Obdachlos und abhängig
Sie haben die vielleicht traurigsten Schicksale, die Kinder der Parallel- und Unterwelt vom Berliner Alexanderplatzes. Ausgebrochen aus ihren Familien. Geflüchtet vor sexuellem Missbrauch, alkoholkranken Eltern - manche auch nur aus Abenteuerlust.
"… weil ich misshandelt wurde, weil ich gefoltert wurde, weil meine Eltern mich misshandelt haben … gehasst haben … ich war halt nicht erwünscht. Von vornherein nicht. Bin ich halt abgehauen, mit 16 Jahren, ehh … nach Hannover, nach Berlin später … ehh und dann bin ich halt hier hängengeblieben."
"Ja, aufm Alex … Schnorren, trinken … "
"Ja, also man kommt erst mal hier an. Kriegt man die erste Kippe, det erste Bier …"
"Ja, Kippe halt, denn kommt det erste Bier … dann schnorren wer nochn bisschen … dann wird sich noch n paar Bier geholt, dann ne Pulle Schnaps, und dann jeht det den janzen Tag so, Schnaps, Bier … irgendwelche andern Drogen, und dann ist der Tag auch schon wieder fast vorbei, dann heißt det dann irgendwann schlafen …"
"Jetzt hab ich bei nem Kollegen gepennt, drei Wochen zum Beispiel, die letzten Nächte hab ich ma in der U-Bahn gepennt, kommt halt mal vor … U-Bahn, S-Bahn, draußen durchmachen …"
"… so zwischen drei und fünfe, so zwischen drei und fünf Uhr morgens, wird det trotzdem arschkalt. Passiere, was wolle, denn is det wie Winter."
"Wir fangen jetzt erstmal hier oben an und sagen hallo … und arbeiten uns dann runter."
Frühjahr 2008. Berlin ist noch immer die Hauptstadt der Straßenkinder, auch 30 Jahre nach Christiane F. Doch zu den "Kindern vom Bahnhof Zoo" sind nach der Wende auch die Kinder vom Alexanderplatz dazugekommen.
Natascha Jäger und Ines Fornacon, Straßensozialarbeiter des Vereins "Off Road Kids", gehen bis zu fünf Mal die Woche über den Alexanderplatz, ihre "Klienten" besuchen, wie sie die Kinder und Jugendlichen der Straße nennen.
"Ich denke, was wir machen, ist eh ne Feuerwehrarbeit, dass wir gucken, wer sitzt auf der Straße, welche Problemlage ist da, und für denjenigen, der ne massive Heroinproblematik hat und daran was ändern möchte oder allein mit dem Gedanken spielt, daran was zu ändern, für den können wir ganz andere Wege bereiten als für jemanden, wo es reicht, dass wir uns mit den Eltern an einen Tisch setzen, ein klärendes Gespräch führen – wir können die Leute natürlich nicht auf lange Sicht intensiv betreuen, sondern wir vermitteln. Das ist unsere Aufgabe."
Ines und Natascha kennen die meisten ihrer Klienten schon länger. Vielen Ausreißern gemein ist: Sie sind auf der Flucht vor alkoholkranken oder gewalttätigen Eltern, viele Mädchen vor sexuellem Missbrauch. Auf der Straße glauben sie, das zu finden, was ihnen zuhause verwehrt blieb. Alexanderplatz, Rückseite. Bei frühlingshaftem Sonnenwetter. Zwei Dutzend der eher jüngeren Alexanderplatzbewohner umlagern den Neptunbrunnen, viele mit einem Bier in der Hand, und nicht ihrem ersten heute. Es herrscht Feierlaune.
"Ja, also die Leute sind halt ziemlich herzlich … Und wenn’s mir scheiße geht, sind sie auf jeden Fall für mich da. Und unterstützen mich, wo sie nur können, sozusagen. Auch wenn ich schnorren gehe … letztens musst ich halt Arztgebühren zusammenbekommen, plus Rezeptgebühr, und dann saßen wir da halt zu viert, und haben nur für mich mit geschnorrt. Damit ich meine 15 Euro zusammenbekomme. Ohne, dass sie was davon abbekommen haben. Ist ganz praktisch, diese Leute zu haben. Wenn man nicht mehr weiter weiß."
