Ökonom Werner Plumpe

Der Kapitalismus ist besser als sein Ruf

Eine elegante Frau trägt viele Shoppingtüten.
Auch das ist Kapitalismus: "Dienstleistungen in einer Menge und zu einem Preis herzustellen, dass die Masse der Menschen es kaufen kann", sagt Wirtschaftswissenschaftler Werner Plumpe. © Unsplash freestocks.org
Werner Plumpe im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.02.2019
Kalt und unbarmherzig – so wird der Kapitalismus gemeinhin charakterisiert. Der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Werner Plumpe sieht es differenzierter: Kapitalismus sei "die Ökonomie für arme Menschen" – etwas Anderes sei noch nicht in Sicht.
"Das kalte Herz" ist ein berühmtes Märchen von Wilhelm Hauff. Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt am Main, hat diesen Titel gewählt für sein neues Buch über die Geschichte des Kapitalismus.
Er möchte allerdings zu zeigen, dass der Kapitalismus eben kein kaltes Herz hat. So fasst Plumpe am Ende seines Buches seine Erkenntnisse in folgendem Satz zusammen:
"Der Kapitalismus ist und war von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen. Und so lange diese Menschen die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft ausmachen, wird sich daran nur mit Gewalt etwas ändern lassen, und das sicher nicht zum Besseren."
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Werner Plumpe, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Werner Plumpe: Kapitalismus ist besser als sein Ruf.© Uwe Dettmar/Goethe-Universität Frankfurt
Im Kapitalismus, sagt Plumpe, gehe es im Grunde darum, "genügend Güter und Dienstleistungen in einer Menge und zu einem Preis herzustellen, dass die Masse der Menschen es kaufen kann". Das unterscheide die kapitalistische Wirtschaft von allen vormodernen Wirtschaftsformen. Denn dort hätten keineswegs die einzelnen Menschen im Vordergrund gestanden, sondern die weniger Privilegierten hätten das zu liefern gehabt, was die Oberschicht gebraucht habe, um es für Luxus, Krieg und andere Dinge auszugeben – ohne selbst die Möglichkeit des Konsums zu haben.

Früher war nicht alles besser

Mit Blick auf die heutige Kritik an einem überbordenden Finanzkapitalismus sagte Plumpe weiter, der Eindruck, man habe es in früheren Zeiten mit einem harmloseren Industriekapitalismus zu tun gehabt, täusche. Der Unterschied zu früheren Finanzkrisen sei nur, dass man heute bestimmte Phänomene klarer und unmittelbarer wahrnehme als früher.
Alternativen zum Kapitalismus sieht Plumpe derzeit nicht. "Die Alternativen zum Kapitalismus müssten sich rechnen – sie müssten also preiswerter sein als die Nutzung des Marktes und sie müssten eine höhere oder gleiche Veränderungsdynamik für die Zukunft haben, wenn man denn die bald acht Milliarden Menschen angemessen versorgen will."
(mkn)

Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: "Das kalte Herz" ist ein berühmtes Märchen von Wilhelm Hauff, und Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt am Main, hat diesen Titel gewählt für sein neues Buch über die Geschichte des Kapitalismus, das heute erscheint.
Allerdings zeigt er mit diesem Buch, dass der Kapitalismus eben kein kaltes Herz hat. So fasst Plumpe selbst am Ende seines Buches seine Erkenntnisse in dem Satz zusammen: "Der Kapitalismus ist und war von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen."
Als ich mit ihm gesprochen habe, habe ich ihn noch einmal mit diesem Satz konfrontiert und festgestellt, dass Kritiker doch darauf entgegnen könnten, die Existenz des Kapitalismus werde garantiert von einer Gruppe von Menschen, die es wiederum ohne den Kapitalismus gar nicht gäbe.
Werner Plumpe: Das könnte man so sagen. Das ist ganz richtig. Wenn man sich diese Wirtschaftsordnung mal offen nähert, dann wird man phänomenal auch genau das feststellen, dass es im Grunde genommen darum geht, genügend Güter und Dienstleistungen einer Menge und zu einem Preis herzustellen, dass die Masse der Menschen das kaufen kann.

