Ökonomie

Das Ende des Wachstums (1/2)

Von Gerhard Richter · 20.03.2014
Maßhalten als persönlicher Gewinn: Für immer mehr Menschen bedeutet ein Leben mit Weniger ein Mehr an Lebensqualität. Das Gewissen und der Planet profitieren davon auch.
Hartmut Zinser: "Ich bin davon überzeugt,dass Askese ein grundlegend menschliches Phänomen ist, gar nicht spezifisch aus Kulturen oder Tradition entstammt. Denn durch Askese befreit man sich von dem unmittelbaren Zwang, auf Erscheinungen oder Anforderungen zu reagieren."
Hartmut Zinser Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin.
"Und das ermöglicht eine Distanz zum Gegenstand, und ein Denken über den Gegenstand. Und diese Distanz zum Gegenstand können Sie beobachten bis zum den frühesten Zeiten hinein, sobald wir überhaupt Berichte haben oder man das konstruieren kann."
Auch heute ist Askese noch in vielfältigen Formen zu finden, meistens als zeitlich begrenztes Fasten. Jeder zehnte Erwachsene in Deutschland hat sich in diesem Jahr vorgenommen, in der Fastenzeit auf etwas zu verzichten. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur. Mehr als die Hälfte der Befragten nennt dafür gesundheitliche Gründe. Fast ebenso viele wollen sich und anderen beweisen, dass sie von bestimmten Gewohnheiten lassen können. Zwanzig Prozent verzichten aus grundsätzlicher Kritik an der Konsumgesellschaft. Besonders in den christlichen Traditionen ist Fasten immer noch fest verwurzelt.
Die Glocken der Heilig-Geist-Kirche in Kyritz rufen zum Gebet. Wie in ganz Deutschland wird auch in der brandenburgischen Kleinstadt Aschermittwoch begangen, der alljährliche Beginn der christlichen Fastenzeit. Pfarrer Markus Hahn segnet ein Häufchen feine Asche und zeichnet damit allen Gläubigen ein Kreuz auf die Stirn. Dabei spricht er die dazugehörige Formel:
"Bedenke, oh Mensch, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehrst."
Eine Gläubige meditiert in einem Meditationraum eines Exerzitienhauses des Klosters Siegburg in Siegburg
Eine Gläubige meditiert in einem Meditationraum eines Exerzitienhauses des Klosters Siegburg in Siegburg© picture alliance / dpa
Die Fastenzeit als Übung des Loslassens
Dieser Satz und das Aschekreuz erinnern an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.
Hahn: "Und so wird dem Menschen klar, dass er hier auf Erden nur eine begrenzte Zeit hat. Dann ist eben diese Zeit abgelaufen, und es gilt eben, diese Zeit zu nutzen. Wirklich intensiv zu leben und das Richtige zu tun. Das wird einem durch dieses Aschenkreuz wieder deutlich gemacht."
Intensiv zu leben, sagt Markus Hahn, bedeutet aber nicht, seiner Gier nachzugeben. Im Gegenteil: Das Aschekreuz erinnert daran, dass man ja nichts mitnehmen kann in den Tod. Die Fastenzeit sei eine Übung des Loslassens zu Lebzeiten.
"Die Güter, die uns hier so vor Augen gestellt werden – muss ich ja alles zurücklassen, hier in dieser Welt. Zum einen macht uns das dankbarer, wenn man auf manche Sachen verzichtet und dann weiß, nach der Fastenzeit oder am Sonntag, kann ich das und das wieder mal essen. Dann esse ich das bewusster und auch mit mehr Dankbarkeit gegenüber Gott. Das ist schon mal gut fürs Fasten."
Verzicht auf Fleisch, Alkohol – und Schuldgefühle
40 Tage lang, vom Aschermittwochsläuten bis Ostern, sind die Christen angehalten, auf etwas zu verzichten. So wie Jesus vierzig Tage in der Wüste gefastet hat, als Vorbereitung seiner öffentlichen Auftritte, oder wie der Religionsstifter Moses, der ebenfalls 40 Tage lang am Berg Sinai gefastet hat. Auch die rund vier Millionen Moslems in Deutschland haben ihre Fastenzeit, den Ramadan, der etwa einen Monat dauert. Während dieser Zeit sind Muslime angehalten, zwischen Tagesanbruch und Sonnenuntergang zu fasten. Kein Essen, kein Trinken, kein Rauchen – und keinen Sex: klare Fastenregeln aus dem Koran. Die Katholiken in Kyritz nehmen für die nächsten vierzig Tage eher individuelle Fastenvorsätze mit nach Hause.
