake.
"My name is Ross Drake..."
Schuhe, Sportsachen und Bekleidung in einem weitläufigen Raum - zugestellt mit Kleiderständern. Bis zur Kasse ganz hinten links in der Ecke muss man einen Slalom um Polo-Shirts und Khaki-Hosen absolvieren. Vor zwölf Jahren hat er sein Geschäft in der Mall eröffnet. Die Region kennt er allerdings schon seit 25 Jahren – also seit den 90ern, als die Arbeitslosigkeit in der Region noch ihren Höhepunkt hatte. Für ihn ist es offenkundig: dass die Menschen in Marystown beunruhigt sind.
"Ich habe mit vielen gesprochen, die sich Sorgen um ihre Jobs im Westen machen. Die fürchten, ihre Arbeit zu verlieren. Da es der Ölindustrie schlechter geht - wegen des niedrigen Ölpreises."
Ross Drake zeigt den Lagerraum seines Geschäfts. Hinter einer unscheinbaren Seitentür der Mall stapeln sich Kartons über Kartons. Die meisten, so zeigt es der Aufdruck, aus Fernost, wie so oft in der Bekleidungsindustrie. Ross Drake setzt sich an einen kleinen Pausentisch in der Ecke des Lagers. Menschen, die sich Sorgen machen: Das ist schlecht fürs Geschäft.
"Absolut. Wir beobachten das. Und erwarten einen wirtschaftlichen Rückgang. Wir müssen unsere Produkte mit einem Jahr Vorlauf bestellen. Und da kürzen wir gerade einiges. Wir ordern etwa 20 Prozent weniger."
Ross Houlihan arbeitet für das Örtchen Torbay im Norden der Provinzhauptstadt St. John's. Seine kleine Rundfahrt führt – ins Nichts. Hier endet unsere geteerte Straße, sagt er.
Ein Wohnbauprojekt in seiner Kommune, die in den vergangenen Jahren ein Einwohnerwachstum von 200 Prozent erlebt hat.
"Wir werden die Wintersaison abwarten müssen, um zu klären, ob Investoren überhaupt noch diese Wohnprojekte weiter verfolgen werden."
Ein Gemeindezentrum für Torbay, eine Kläranlage, die Wasserversorgung – alles, was als sicher galt – in den Jahren hoher Ölpreise – es wird nun hinterfragt.
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