Obszöner Marktmechanismus

03.08.2011
Während amerikanische TV-Serien früher oft nur simple Fernsehunterhaltung boten, haben Pay-TV-Sender wie HBO inzwischen anspruchsvolle Formate entwickelt, die einen Ersatz für das langsam untergehende Kino darstellen - und die Zuschauer mit diversen Tabuverletzungen locken.
Amerikanische Fernsehserien wie "Sex and the City", "Desperate Housewives", "Die Sopranos", "The Wire", "Mad Men" und andere feierten in den letzten Jahren auch in Deutschland bemerkenswerte Erfolge. Sie alle greifen tief in die Trickkiste bewährter Unterhaltung, gleich ob es um das umtriebige Sexleben moderner Großstadtfrauen, die Ausbruchsversuche frustrierter Vorortköniginnen, eine neurotische New Yorker Gangsterfamilie, die Verstrickungen der Stadt Baltimore in Drogenverbrechen oder die groteske Welt durchgedrehter Werbeleute geht.

Die simplen Strickmuster stereotyper Fernsehunterhaltung sind vergessen, statt "sprechender Köpfe", immergleicher Studioschauplätze und eingeblendeter Lachsalven nun ausgefeilte Charaktere, raffinierte Dialoge, komplizierte Handlungsstränge, opulente leinwandreife Ausstattung und Bildgestaltung.

Das musste die Aufmerksamkeit der Feuilletons hier zu Lande auf sich ziehen. Euphorisch lobte die Kritik in den letzten Jahren die neue Mixtur und kritisierte, dass Pay-TV-Sender wie HBO (für Home Box Office) in den USA risikofreudig in das Wohnzimmerkino investieren, während deutsche Fernsehanstalten lieber bei biederer Konsumware bleiben.

"Fernsehen wider die Tabus", die polemische Studie des Mainzer Medienwissenschaftlers Ivo Ritzer, setzt bei dieser Debatte an. Er schildert die charakteristischen Markenzeichen der bekanntesten Serien und deren Faszination für Kinoliebhaber. Die amerikanischen Serien von HBO und anderen Produzenten verquicken handwerklich perfektes Genrekino und Formate von epischer Dimension, sie bieten visuelle Attraktionen und inhaltliche Komplexität – eine Mischung für medienkundige, anspruchsvolle Zuschauer, die mit dem Popcornkino kaum noch etwas anfangen können und sich vom Fernsehen notorisch unterfordert fühlen. Die Verbreitung der amerikanischen Serien auf dem DVD-Markt konnte so im vergangenen Jahrzehnt einen reizvollen Ersatz für das untergehende Kino bieten und gleichzeitig zu interpretatorischen Höhenflügen verführen.

Ritzers Zitatmontage leistet einen amüsanten Überblick über die Versuche deutscher Kritiker, die amerikanische Serienproduktion vom Beigeschmack des Trivialen zu befreien und bildungsbürgerlich aufzuwerten. Den Argumenten zur Veredelung stellt er eine interessante andere Diagnose entgegen. Ritzer arbeitet am Beispiel der bekanntesten Serien heraus, wie kalkuliert sie jene Tabus brechen, die das extrem prüde Fernsehen in den USA kennzeichnen.

Ein System von Programm-Ratings, zensurierenden Pieptönen und vorprogrammierten Abschaltungen sorgt für moralische Sauberkeit, HBO und andere, auf Abonnenten orientierte Sender, bedienen dagegen mit drastischen Sex- und Gewaltszenen den vorgeblichen Nonkonformismus ihrer zahlenden Zuschauer. Das Buch blickt hinter die Kulissen und legt offen, dass die Strategie gezielter Obszönität längst nicht mehr auf die Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen zielt, nicht die unterstellte Größe archaischer Elementarkraft besitzt sondern einen obszönen Marktmechanismus offen legt.

Besprochen von Claudia Lenssen
Ivo Ritzer: Fernsehen wider die Tabus – Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien
Bertz & Fischer Verlag, Berlin 2011
135 Seiten, 9,90 Euro
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