Mino ist abgehauen, nachdem sie von ihrer Mutter eingesperrt wurde. Mino lebte nur anderthalb Monate auf der Straße. Ihre Tage verbringt sie nach wie vor mit den anderen Ausreißern am Alexanderplatz, obwohl ihr das Jugendamt eine eigene Wohnung vermittelt hat. Mino hatte Glück, die Straßensozialarbeiter von Off Road Kids haben sie früh als Neuankömmling ausfindig gemacht.
"Ja, die haben mich sehr gut unterstützt, die waren die erste Anlaufstelle, wo ich gleich am nächsten Tag hingegangen bin, und mich dann weitervermittelt haben. Also zum Jugendamt mitgekommen, und zur Treberhilfe gebracht, die mir dann halt weitergeholfen hat, mit Wohnung und so weiter und so fort."
Die ersten Tage, die Ausreißer auf der Straße verbringen, sind entscheidend für die Streetworker. Wenn es gut läuft, werden sie aktiv, bevor die Straßenkinder sich ihr Netzwerk auf der Straße aufbauen. Es ein Wettlauf mit der Zeit, denn dieses Netzwerk besteht oft aus falschen Freunden, Drogen, Diebstahl, Prostitution. Und die Konsequenzen sind Abhängigkeit, Verwahrlosung und Krankheiten wie Hepatitis, Krätze, schlimmstenfalls HIV. Natascha und Ines achten daher besonders auf unbekannte Gesichter.
"… das ist ganz oft so: Situationen angucken, Leute angucken, wie verhalten die sich, wie sind die angezogen, wie frisch gewaschen sehen die aus, haben die n dicken Rucksack dabei, haben die keinen dabei."
Direkt auf dem Alexanderplatz, zwischen Kaufhof, Saturn und C&A, sitzen die Alteingesessenen der Szene. Straßenkinder waren sie mal, sie sind nicht einmal mehr Jugendliche, sie sind erwachsen. Aber der Straße gehören sie immer noch. Kiddy lebt seit 12 Jahren auf der Straße. Mit 16 floh er vor seinen Eltern, die ihn misshandelt haben.
Kiddy ist betrunken.
"Schnorren und rum asseln … überleben halt."
"Hast du n Traum, hast du n Ziel? Willst du hier weg? Nicht echt. Ich kenn nix anderes. Seit zwölf Jahren oder so … "
"Ich leb auf der Straße seit zwölf Jahren. Und ich kenn halt nichts anderes."
" Wo übernachtest du? Überall. Abrisshäuser, besetzte Häuser, bei Freunden … Überall halt. "
Das Leben auf der Straße hat ihn gezeichnet. Kiddy war früher am Bahnhof Zoo. Dann wechselte er zum Alex. Zeitweise gehörte er der "Saubande" an, einer äußerst gewalttätigen Straßenclique. Wegen der brutalen Übergriffe haben eine Zeit lang andere Straßenjugendliche den Alexanderplatz gemieden. Auch wegen ihres exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums ist die Saubande berüchtigt.
"Komischerweise sterben öfter ma Leute, und die ham dann halt ne Überdosis. Ich war früher ma am Bahnhof Zoo gewesen, und ich schätze ma, ja, zehn gute Freunde vielleicht, die alle tot sind … wegen Heroin oder so. Letztes Jahr is Hotte gestorben, dieses Jahr is n anderer noch ma gestorben, alle wegen Heroin. Aber wegen mit Absicht halt. Ne? Nich ausversehen. Nur, weil se kein Bock mehr hatten, ne … Selbstmord eben."
"Der Job geht manchmal schon sehr an die Grenzen, gerade eben wenn Fälle sind, wenn Leute versterben, andererseits haben wir Bewältigungsstrategien für uns entwickelt, dass wir eigentlich versuchen, das nicht mit nach Hause zunehmen und auch versuchen, da nen professionellen Abstand zu haben. Weil ansonsten kann man diesen Job nicht lange machen."
Unermüdlich drehen die Sozialarbeiter ihre Runden am Alex, Tag für Tag. Schütteln auch denen die Hände, bei denen vielleicht jede Hilfe zu spät kommt. Und immer in der Hoffnung, einem Ausreißer die frisch getroffene Entscheidung für das Leben auf der Straße ausreden zu können und mit den Eltern zu vermitteln.