"In unserer Familie, wir haben drei kleine Kinder, da machen wir gemeinsam – auf die Süßigkeiten verzichten. Das Klassische. Eine volle Mahlzeit und zwei ärmere Mahlzeiten am Tag – und tut uns gut. Wir verzichten eigentlich auf gutes Essen, auf das reichliche Essen und vor allem auf Süßigkeiten … ist bei mir, weil mir das sehr schwerfällt. Der Freitag, der wird fleischfrei für die Familie."
Laut der Umfrage von YouGov sind die beliebtesten Objekte des Verzichts in diesem Jahr: Süßigkeiten, Alkohol, Fleisch und Tabak. Gefolgt von Handy, Kaffee, Fernsehen und Sex. Die Potsdamerin Ulrike Bleyl hat sich ein ganz anderes kurioses Objekt ausgesucht, sie probiert, unerwünschte Gefühle zu fasten.
"Kann man nicht eigentlich in der Fastenzeit, wo man auf Alkohol oder auch Fleisch verzichtet bis Ostern, kann man dann nicht auch auf Schuldgefühle verzichten. Und so fing das an. Und dann hab ich mal ein paar Tage auf Probleme verzichtet. Das war so mein Einstieg."
Schon seit drei Jahren beschäftigt sich Ulrike Bleyl in der Fastenzeit mit dem Verzicht auf Probleme. Mittlerweile ist sie nicht mehr allein, rund fünfzig Leute treffen sich regelmäßig in einer Fastengruppe und versuchen, ihre unerwünschten Gefühle weg zu fasten.
"Zum Beispiel hat eine Frau gefastet – Zerstreutheit hat sie es genannt –, dass sie die vielen Termine, die sie in ihrem Leben hat, benutzt, um eine Ausrede zu haben, warum sie leider nicht an jeden Geburtstag denken kann und doch immer zu spät kommt, komplett Dinge vergisst, die sie mitbringen wollte. Und sie hat es mal gefastet, und ist sich selber mal auf die Schliche gekommen mit ihren Ausreden, wo sie auch zu feige ist, Verantwortung zu übernehmen."
Ein anderer Teilnehmer hat "Diplomatie" gefastet und nach einer Woche aufgegeben.
"Und er ist mit dem Resultat rausgegangen: Er ist nicht konfliktfähig. Also das kann wirklich sehr überraschend sein."
Die Lust am Verzicht entdeckt
Auf etwas Gewohntes zu verzichten, sagt Ulrike Bleyl, sei ein Abenteuer. Darin liege auch ein Teil der Faszination.
"Das ist wie eine Reise. Und dann ist die See mal stürmischer und mal nicht, und am Ende kommt man nicht im Hafen an, im alten, sondern das ist wirklich wie in so einer neuen Kindlichkeit, dass man wieder so ein Stück weit unschuldig wird."
Emotionen fasten ist sicherlich eine exotische Variante, aber es zeigt, dass die Lust am Verzicht immer neue Formen und Objekte sucht und findet. Ariane Krüger zum Beispiel isst seit sechs Jahren nichts Gekochtes. Auch keine Milch, kein Brot, nur Rohkost. Dafür entdeckt die 27-Jährige aber Früchte und Gemüse, die sie bis dahin noch gar nicht kannte.
"Die haben mich so richtig in Ekstase versetzt zur geschmacklichen Ekstase. Mein Körper hat sich total gereinigt. Erst hatte ich sechs Wochen so ganz viel Ausschlag und Pickel und so. Und danach hatte ich eine total glatte Haut und glänzende Haare und dachte, na so sah ich ja noch nie aus, vielleicht als Baby oder so. Das war erst mal total toll. Und genau: Und der Geist hat sich total geklärt."
Ariane Krüger geht nicht mehr ins Restaurant, nicht in eine Kantine, nicht zum Imbiss. Wenn sie verreist, nimmt sie ihr Essen mit. Partys meidet sie und kapselt sich mehr und mehr ab. Ihre Essgewohnheit, ausschließlich Nahrung zu sich zu nehmen, so wie sie aus der Natur kommt, macht sie für viele zum Sonderling.