Mit dem Kapitalismus beginnt die Massenproduktion

Das unterscheidet die kapitalistische Art der Wirtschaft von allen vormodernen Wirtschaften ganz massiv. Da standen die einzelnen Menschen keineswegs im Vordergrund, sondern sie hatten das zu liefern, was die Oberschicht für Luxus und Krieg und andere Dinge ausgegeben hat, während mit dem Kapitalismus sich das völlig ändert.
Da steht plötzlich die Massenproduktion von einfachen Gütern im Vordergrund, und in gewisser Weise könnte man sagen, schafft der Kapitalismus die Armut oder die, wenn man so will, Unterschichten, die armen Menschen in dieser Menge überhaupt erst dadurch, dass er es ihnen ermöglicht, mit relativ geringen Mitteln zu überleben. Das ist der Kern dieser Wirtschaftsordnung, in der Tat.
Kassel: Nun ist es aber heute so, dass Kapitalismuskritik sich gar nicht mehr so sehr gegen große Industrieunternehmen richtet oder gegen andere Formen, sondern gegen den sogenannten Finanzkapitalismus, also die Finanzwirtschaft, und wenn wir uns jetzt Fälle angucken, wo einzelne Menschen sehr viel Geld damit verdienen, dass sie zum Beispiel auf fallende Kurse wetten, also auf das Versagen anderer Unternehmen gewissermaßen, ist das dann immer noch so, was Sie sagen? Was hat ein armer Mensch davon, dass jemand an der Börse mit fallenden Kursen reich wird?
Plumpe: Es gibt vielleicht nicht den guten oder akzeptablen Industriekapitalismus und den abzulehnenden Finanzkapitalismus und Dinge, auf die man verzichten kann, sondern das hängt alles sehr, sehr eng miteinander zusammen.
Es ist auch keinesfalls so, dass wir Spekulationsphänomene jetzt ganz neu haben, dass etwas ganz Neues entstanden wäre. Sie finden sowas im 17. und 18. Jahrhundert in den Niederlanden, in Frankreich, in Großbritannien. Sie finden seit den 1870er-, 80er-Jahren den Aufstieg der sogennanten robber barons in den USA, an deren Spitze und mit denen zusammen vor allen Dingen die großen, heute noch bekannten Finanzhäuser gewesen sind.
Wir kennen den Zusammenbruch der 1920er-Jahre mit der Weltwirtschaftskrise. Das ist nicht so, als hätten wir lange Zeit eine Art Industriekapitalismus mehr harmloser Art gehabt und heute einen Finanzkapitalismus, der geradezu überbordend ist.

Phänomene werden klarer, offensichtlicher und unmittelbarer

Nein, wir machen im Kontext der Globalisierung kapitalistischer Strukturen die Erfahrung, dass bestimmte Phänomene klarer, offensichtlicher und unmittelbarer wahrnehmbar werden, aber das ist nicht unbedingt was wirklich Neues.
Kassel: Das Interessante in diesem Zusammenhang, finde ich, steckt eigentlich auch schon im Untertitel Ihres Buches, der lautet: "Die Geschichte einer andauernden Revolution". Ist dann quasi auch die Hinwendung jetzt zu den Finanzmärkten eine weitere Revolution im Kapitalismus gewesen?
Plumpe: Das ist eigentlich eine ganz widersprüchliche Aussage, zu sagen, dass der Kapitalismus eine evolutionäre Sache ist, die immer das Revolutionäre ermöglicht, aber wenn man es genau fasst, dann kann man das sehr schön sehen. Im Kapitalismus sind Dynamiken freigesetzt oder möglich, die eine ständig neue Umwälzung der Art der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen und ihrer Finanzierung ermöglichen.
Das beginnt mit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert und über die Transportrevolution und die wissenschaftlich-technische Revolution des 19. Jahrhunderts. Das geht in die Konsumrevolution, in die Informationsrevolution des 20. Jahrhunderts, und wer weiß, was jetzt kommt. Das heißt, Kapitalismus macht es wahrscheinlicher, dass, wenn man so will, der materielle Stoffwechsel immer neu organisiert und erfasst wird.
In dem Zusammenhang spielen dann natürlich auch Änderungen der finanziellen Strukturen eine Rolle. Sie tun das in einer Weise, die eben für Kapitalismus vielleicht typisch auf spekulative Zuspitzung hinauslaufen kann, sollte das nicht wirklich begrenzt oder reguliert werden.
Kassel: Aber auch jenseits des Finanzsystems stellt sich ja die Frage, in welchem Umfang Kapitalismus staatlich vorgegebene Regeln braucht und auch Kontrolle. Das fängt bei vielleicht Kleinigkeiten wie einem Mindestlohn an und hört bei der Kontrolle von Monopolen noch lange nicht auf. Plädieren Sie wirklich für einen unkontrollierten, ungeregelten Kapitalismus?
Plumpe: Oh nein, überhaupt nicht. Ich sage ja, dass die kapitalistische Ordnung überhaupt nur möglich ist, wenn man staatliche Garantien für bestimmte seiner zentralen Elemente gibt. Das ist neben der Respektierung des Privateigentums und der Erhaltung stabiler preisbildender Märkte, über die wirtschaftliche Verteilung läuft, ist das natürlich auch die Frage der Strukturierung von Risiken.