"Jetzt keine großartigen Neukontakte … wobei es waren schon zwei drei dabei, ne – Richtig gut gelaufen ist es , wenn wir jemanden treffen, wo klar ist: Okay, da scheint ein Hilfebedarf vorhanden zu sein, sprech ich mal an, man verteilt die Karte, man führt ein kurzes Gespräch, oder auch ein längeres, verabredet sich für den nächsten Tag und kann dann loslegen. Das war heute nicht drin, aber dann versuchen wir’s halt morgen wieder."
Bis zu 20.000 junge Leute leben nach Schätzungen von Terre des Hommes auf der Straße. Aber genau weiß das keiner.
Markus Seidel, Gründer und Vorstandssprecher von Off Road Kids, ist der Meinung, es müsste in Deutschland keine Straßenkinder geben. Er schätzt, dass jedes Jahr dreihundert Minderjährige zu Straßenkindern werden …
"… und von denen schaffen unsere Streetworker in Berlin, Hamburg, Köln und Dortmund, etwa 170 bis 200 von der Straße zu holen. Das heißt dadurch gibt es durch unsere Arbeit und durch die Arbeit anderer, lokal arbeitender Vereine und Organisationen eigentlich nahezu keinen Minderjährigen, der auf der Straße leben muss, sondern normalerweise haben wir die Situation im Griff, solange wir arbeiten."
Neben den bundesweit vier Streetwork-Niedelassungen betreibt Off Road Kids zwei eigene Kinderheime im Schwarzwald. Ohne einen Cent Steuergeld - ausschließlich mit Spenden und Sponsorengeldern großer Konzerne. Deutschland, beklagt Seidel, habe das opulenteste, aber auch das ineffizienteste Jugendhilfesystem der Welt.
Auch deshalb hat "terre des hommes" das "Bündnis für Straßenkinder" gegründet. Das Kinderhilfswerk will sich so mit 25 anderen Organisationen intensiver um Straßenkinder kümmern – und mehr staatliche Gelder einfordern.
Der Verein Off Road Kids ist dem Bündnis allerdings nicht beigetreten. Sprecher Markus Seidel sieht darin keinen Nutzen. Auch geht er auf Distanz zu der Arbeitsweise anderer Vereine und Organisationen …
"Wir haben nur ein einziges Ziel, wir wollen die bestmögliche Perspektive für den einzelnen Jugendlichen erarbeiten, und das bedeutet, dass wir ihn auf der Straße nicht versorgen, um es ihm dort bequem zu machen. Bei uns gibt es nur Hilfe bei der Suche nach einer Perspektive, und unsere Büros sehen dann auch so aus, in unserem Büros finden sie eben keine Tischkicker, und keine Küche, und kein Sofa, bei uns finden sie eben Bürotische, Computer, an denen man recherchieren kann, und das genügt dann auch. Unsere Streetworker gehen an jedem Tag raus, suchen nach neuankommenden Jugendlichen, und versuchen dann auch, sie möglichst zügig in unsere Büros zu bekommen, und dort wird dann recherchiert, und üblicherweise auch innerhalb der nächsten vier fünf sechs Tage eine Lösung gefunden."
Seidel hält wenig von, wie er sagt, "Kuschelpädagogik".
Der Kleinbus des Berliner Vereins "Karuna" ist auf dem Weg zum Alexanderplatz. Mit vier Streetworkern. Im Kofferraum ein Trog warmer Suppe, Kaffee, Saft und Obst. Karuna ist ein Begriff aus der buddhistischen Ethik und beschreibt die Tugend des Erbarmens, der Liebe und des Mitgefühls. Streetworkerin Eva Funk:
"Also, ich denke grundsätzlich ist es so, dass wir einfach nen akzeptierenden Ansatz haben, und das wir sagen: Wir akzeptieren erst mal die Lebenseinstellung der Leute und das ist einfach das Leben auf der Straße. Und sie haben einen Grund dafür, weshalb sie da sind. Und wir wollen einfach erst mal dahin gehen und gucken: Warum leben sie da … Also jemand hat mal zu mir gesagt: Nee, ich will nicht in ner Wohnung leben, weil wenn ich in ner Wohnung lebe, dann hab ich was zu verlieren, und ich hab einfach nichts zu verlieren …"
Zwei mal wöchentlich parkt der Bus von Karuna vor einer Grünanlage am Alexanderplatz. Die Kinder und Jugendlichen der Straße geben ihr weniges Geld oftmals nicht für Essen aus, schon gar nicht für gesundes Essen.
Schnell bildet sich eine Traube um den Kleinbus. Die Streetworker verteilen Essen, Vitamintabletten, Kaffee, hören zu und geben Tipps.