"Manche haben einfach nur gefragt, waren interessiert, okay. Andere waren dann so, die haben gesagt, man kann sich doch nicht von so was ernähren, das ist doch Kaninchenfutter. Und so Sachen. Da hab ich den Verzicht nicht gemerkt, aber ich hab gemerkt, ich eck irgendwo an."
Ein Trend zum individuellen Verzichtsabenteuer
Ariane Krüger und Ulrike Bleyl haben ihre Verzichts-Erfahrungen aufgeschrieben und veröffentlicht. Für den Soziologen Wolfgang Ullrich sind das nur zwei Beispiele eines neuen Trends. Er entdeckt immer öfter Berichte von solchen individuellen Verzichtsabenteuern.
Ullrich: "Also, wenn man ein Jahr keine in China produzierten Produkte konsumiert. Wenn man ein Jahr lang gar nichts mehr, was Markennamen trägt, konsumiert. Wenn man vielleicht im Extremfall ganz auf Geld verzichtet, und versucht, rein in einer Tauschwirtschaft weiterzuleben."
Leben ohne Geld, ohne Fleisch, ohne Auto. Solche Pioniere beschreiten Wege, die unsere Gesellschaft mit ihren angeblichen Notwendigkeiten und Konsumzwängen infrage stellen. Manche dieser Bücher, sagt Wolfgang Ullrich, sind überraschend erfolgreich.
"Diese ganzen Hürden, die man sich da aufbaut im Alltag und diese ganzen Paradoxien, in die man gerät, diese ganzen peinlichen Situationen und schwierigen Situationen, in die man gerät, die scheinen ein großes Publikum zu faszinieren. Und das zeigt natürlich in der Kehrseite, wie zentral der Konsum in unserer Welt geworden ist, dass viele sich gar nicht vorstellen können, wie will man ein Jahr ohne das und das leben, und umso neugieriger sind sie, wie jemand es trotzdem geschafft hat."
Der Asket als gefeierter Held
Ohne ein Auto zu leben, kann mehr Bewunderung auslösen, als ein tolles Auto zu besitzen. Durch Verzicht bringt man also bewährte Konsummuster ins Wanken. Manche irritiert das, andere sind voller Bewunderung und fühlen sich ermuntert, das auch zu probieren
Ullrich: "Hier wird der Verzicht auf Konsum schon zu einer Art von Statussymbol, könnte man sagen oder er hat das Zeug dazu, zu einem Helden zu werden in einer Konsumgesellschaft. Also wer das schafft, ohne gewisse Dinge auszukommen, ist ein Held."
Der Asket wird als Held gefeiert, weil ihm eine Verzichtsleistung gelingt, die andere nicht zustande bringen. Dabei hatte das Wort "Askese" früher eine ganz andere Bedeutung, sagt Alexandra Stellmacher. An der Freien Universität Berlin erforscht sie am Institut für Religionswissenschaft die ursprünglichen Formen der Askese.
"Das Wort Askese leitet sich ja vom Wort Begriff Askesis her, was Übung bezeichnete, und zuerst fand das Wort aber als Verb Gebrauch. Schon bei Homer, der damit aber was anderes meinte, als das was wir heute darunter verstehen, nämlich einen Gegenstand kunstvoll zu bearbeiten oder zu schmücken oder einen Gegenstand zu schmücken. Gerade in Bezug auf Handwerk wurde das Verb gebraucht. Und 250 Jahre später dann bei Pinda und bei Herodot wurde es zum ersten Mal im Sinne von 'sich in etwas üben', verwendet. Sowohl geistig – also sich in der Tugend üben –, als auch körperlich im Sinne von: für den Kampf oder in einer Disziplin der Athletik üben."
Vorbilder Sokrates und Pythagoras
Die frühesten Zeugnisse von Verzicht findet man in der griechischen Antike. Bis heute bekannt ist Sokrates, der nur ungern in seinem Beruf als Steinmetz arbeitete und lieber zum Markt ging Passanten in Gespräche verwickelte oder sich stundenlang in seine Grübeleien versank. Das eifrige Treiben, das Streben der Menschen nach allerhand irdischen Gütern schien ihm unnütze Zeitverschwendung. Angeblich soll er angesichts der Fülle der Waren auf dem Markt einmal ausgerufen haben:
"Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf."