Nur die Politik kann die Risiken managen

Es kann nur durch gemeinsame kollektive Entscheidungen, also nur durch die Politik, sichergestellt werden, dass die mit dem Kapitalismus verbundenen Risiken in der einen oder anderen Weise tragbar gemacht werden. Das gilt für Unfallversicherungen, das gilt natürlich auch für Kapitalverlustrisiken, das gilt aber natürlich auch dafür, dass Menschen, die ihre Arbeitskraft über Märkte verkaufen, dagegen gesichert werden müssen, dass diese Arbeitskraft nicht mehr gekauft werden muss.
Auch das ist ja ein systemisches Risiko, könnte man sagen, gegen das es abzusichern gilt. Man hat nach der Finanzkrise sehr leichtfertig von too big too fail gesprochen, meiner Ansicht nach. Aber wenn es zu vermeidende Risiken gibt, dann beziehen die sich natürlich auch auf die mit dem Kapitalismus verbundenen sozialen Risiken.
Der Staat hat also nicht nur die Ordnung an sich zu garantieren, sondern er hat auch die spezifische Risikobelastung zu berücksichtigen und sie erträglich zu machen, damit es so etwas wie Kapitalismus überhaupt gibt. Der Staat ist ganz wesentlich für die Erhaltung eines stabilen Geldes. Das hat ja, ich glaube, Lenin gesagt: Wenn man die bürgerliche Gesellschaft ruinieren will, dann muss man ihr Geldsystem antasten, und für den Kapitalismus wäre das zentral, denn die Funktion der Märkte hängt am stabilen Geld. Das ist in zentraler Weise davon abhängig, dass der Staat das respektiert.
Kassel: Ich glaube, man kann mit Ihnen über dieses Buch nicht reden, ohne kurz ein Kapitel aus Ihrem Leben zu erwähnen, das dann sofort eine Frage in den Raum projiziert, an der man nicht vorbeikommt. Sie waren bis 1989 Mitglied der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei.
Plumpe: Ja, ich war in den 1970ern da aktiv bis in die frühen 80er-Jahre, und danach hat es aus einer Reihe persönlicher Gründe noch weiter diese Organisationszugehörigkeit gegeben.
Kassel: Entschuldigung, wenn ich Sie da unterbreche, ich wollte keine Begründung von Ihnen.
Plumpe: Ach so.
Kassel: Das ist eine legale Partei. Also das ist ja …
Plumpe: Nein, nein, das ist völlig in Ordnung.
Kassel: Ich frage mich nur … Ich unterstelle dann, dass Sie zumindest in den 70ern und vielleicht auch danach doch einen anderen Blick auf den Kapitalismus hatten.
Plumpe: Ganz genau, darauf wollte ich gerade hinaus. Ja, das ist richtig, und das hängt mit diesem Buch in gewisser Weise auch ursächlich zusammen.