Kaiser ist schon seit Jahren am Alex zu Hause. Er freut sich auf eine eigene Wohnung, die man ihm in Aussicht gestellt hat.
"Seit … vier Jahren … bin ich hier Alex eigentlich. Keine Lust mehr gehabt auf meine Eltern, also bin ich einfach abgehauen. Keene Lust mehr jehabt. Sachen jepackt und bin gegangen."
"Und wo wohnst du jetzt?"
" Jetze? Überall und nirgendwo. Auf der Straße."
"… nu red doch ma nicht so abwertend, nachher heißt det, wir sind alle Alkoholiker … Haha, Jaaa! "
"Träumen? Nee, ich habe keine Träume. Ich träume gar nichts."
" Oder wünschst du dir ein bürgerliches Leben?"
" Nein … Ne also komplett bürgerlich muss nicht sein …"
Na ja, wenigstens n Grundstandard haben … ne Wohnung, bisschen Geld, das reicht ja eigentlich schon. "
"N Job wär ja schon mal n Anfang. Ma aus dem Trott rauskommen!"
Zu den Kindern und Jugendlichen des Alexanderplatzes gesellen sich auch Feierabend- und Wochenend-Ausreißer, die ein ganz normales Teenager-Leben führen. Manche aus Abenteuerlust, manche aus Langeweile oder Neugier. Es kommt zu einem kleinen Streit um die Essensverteilung …
"Das hat ja damit nichts zu tun, aber mich kotzt das an, wenn die zwölfjährigen dummen Gören, die wo gerade zuhause waren und Mittag gegessen haben …"
"Keiner von denen war gerade zu Hause und hat Mittag gegessen!"
"Doch, aber …"
"Ist ja auch egal, ob jemand von denen zuhause hat oder nicht, weißt du, jeder, der hier her kommt, der hat einen Grund dafür!"
"Ne, is nicht so!"
"Nein, weißt du, das ist unsere Entscheidung!"
"Ja, solange alle was abkriegen …"
" Weißt du, wir sind halt ne soziale Einrichtung und wir machen keinen Unterschied …"
Die Streetworker verteilen "Komm-vorbei-Karten" an die Ausreißer – im Stadtbezirk Friedrichshain unterhält Karuna in Kooperation mit zwei Berliner Jobcentern Werkstätten für Ein-Euro-Fünfzig-Jobs. Dort sollen die Jugendlichen irgendwann vor der Türe stehen, aber die Hilfe zur Selbsthilfe nimmt nicht jeder an. Die Streetworkerinnen Maggy Flandergan und Birgit Herrmann:
"Ich hab heut einige Leute gesehen, die die letzten Wochen überhaupt nicht da waren, das ist schön, wenn man die dann irgendwann auch mal wiedersieht … und dass die sich auf positiv an einen erinnern und dass ne gewisse Vertrautheit auch da ist. Dass die sich öffnen …"
"Also es ist schon ne Hürde. Wir haben es hier auch wirklich mit Menschen zu tun, die große Vermittlungshemmnisse haben und auch prinzipiell einfach Hemmnisse haben, sich Menschen anzuvertrauen und besonders auch erwachsenen Menschen. Deswegen klappt das nicht immer so, aber wir versuchen natürlich unser Bestes und das gelingt insofern immer ganz gut – dass wir sie zumindest erst mal erreichen."
Zusätzlich zu den Ein-Euro-Fünfzig-Jobs gibt es bei Karuna ein "Tagelöhnermodell" – für die Jugendlichen, die vom Staat gar nichts kriegen. Einen Tag lang das eigene Fahrrad reparieren oder ein T-Shirt für den Eigenbedarf zu bedrucken wird von Karuna mit einem warmen Essen, guter Gemeinschaft und sieben Euro fünfzig bar auf die Hand honoriert. Es ist eine Alternative zum Schnorren, und Hunde dürfen mitgebracht werden.