Und Pythagoras, der ja eher für die Formel zur Berechnung des Dreiecks bekannt ist, hat ebenso strikt das Gesetz der fleischlosen Ernährung vertreten. Ein früher Vegetarier. Speisevorschriften waren überhaupt schon immer sehr verbreitet. Egal ob Christen, Moslems, Juden oder Hindus. Jede Religion hat darüber verfügt, wer wann was essen darf –und vor allem, wann was nicht.
Zinser: "Und die dienten der Abgrenzung gegenüber anderen und der gewissen Identitätsstiftung. Also: Das Schweinefleischverbot heißt, man kann sich mit Leuten, die Schweine essen, nicht zusammensetzen und zusammen speisen. Und damit werden Gruppen gebildet und Abgrenzungen vorgenommen von innen und außen, und da spielen Speiseverbote eine sehr große Rolle."
Spezielle Verzichtsregeln für Würdenträger
Auch innerhalb einer Kultur oder Religion können unterschiedlich strenge Verzichtsregeln die Grenzen zwischen normalen Menschen, Priestern und Würdenträger markieren. Ein Beispiel aus dem antiken Rom:
Zinser: "Der römische Flam Deales, das ist der Priester des höchsten Gottes, der durfte keine Arbeit sehen, da durfte nicht auf Reisen gehen, der durfte nicht mit Waffen zu tun haben und vieles andere mehr. Und wir haben gleichzeitig auch im antiken Rom die vestalische Jungfrau und deren oberstes Gebot es war, keusch zu leben. Sie wurden mit sechs, sieben Jahren gegriffen, und hatten dann 30 Jahre lang den Dienst an der Göttin zu erfüllen. Und ein schlimmes Verbrechen war es, wenn sie beim Sexualverkehr angetroffen oder ihnen nachgewiesen wurde, dann wurden sie lebendig begraben."
Hartmut Zinser kennt dutzende solcher Beispiele aus allen vergangenen und aktuellen Religionen der Welt. Und es fällt auf: Je höher die Funktion, desto schärfer werden die Regeln. Je weniger man sich also den menschlichen Bedürfnissen hingibt, desto gottähnlicher wird man.
Zinser: "Ich glaube es ist eine Vorstellung der Reinheit. Man darf sich der Gottheit und ihrem Dienst nur rein nahen. Und was ist rein? Natürlich gewaschen, ganz klar. Aber dann geht es nicht nur um äußerliche Reinheit, sondern auch um moralische Reinheit. Es gibt viele genealogische Gesellschaften, die den Kriegern, die zum Töten ausgeschickt waren und zurückkamen Übergangsphasen einräumten, in denen sie sich reinigen mussten von dieser Schuld. Und ich denke, diese Reinheitsvorstellungen führen dann praktisch zur Askese oder tragen zu einer Askese bei. Reinheitsvorschriften lassen sich überall im Verhältnis zum Heiligen beobachten."
40 Tage auf Knien und ohne Nahrung
In dem Dorf Kozan in der heutigen Türkei wird im Jahre 389 nach Christus einer der einflussreichsten Asketen der Geschichte geboren. Symeon wird christlich erzogen und hütet die Schafe seiner Eltern, genauso wie seine biblischen Vorbilder Jakob, Josef, Moses oder David. Schon als junger Mann sucht Symeon die Nähe zu Gott, indem er sich Dauerqualen aussetzt. Mehrere Zeitgenossen haben detailliert beschrieben, wie Symeon seine Karriere als Asket begonnen hat.
Alexandra Stellmacher: "Dass Symeon eben zwei Jahre bei Asketen in seiner Nachbarschaft gelebt hat. Dort sich bereits dem 21-tägigen Fasten gewidmet hat und tagelang im Gebet stand und kniete. Danach ging er wohl zehn Jahre in ein Kloster. Er wurde des Klosters verwiesen, weil er sich zu extremen Praktiken widmete, zum Beispiel dem vierzigtägigen Fasten vor Ostern, dass er wohl auch kniend durchführte. Nachts stand er, er schlief nicht. Er widmete sich also auch der Schlafbegrenzung, eine besondere Form der Askese und nahm nur einmal wöchentlich Essen zu sich."