Der Kapitalismus ist leicht zu kritisieren - aber stabil

Der Kapitalismus hat mich schon als jungen Studenten sehr interessiert. Die Frage war, wie kann so etwas eigentlich passieren und stabil sein, das doch erkennbar so leicht zu kritisieren ist, wie ich seinerzeit glaubte.
Von daher hat sich bei mir im Kopf eine Frage festgesetzt, nämlich die nach dem Verhältnis von offensichtlicher Wandlungs- und Überlebensfähigkeit des Kapitalismus und seiner im Grunde doch von der, wenn man marxistisch argumentiert, Struktur her großen Labilität.
Der Schwerpunkt meines Studiums, auch meiner jetzigen Berufstätigkeit, ist ja nun mal die Wirtschaftsgeschichte, und das war im Grunde genommen eine laufende und dauernde Auseinandersetzung mit dieser Frage nach dem Verhältnis von, wenn man so will, Stabilität und Labilität im Kapitalismus, auf die ich im Laufe meines Lebens immer unterschiedliche Antworten gefunden habe.
War das in den 1970er-Jahren eine eher radikale Antwort, so bin ich heute, ich würde nicht sagen, konservativ, aber ich würde sagen pragmatisch orientiert und finde – wenn man ihn genau betrachtet – in den kapitalistischen Verhältnissen oder im Kapitalismus Funktionsweisen, die – was die wirtschaftliche Versorgung der Menschen angeht – im Grunde zustimmungsfähig sind. Also meine Perspektive hat sich geändert. Das Interesse an der Wirtschaft ist das gleiche.
Kassel: Wir haben alle gesehen – und ich glaube, bis auf einige Wenige, die es immer gibt, widerspricht auch dieser Ansicht keiner –, wir haben gesehen, spätestens in den 80er-Jahren, dass der real existierende Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus nicht funktioniert hat.
Plumpe: Ja.
Kassel: Ich habe aber den Eindruck, dass Sie in dem Buch unter anderem daraus schließen, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, aber ist das so schlüssig, zu sagen, das einzige, was wirklich ernsthaft ausprobiert wurde, hat nicht funktioniert. Daraus schließe ich, es kann auch sonst nichts funktionieren, es geht nur Kapitalismus?
Plumpe: Wenn man das so zuspitzen möchte, kann man das natürlich sagen, aber was ich dort in dem entsprechenden Kapitel ja versuche zu entfalten, ist die Frage, was könnte man anders machen, und was hat man im Sozialismus anders gemacht, und woran ist es gescheitert.

Wo sind die Alternativen?

Der Punkt, an dem ich sehr skeptisch bin, ob es wirkliche Alternativen gibt, ist der, zu sagen, wenn das Privateigentum nicht mehr darüber entscheidet, wie das Kapital genutzt wird, und wenn die Märkte nicht mehr darüber entscheiden, wer und zu welchen Bedingungen in der Verteilung wie berücksichtigt wird, dann muss das ja eine politische Instanz tun, dann macht das der Staat. Der plant, und dann macht das der Staat, der Güter verteilt und zuteilt.
Das war in der Sowjetunion so, das war in der DDR so. Dann muss der Staat genau wissen, was er tut. Der zentrale Punkt, die zentralen Einwände läuft auf ein Doppeltes hinaus: Zum einen ist der Staat nicht so dazu in der Lage, dynamisch zu handeln, weil er muss ja auf der Basis verbindlicher Entscheidungen, die sich an der Vergangenheit orientieren, handeln. Zum Zweiten, das man oft vergessen hat, ist, auch das Handeln des Staates kostet ja Geld.
Wenn man sich die Realität der Verwaltungssysteme im Osten etwas genauer anschaut, dann stellt man fest, dass dort die Kosten, das Wirtschaftssystem zu betreiben, über Plankommission, Ministerien und was da alles drangehangen hat, dass die gewaltig angestiegen sind.
Also die Alternativen zum Kapitalismus, die müssten sich rechnen. Sie müssten also preiswerter sein als die Nutzung des Marktes, und sie müssten eine gleiche oder hohe Veränderungsdynamik für die Zukunft haben, wenn man denn mittlerweile ja bald acht Milliarden Menschen einigermaßen angemessen versorgen will.
In dem Punkt bin ich überaus skeptisch. Ich glaube nicht, dass das das letzte Wort ist. Wir stehen ja vor einer technologischen Veränderung – Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Internet der Dinge –, wo sehr viel passieren kann, und da würde ich mich dann auf den Standpunkt des Historikers zurückziehen und sagen, da bin ich der Auffassung, hat sich zu Recht zum Kapitalismus wohl keine Alternative herausgebildet. Was die Zukunft bringt, da bin ich wahrscheinlich genauso kenntnislos oder unsicher wie alle anderen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Werner Plumpe, "Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution"
Rowohlt Verlag, Berlin 2019
800 Seiten, 34 Euro

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