"Es geht hier um Strukturen …"
Sagt Mark Lehmann von Karuna e.V. …
"… das heißt, das Jugendliche lernen, wieder an einem Tag zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort zu sein, nicht breit zu sein, also keine Drogen drin zu haben, oder wenigstens nur so wenig, dass sie arbeiten können, und das ist so unsere Aufgabe hier, und zugleich gucken wir dann auch, welche Potentiale hat der Jugendliche überhaupt. Die sind ja oft durch die Sucht sehr verschüttet, da sind wir oft überrascht, was da so verborgen ist, bei den Jugendlichen …"
Soja kommt seit November zu Karuna, jeden Tag. Ihre Hunde Raffnix und Sharon bringt sie mit. Auch sie hat einen Ein-Euro-Fünfzig-Job. Heute hat sie bereits ihr Fahrrad lackiert und ihre Schuhe repariert.
Von der Mutter abgehauen und obdachlos geworden war sie mit 14 Jahren.
"Auf der Straße zu leben war die bessere Alternative als bei meiner Mutter zu Hause, weil auf der Straße, da trifft man immer wieder auf Leidensgenossen, die in ähnlichen Situationen leben, es fing im Mauerpark an, der Mauerpark war dann sozusagen mein zweiter Wohnsitz … weil die Solidarität, die da unter den Leuten herrscht, die war einfach viel besser als zu Hause. Weil man hat sich gegenseitig geholfen, gegenseitig unterstützt, wenn jemand nen Pennplatz anzubieten gehabt hat, dann sind alle mitgegangen, obwohl man den gar nich kannte … War natürlich auch ne schwierige Zeit, so mit schnorren, hat ja auch nich immer so geklappt … ja."
Basti hat eine lange Karriere durch die verschiedensten Jugendhilfe-Instanzen hinter sich. Jetzt hat er eine eigene Wohnung und einen Ein-Euro-Fünfzig-Job bei Karuna.
"Ja, ich bin mit elf Jahren von zuhause weg, Schlussstrich gezogen und zu meiner Muddi gesagt: Muddi, bist meine Erzeugerin, mehr aber nich. Mit 16 bin ich auf de Straße, dann bin ich wieder in ne Betreuung gekommen, dann war ich mit 18 wieder auf der Straße, immer so n hin und her gewesen. Klauen, schnorren, Kumpels … Drogenverkauf, sowat macht man auch, ja? Also es is immer so, jenachdem wie du viel trinkst (lacht…) Auf der Straße bist de halt mit Drogen und Alkohol so zugepuscht, dass ick nich wirklich mitbekommen hab, was mit mir war. Immer dicht, hatte nie Probleme, hast dir einfach gar keinen Kopp um irgendwat gemacht …"
Ricardo ist vor Jahren von seinen Eltern in Neubrandenburg abgehauen. Wohnte mal hier, mal da. Irgendwann ging er bei Karuna ins Netz. Da dreht er jetzt kleine Filme. Für Ricardo ist alles anders geworden, sagt er ...
"Richtig; und vor allem auch ne Entwicklung zu sehen, und nicht irgendwas zu machen, das am Ende kein Ergebnis vorweist, vor allem nicht für sich selber, so. Die wenigsten Tätigkeiten, sag ich mal, sind von persönlichem Wert. Und das hier, auch wenn s nur ne Ein-Euro Fünfzig-Maßnahme ist, sag ich mal, da sind Sachen entstanden, die weitaus wertvoller sind als Blätter sammeln gegangen zu sein …"
Ricardo will auch später beruflich Filme machen. Basti schwärmt von seinem eigenen Fahrradladen. Und Soja traut man bei Karuna zu, ein Studium zu bestehen. Aber Soja träumt von einem Wohnmobil und davon, die Welt zu ihrem Zuhause zu machen.
"Was wär jetzt gewesen, wenn es Karuna nicht gäbe, mit dir?"
"Ich glaube, ich würde mittlerweile auf der Straße sitzen, beziehungsweise ich war abgewrackt. Denk ich. So, det is det Fazit. Obdachlos und abgewrackt."
"Als ich sechzehn war, da hatt ich gerade die schwierigste meiner Depressionen-Phasen überstanden … als ich mir dann meinen Hund angeschafft habe, meinen ersten Hund, Raffnix, da hab ich angefangen zu träumen: Ich wollt mir nen Wohnbus kaufen, und somit die Welt zu meinem Zuhause zu machen, dann hab ich angefangen, Schritt für Schritt darauf zuzuarbeiten. Ich hab meine Abschlüsse nachgeholt, nächstes Jahr hab ich meine drei Jahre Berufserfahrung voll, und dann hab ich die Möglichkeit, am Kolleg mein Abitur nachzuholen, dann brauch ich eigentlich nur noch n Führerschein und genügend Geld, mir nen Wohnbus zu kaufen …"
"… langsam ma son Knick in die Richtung bekommen, dass ma wieder berghoch geht … und … jetz versteh icks auch wat die meinten immer …"
"Was meinten die denn?"