Für Alexandra Stellmacher ist Symeon eine ideale Forschungsfigur, weil er in der Spätantike den Begriff des Säulenheiligen geprägt und gleichzeitig auch den Begriff der Askese als extreme Verzichtsform neu definiert hat. Er lebte auf der Plattform auf der Spitze einer Säule und ließ sich die wenige Nahrung, die er brauchte, hinaufreichen.
"Er stand auf einem Berg, 50 Meter entfernt von einer stark befahrenen Handelsstraße. Und war von dort aus sehr gut sichtbar. Und gerade dann als er seine Säule bestieg. Zunächst war die wohl nicht so hoch, zwei bis fünf Meter, aber wurde sukzessive erhöht bis zu 18 Metern. Und da war er natürlich als Ikone dort sehr gut sichtbar und zog die Pilger an und Neugierige wie so zu einem Spektakel der Spätantike."
Die Vernachlässigung der körperlichen Bedürfnisse führt bei Symeon zu allem anderen als zu einer engelhaften Erscheinung. Sein ausgezehrter Körper ist ungewaschen, seine Wunden eitern und sind von Wanzen und Würmen bevölkert. Symeon verströmt einen grauenhaften Geruch, der nur zu ertragen ist, weil die Säule so hoch ist. Trotzdem gilt Symeon als überragendes Vorbild für Standhaftigkeit.
Zauberkräfte durch Fasten
Wer wie Symeon seinen Körper und Geist diszipliniert, der möchte oft Gott ähnlicher werden.
Stellmacher: "Das gilt nicht nur fürs Christentum, dass sich durch asketische Bemühungen eine Erhöhung der Kräfte versprochen wird. Also es ist überliefert, dass ich durch langes Fasten und andere Enthaltsamkeit Zauberkraft gewonnen hätten oder die Gabe der Weissagung, der Prophetie, eben ein besonderes Charisma sich erarbeitet haben. Und das ist ein Beweggrund, der eben auch im Hinduismus oder in anderen Religionen durchaus eine Rolle spielt."
Symeon hat als Säulenheiliger eine Tradition begründet, die noch bis ins 19. Jahrhundert reichte und dann erstarb. Die heutige Form der Askese ist eine sehr abgeschwächte Form dessen, was Symeon praktizierte.
Stellmacher: "Man kennt das ja aus den Medien: Sehr erfolgreiche und gestresste Menschen, die privat das einfache Leben suchen und lieben, Sport treiben und sich natürlich von gewissen Genussmitteln auch enthalten, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken oder keine Schokolade essen oder was auch immer, um den Körper zu stärken. Sie üben sich in geistiger Wachheit, machen zum Beispiel auch Fastenurlaub oder Selbsterfahrungskurse. Also sie streben wieder eine geistige und körperliche Vitalität an."
Der Verzicht wird zum Wachstumsmotor
Die Askese hat die Welt nicht weiter verändert. Sehr viel weitreichender war dagegen eine andere Form des Verzichts, die sich im 16. Jahrhundert in Europa etablierte.
Zinser: "Es gab dann in der Reformation die Calvinisten, also Anhänger Calvins, die zwar in der rastlosen Arbeit den wahren Gottesdienst sahen, aber nicht im Genuss."
Was für den Einzelnen eher unspektakulär war, bewirkte in der Menge eine enorme wirtschaftliche Transformation, sagt Hartmut Zinser. Denn was die Calvinisten nicht brauchten, das investierten sie als Kapital in neue Produktionsmöglichkeiten.
"Und deshalb – die These von Max Weber – führten sie zu dem, was heute Kapitalismus heißt. Weil sie zwar arbeiteten, aber das Geld nicht ausgaben, keine Repräsentationskosten machten und auch in der Regel sparsam lebten."
Demnach liegen in einer religiös begründeten Verzichtsleistung die Wurzeln unserer modernen Überflussgesellschaft. Kohle, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Elektrizität, Fließbänder, Telefon, Plastik, Marketing, Kunstdünger, Konsumkredite. Die industrielle Revolution um 1800 und die sogenannte große Beschleunigung in den 1950er-Jahren haben die Produktionsmöglichkeiten vervielfacht. Wachsende Wellen an Gütern schwappen in alle Erdteile, angekündigt von glitzernden Schaumkronen aus Werbung. Die Folgen dieser rasant gewachsenen Wirtschaft verändern den Planeten gravierend, sagt Reinhold Leinfelder vom Rachel Carson Center in München.
