Öffentliche Bauvorhaben

Das Märchen von der Bürgerbeteiligung

04:38 Minuten
Menschen debattieren und wählen bei einer Besprechung.
Eine echte Bürgerbeteiligung finde nicht statt, kritisiert Thomas Wagner. © imago / Ikon Images
Ein Einwurf von Thomas Wagner · 12.09.2019
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Ob Kreisverkehr, Brücke oder Umgehungsstraße: Spätestens seit dem Stuttgart-21-Desaster werden immer mehr öffentliche Bauvorhaben mit Bürgerbeteiligung geplant. Thomas Wagner hält das für Etikettenschwindel: Denn entscheiden darf der Bürger dabei nichts.
Die Luft duftet verführerisch nach Gebäck. Ich stehe vor der Auslage der Konditorei. Mutter sagt: "Für deine Geburtstagsparty darfst du dir einen Kuchen aussuchen." Gerade in die Schule gekommen, fühle ich mich wie ein Großer. Die Wahl fällt nicht schwer. Die Schokotorte muss es sein. Abgemacht. Kurz vor der Feier dann der Schock. Mutter eröffnet mir, es werde Obstkuchen geben: "Die Schokolade ist zu mächtig."
Schlagartig werden mir zwei Dinge klar. Erstens: Mein Wort hat nicht viel Gewicht. Zweitens: Auf das meiner Mutter ist nicht immer Verlass. Das ist lange her. Warum fällt es mir jetzt wieder ein? Der Grund ist einfach: Weil dieses Beispiel zeigt, wie groß der Frust ist, wenn Vertrauen missbraucht wird. Das ist beim Thema Bürgerbeteiligung ganz ähnlich.

Bürgerbeteiligung als Muss der modernen Demokratie

Soll ein Flughafen erweitert, ein städtisches Immobilienprojekt realisiert, ein Bahnhof gebaut werden, laden Bauträger und Behörden inzwischen häufig die Betroffenen ein. Der Bürger soll an geplanten Veränderungen partizipieren. Das nennt sich politische Mediation. Sie behauptet: Den Bürger und seine Belange ernst zu nehmen und zumindest in Teilen auf seine Wünsche und Bedenken einzugehen.
In der Theorie der modernen Demokratie ist die Beteiligung der Betroffenen ein Muss. In der Praxis werden Bürger, die sich darauf einlassen, aber oft enttäuscht. Denn die angebotenen Verfahren geben meist nur vor, ein Dialog auf Augenhöhe zu sein. Ihr Ziel ist oft die möglichst reibungslose Durchführung des betreffenden Bauvorhabens – nicht die Realisierung der Bürgerwünsche. Die Geheimformel hat vor einiger Zeit das Handelsblatt verraten: "Wer die Bürger früh einbindet, bekommt später weniger Widerstand."
Wenn am Ende monatelanger Diskussionen und neuer Vorschläge der Wald doch abgeholzt, das vereinbarte Nachtflugverbot wieder eingeschränkt und ein lebendiges Stadtquartier der Gentrifizierung ausgesetzt wird, macht sich Enttäuschung breit. "Die da oben", heißt es dann, "machen ja doch nur, was sie wollen". Das Problem: Das Vertrauen ist jetzt tiefer denn je erschüttert.

Derzeitige Bürgerbeteiligungen oft ein Etikettenschwindel

Die Erfahrung zeigt: Politikverdruss ist bei den derzeit gängigen Verfahren politischer Mediation praktisch vorprogrammiert. Dabei versprechen ihre Verfechter den Bürgern mehr Einfluss. Man wolle die Demokratie weiter demokratisieren, verlautbart es aus den Denkfabriken der florierenden Beteiligungsindustrie. Die Formel hat man von den Achtundsechzigern übernommen. Doch handelt es sich um einen Etikettenschwindel. Denn die Entscheidung, das betreffende Bauvorhaben zu realisieren, ist längst gefallen.
Worum es jetzt geht, ist die möglichst reibungslose Durchführung, ohne dass die Polizei gegen Protestcamps vorgehen und die Gerichte eingeschaltet werden müssen. Schließlich gilt es Gewinne zu erzielen oder Kosten zu sparen. Das ist legitim. Doch wer so tut, als ob es sich um die Realisierung einer basisdemokratischen Utopie handelt, muss sich vorwerfen lassen, nur eine Beteiligungsshow zu inszenieren. Denn statt auf die konkreten Vorschläge der Bürger einzugehen, schenkt man ihnen bestenfalls Gehör. Findet hier kein Kurswechsel statt, droht das Vertrauen in die Politik weiter zu erodieren
Was also ist zu tun? Wer das Vertrauen der Bürger in die Demokratie stärken will, muss ehrlich mit ihnen umgehen – auf Augenhöhe. Die Bürger sollten keine fertigen Verfahren vorgesetzt bekommen, sondern die Regeln selbst entwickeln, nach denen sie miteinander umgehen wollen. Und am Ende müssen sie rechtlich bindende Entscheidungen treffen können. Wer diese Mindestanforderungen nicht erfüllt sieht, sollte lieber auf herkömmliche Weise protestieren gehen. Da kommt mehr bei rum!

Thomas Wagner, geboren 1967. Dr. phil. Kultursoziologe und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien von ihm: »Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten.«

Porträt des Kultursoziologen Thomas Wagner.
© © Milena Schlösser
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