"Na ja, guck dich ma an, guck ma dein Leben an … soll dein Leben so lange so weitergehen, wie lange soll dein Leben sein? Mit dreißig aufhören? Oder … Na ja …"
"Ja, aufm Alex … Schnorren, trinken … "
"Ja, also man kommt erst mal hier an. Kriegt man die erste Kippe, det erste Bier …"
"Ja, Kippe halt, denn kommt det erste Bier … dann schnorren wer nochn bisschen … dann wird sich noch n paar Bier geholt, dann ne Pulle Schnaps, und dann jeht det den janzen Tag so, Schnaps, Bier … irgendwelche andern Drogen, und dann ist der Tag auch schon wieder fast vorbei, dann heißt det dann irgendwann schlafen …"
"Jetzt hab ich bei nem Kollegen gepennt, drei Wochen zum Beispiel, die letzten Nächte hab ich ma in der U-Bahn gepennt, kommt halt mal vor … U-Bahn, S-Bahn, draußen durchmachen …"
"… so zwischen drei und fünfe, so zwischen drei und fünf Uhr morgens, wird det trotzdem arschkalt. Passiere, was wolle, denn is det wie Winter."
"Wir fangen jetzt erstmal hier oben an und sagen hallo … und arbeiten uns dann runter."
Frühjahr 2008. Berlin ist noch immer die Hauptstadt der Straßenkinder, auch 30 Jahre nach Christiane F. Doch zu den "Kindern vom Bahnhof Zoo" sind nach der Wende auch die Kinder vom Alexanderplatz dazugekommen.
Natascha Jäger und Ines Fornacon, Straßensozialarbeiter des Vereins "Off Road Kids", gehen bis zu fünf Mal die Woche über den Alexanderplatz, ihre "Klienten" besuchen, wie sie die Kinder und Jugendlichen der Straße nennen.
"Ich denke, was wir machen, ist eh ne Feuerwehrarbeit, dass wir gucken, wer sitzt auf der Straße, welche Problemlage ist da, und für denjenigen, der ne massive Heroinproblematik hat und daran was ändern möchte oder allein mit dem Gedanken spielt, daran was zu ändern, für den können wir ganz andere Wege bereiten als für jemanden, wo es reicht, dass wir uns mit den Eltern an einen Tisch setzen, ein klärendes Gespräch führen – wir können die Leute natürlich nicht auf lange Sicht intensiv betreuen, sondern wir vermitteln. Das ist unsere Aufgabe."
Ines und Natascha kennen die meisten ihrer Klienten schon länger. Vielen Ausreißern gemein ist: Sie sind auf der Flucht vor alkoholkranken oder gewalttätigen Eltern, viele Mädchen vor sexuellem Missbrauch. Auf der Straße glauben sie, das zu finden, was ihnen zuhause verwehrt blieb. Alexanderplatz, Rückseite. Bei frühlingshaftem Sonnenwetter. Zwei Dutzend der eher jüngeren Alexanderplatzbewohner umlagern den Neptunbrunnen, viele mit einem Bier in der Hand, und nicht ihrem ersten heute. Es herrscht Feierlaune.
"Ja, also die Leute sind halt ziemlich herzlich … Und wenn’s mir scheiße geht, sind sie auf jeden Fall für mich da. Und unterstützen mich, wo sie nur können, sozusagen. Auch wenn ich schnorren gehe … letztens musst ich halt Arztgebühren zusammenbekommen, plus Rezeptgebühr, und dann saßen wir da halt zu viert, und haben nur für mich mit geschnorrt. Damit ich meine 15 Euro zusammenbekomme. Ohne, dass sie was davon abbekommen haben. Ist ganz praktisch, diese Leute zu haben. Wenn man nicht mehr weiter weiß."
Mino ist abgehauen, nachdem sie von ihrer Mutter eingesperrt wurde. Mino lebte nur anderthalb Monate auf der Straße. Ihre Tage verbringt sie nach wie vor mit den anderen Ausreißern am Alexanderplatz, obwohl ihr das Jugendamt eine eigene Wohnung vermittelt hat. Mino hatte Glück, die Straßensozialarbeiter von Off Road Kids haben sie früh als Neuankömmling ausfindig gemacht.