Plantare Leitplanken gegen den ungebremsten Konsum
"Dort gehen die Atmosphärengase extrem stark nach oben, die Ozeanstruktur verändert sich zunehmend. Die Biodiversität nimmt in katastrophal schneller Geschwindigkeit ab. Die Bevölkerung hat zugenommen, das Wirtschaftswachstum – was wir ja leider immer noch im Bruttosozialprodukt messen – hat enorm zugenommen. Der Verbrauch von Land, die Städte haben sich ausgedehnt, aber auch der Papierverbrauch oder die Ausbreitung von Fast-Food-Restaurants, alles das hat in dieser Zeit unglaublich zugenommen."
Längst ist klar, dass der weltweite Verbrauch von Ressourcen und der Konsum an Grenzen gestoßen ist. Reinhold Leinfelder fordert daher ein Ende des ungebremsten Wachstums und eine sinnvolle Begrenzung der globalen Stoffströme. Er und viele seiner Kollegen sprechen in diesem Zusammenhang von Leitplanken.
"Wir sagen eben, wir müssten Leitplanken, planetare Leitplanken, noch ernster nehmen oder überhaupt erst aufstellen. Einer der Leitplanken ist das zwei Grad Ziel, das Klimaziel. Aber auch für Biodiversität für Phosphoreinleitungen, alle diese Dinge, für Landnutzung bedarf es solcher Leitplankensysteme als Orientierung."
Die Forschung kann solche Leitplanken zwar formulieren, auf der politischen Ebene sind sie aber nur schwer als Verbote durchsetzbar. Weder national noch international. Selbst auf den Klimakonferenzen können die Vertreter der Industriestaaten das zwei Grad Ziel nicht wirklich umsetzen, weil kaum eine Nation bereit ist, freiwillig weniger fossile Brennstoffe zu verbrauchen. Auch in Deutschland ist der CO2-Ausstoß in den letzten Jahren gestiegen. Bleibt als praktikable Alternative vorerst nur der freiwillige Verzicht der Verbraucher, der Konsumenten, der Bewohner dieses Planeten, findet auch Reinhold Leinfelder, der die Bundesregierung in Fragen der globalen Veränderung berät.
"In dem man sich nicht mehr so auf die da oben und die da drüben und die in Übersee verlässt, sondern wirklich sagt, was machen wir denn? Wo setzen wir überall an? Natürlich bei der Bildung, bei neuen Geschäftsmodellen, bei der Akzeptanz, dass teilweise weniger mehr ist. Da muss sich jeder auch selbst am Schopf natürlich packen."
Brauchen wir für diese Neuorientierung wieder Vorbilder? Säulenheilige wie Symeon, die uns mit ihrem persönlichen Askesebeispiel den Weg leuchten? Oder gibt es sie schon?
Eine Ökonomie ohne Wachstum
Niko Paech: "Wir leben im Moment so brutal über unsere Verhältnisse, dass wir uns ständig davon ablenken müssen. Weil das ist auch ein Grund dafür, dass wir heute in modernen Gesellschaften so viele Antidepressiva brauchen. Oder dass wir eine so hoch beschleunigte Welt der Mobilität, der Telekommunikation oder des Konsums haben, weil wir Angst davor haben, zur Besinnung zu kommen. Weil uns dann nämlich klar würde, dass das Leben, das wir führen, überhaupt nicht zukunftsfähig, überhaupt nicht darstellbar ist."
Niko Paech hat mit der Postwachstumsökonomie eine zukunftsfähige Vision entwickelt, in der die Menschen weniger Arbeiten, weniger verdienen und weniger verbrauchen.
"Um sich auf das zu konzentrieren, was dann tatsächlich bei uns glücksstiftend Momente auslösen kann oder was für uns einen gewissen Nutzen hat."
Er selbst lebt das vor: Er hat kein Auto und kein Smartphone. Zu seinen Vorträgen in ganz Deutschland reist der Volkswirt mit dem Zug. Flugreisen lehnt er ab. In seiner Heimatstadt Oldenburg fährt er Fahrrad.

"Zunächst einmal gibt es in meiner Konzeption der Postwachstumsökonomie nirgends den Begriff des Verzichts, sondern es geht um die Befreiung vom Überfluss. Es geht darum, uns freizumachen von Gütern, die sowieso keinen besonderen Nutzen mehr für uns haben, die zweitens viel Geld kosten und die drittens auch noch ökologische Ressourcen beanspruchen."
