Oben ist oben geblieben

Von Michael Hofmann |
Der Herbst 1989 hatte mutige Akteure. Sie lösten eine friedliche Revolution aus, die die in der DDR geschaffenen politischen Verhältnisse und eine Hand voll Politfunktionäre hinwegfegte. In den sozialen Strukturen Ostdeutschlands hingegen änderte sich wenig: Oben ist oben, Mitte ist Mitte, und unten ist unten geblieben. Nur die sozialen Abstände haben sich vergrößert.
Vor allem die in der DDR Aufgestiegenen konnten sich im oberen sozialen Raum halten. Entgegen vielen politischen Erwartungen besteht das sozialistische Establishment die historische Bewährungsprobe des Transformationsprozesses erstaunlich gut. Das sozialistische Establishment ist die breite soziale Oberschicht der DDR.

Es entsteht in den 1950er- und 1960er-Jahren. In einer gewaltigen Bildungsanstrengung werden in kurzer Zeit neue Lehrer, neue Techniker und Wirtschafter sowie führende Verwalter, Sicherheitsleute und politische Funktionäre rekrutiert. Diese frühe Öffnung der Bildungsschleusen und der massenhafte Aufstieg in verantwortliche Positionen verschaffen der DDR loyale, staats- und parteitreue Lebenswelten im oberen sozialen Raum. Das sozialistische Establishment umfasst immerhin ein Fünftel der DDR-Bevölkerung.

Es besteht aus drei Gruppen. Zum einen sind das die Verwalter der Macht, also Partei- und Staatsfunktionäre, die vor allem sozialistisches Recht, Marxismus-Leninismus oder politische Ökonomie studieren. Zweitens sind das die Leiter der sozialistischen Industrie, die vor allem technische Fächer oder Ökonomie studieren. Drittens schließlich hat die DDR großen Bedarf an kultureller Repräsentation, also an Hochschullehrern, Wissenschaftlern und Künstlern. Hier finden Menschen Aufstiegsmöglichkeiten, die Pädagogik, Naturwissenschaften oder Kunst- und Kultur studieren.

Nach dem Ende der sozialistischen Bildungsrevolution in der Mitte der 1960er-Jahre wird weiterer Aufstieg allerdings blockiert. Die soziale Mobilität der sozialistischen Gesellschaft geht stark zurück. Das sozialistische Establishment rekrutiert sich fast nur noch aus sich selbst heraus. Die sozialistischen Hierarchien erstarren.

Gerade in jener Zeit aber entwickeln sich in der DDR moderne Lebenswelten. Über die internationale Anerkennung und die Honecker'sche Sozialpolitik erhält die DDR trotz aller Einschränkungen Anschluss an den Massenkonsum, den Massentourismus und vor allem an die westliche Massen- und Musikkultur.

Neue soziale Milieus entstehen, die sich aber schwer etablieren oder gar aufsteigen können. Das sozialistische Establishment besetzt nach wie vor alle besseren Positionen. Die neuen Lebenswelten verbindet deshalb auch kaum noch etwas mit der DDR. Entweder sie pflegen in den Nischen ihre Interessen und ihre Musik oder sie versuchen, oft unter dem Dach der Kirche, ein links-alternatives Establishment in der DDR aufzubauen.

Die Akteure der friedlichen Revolution kommen alle aus den neuen, blockierten sozialen Milieus, die sich in den letzten 20 Jahren der DDR herausgebildet haben. Nach der friedlichen Revolution erlebt der Osten eine extreme soziale Mobilisierung. Über Jahre hinweg werden innerhalb von zwölf Monaten mehr als die Hälfte aller sozialen Positionen (Arbeitsstellen und Berufspositionen) gewechselt.
Aber während die Facharbeiter in einer regelrechten Deindustrialisierung vorwiegend Abstiege erleben, kann sich das bildungsstarke sozialistische Establishment gut behaupten. Trotz etwaiger politischer und moralischer Zweifel haben sie entsprechende Qualifikationen für die neuen Verwaltungen, Banken und Versicherungen. Entweder sie verbleiben in ihren Positionen oder sie erobern die guten Jobs im auf- und ausgebauten Dienstleistungsbereich.

Die politischen Gewinner der Revolution, die Bürgerrechtler, stehen, sozial gesehen, heute nicht besser da als die ehemaligen Kader. Damit hat die friedliche Revolution aber keineswegs, wie böse Zungen behaupten, ihre Kinder gefressen, sondern die Lebenschancen aller Ostdeutschen im oberen sozialen Raum enorm gesteigert.


Michael Hofmann, studierte in der DDR Kulturwissenschaften, Professor für Soziologie an der TU Dresden. Seit 2001 wissenschaftlicher Geschäftsführer im Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ an den Universitäten Jena und Halle. Seine Forschungsfelder sind Transformations- und Milieuforschung, Alltagsgeschichte und Genderforschung.
Michael Hofmann
Michael Hofmann© privat