Persönlicher Beitrag zum Zwei-Grad-Ziel
Dafür verspricht das ökonomische Modell von Niko Paech mehr Zeit und vor allem mehr Verantwortung. Jeder Mensch, wenn er oder sie nicht über seine Verhältnisse leben will, darf eben nur noch ein bestimmtes Kontingent an ökologischen Ressourcen in Anspruch nehmen. Bezogen auf den Klimaschutz hieße das, jeder darf nicht mehr als 2,7 Tonnen CO2 pro Jahr verbrauchen – durch Autofahren, Heizen, Flugreisen oder ressourcenfressende Güter wie Rindfleisch. Das wäre zum Beispiel die ganz persönliche Klimaleitplanke für das Zwei-Grad-Ziel. Eine echte Herausforderung, denn jeder Deutsche verbraucht derzeit im Schnitt 10,6 Tonnen CO2 pro Jahr. Wer es schafft, innerhalb der Leitplanke zu bleiben, der belohne sich letztlich selbst, sagt Niko Paech.
"Ich glaube, es ist ein verdammt gutes Gefühl, sich nicht selber belügen zu müssen. Sich nicht selber vormachen zu müssen, dass man ein verantwortbares Leben führt, wenn man dann doch mehr als 2,7 Tonnen CO2 hat. Und ich glaube, dass das wirklich auch eine wirklich gute Sache ist, auch emotional, mit sich selber in Einklang zu sein. Wirklich sagen zu können, ich weiß, was die ökologischen und sozialen Folgen meines Lebens sind."
Die Mehrheit der Deutschen ist von so einer inneren Haltung noch weit entfernt. Das Umweltbundesamt hat in einer Studie die Gründe für verschiedene Konsumhandlungen untersucht. Egal ob Möbelkauf, Auto, Waschmaschine oder Fernreise, die ökologischen und sozialen Folgen spielten bei der Entscheidung eine untergeordnete Rolle, das entscheidende Kriterium bei der Auswahl war fast immer der Preis. Für den Soziologen Wolfgang Ullrich ist das ein Grund, warum Discounter so beliebt sind. Es nicht nur kleine Preise, sondern auch ein drastisch reduziertes Ambiente.
Askese beim Discounter
"Da steht alles noch in seinen Kisten auf den Europaletten und man hat das Gefühl, ja da wird mit meinem Geld, das ich ausgeben muss, jetzt nicht Schnickschnack gemacht. Da kriege ich auch die reine Ware. Das ist also auch eine Form von Askese, auf jeden Fall in der Inszenierung von Konsumwelten."
Wolfgang Ullrich stützt sich dabei auf die Ergebnisse des englischen Konsumethnologen Daniel Miller. Miller hat Kunden von Discountern zu ihrem Einkauf befragt. Die allermeisten gaben an, Sparen sei ihnen wichtig:
Ullrich: "Man verhält sich sozial, man gibt nicht alles Geld, was für die Familie da ist, für sich aus. Man denkt an die ganze Familie, man denkt vor allem an die Zukunft. Weil man weiß: Das Geld, das ich jetzt gespart habe, hat man noch für anderes zur Verfügung. Man erlebt überhaupt noch eine Zukunft, weil man noch das Geld hat."
Das deutet durchaus daraufhin, dass bei Kaufentscheidungen übergeordnete Interessen eine Rolle spielen: die eigene Familie, die gemeinsame Haushaltskasse, die Liquidität von Morgen.
Fasten als Training
Religiöse Fastentraditionen wie bei den Katholiken oder beim Ramadan der Moslems erscheinen da wie eine Vorübung zum vollverantwortlichen Leben in einem globalverträglichen Maß. Pfarrer Markus Hahn:
"Das Teilen, das Abgeben erwächst ja auch aus dem Fasten. Dass man bereit ist, etwas weniger zu leben, als man könnte. Dann hat man ja die Möglichkeit zu sagen, gut ich tu' noch was Gutes damit. Also das hängt schon ein bisschen zusammen, alles."
Verzichtsphasen und asketische Übungen sind also heute durchaus noch sinnvoll. Sie helfen, die Welt mit einigem Abstand zu sehen. Das gibt einem die Möglichkeit zu wählen. Und genau diese innere Freiheit braucht man, wenn sich etwas ändern soll. Zum Guten.
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