"Ja, die haben mich sehr gut unterstützt, die waren die erste Anlaufstelle, wo ich gleich am nächsten Tag hingegangen bin, und mich dann weitervermittelt haben. Also zum Jugendamt mitgekommen, und zur Treberhilfe gebracht, die mir dann halt weitergeholfen hat, mit Wohnung und so weiter und so fort."
Die ersten Tage, die Ausreißer auf der Straße verbringen, sind entscheidend für die Streetworker. Wenn es gut läuft, werden sie aktiv, bevor die Straßenkinder sich ihr Netzwerk auf der Straße aufbauen. Es ein Wettlauf mit der Zeit, denn dieses Netzwerk besteht oft aus falschen Freunden, Drogen, Diebstahl, Prostitution. Und die Konsequenzen sind Abhängigkeit, Verwahrlosung und Krankheiten wie Hepatitis, Krätze, schlimmstenfalls HIV. Natascha und Ines achten daher besonders auf unbekannte Gesichter.
"… das ist ganz oft so: Situationen angucken, Leute angucken, wie verhalten die sich, wie sind die angezogen, wie frisch gewaschen sehen die aus, haben die n dicken Rucksack dabei, haben die keinen dabei."
Direkt auf dem Alexanderplatz, zwischen Kaufhof, Saturn und C&A, sitzen die Alteingesessenen der Szene. Straßenkinder waren sie mal, sie sind nicht einmal mehr Jugendliche, sie sind erwachsen. Aber der Straße gehören sie immer noch. Kiddy lebt seit 12 Jahren auf der Straße. Mit 16 floh er vor seinen Eltern, die ihn misshandelt haben.
Kiddy ist betrunken.
"Schnorren und rum asseln … überleben halt."
"Hast du n Traum, hast du n Ziel? Willst du hier weg? Nicht echt. Ich kenn nix anderes. Seit zwölf Jahren oder so … "
"Ich leb auf der Straße seit zwölf Jahren. Und ich kenn halt nichts anderes."
" Wo übernachtest du? Überall. Abrisshäuser, besetzte Häuser, bei Freunden … Überall halt. "
Das Leben auf der Straße hat ihn gezeichnet. Kiddy war früher am Bahnhof Zoo. Dann wechselte er zum Alex. Zeitweise gehörte er der "Saubande" an, einer äußerst gewalttätigen Straßenclique. Wegen der brutalen Übergriffe haben eine Zeit lang andere Straßenjugendliche den Alexanderplatz gemieden. Auch wegen ihres exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums ist die Saubande berüchtigt.
"Komischerweise sterben öfter ma Leute, und die ham dann halt ne Überdosis. Ich war früher ma am Bahnhof Zoo gewesen, und ich schätze ma, ja, zehn gute Freunde vielleicht, die alle tot sind … wegen Heroin oder so. Letztes Jahr is Hotte gestorben, dieses Jahr is n anderer noch ma gestorben, alle wegen Heroin. Aber wegen mit Absicht halt. Ne? Nich ausversehen. Nur, weil se kein Bock mehr hatten, ne … Selbstmord eben."
"Der Job geht manchmal schon sehr an die Grenzen, gerade eben wenn Fälle sind, wenn Leute versterben, andererseits haben wir Bewältigungsstrategien für uns entwickelt, dass wir eigentlich versuchen, das nicht mit nach Hause zunehmen und auch versuchen, da nen professionellen Abstand zu haben. Weil ansonsten kann man diesen Job nicht lange machen."
Unermüdlich drehen die Sozialarbeiter ihre Runden am Alex, Tag für Tag. Schütteln auch denen die Hände, bei denen vielleicht jede Hilfe zu spät kommt. Und immer in der Hoffnung, einem Ausreißer die frisch getroffene Entscheidung für das Leben auf der Straße ausreden zu können und mit den Eltern zu vermitteln.
"Jetzt keine großartigen Neukontakte … wobei es waren schon zwei drei dabei, ne – Richtig gut gelaufen ist es , wenn wir jemanden treffen, wo klar ist: Okay, da scheint ein Hilfebedarf vorhanden zu sein, sprech ich mal an, man verteilt die Karte, man führt ein kurzes Gespräch, oder auch ein längeres, verabredet sich für den nächsten Tag und kann dann loslegen. Das war heute nicht drin, aber dann versuchen wir’s halt morgen wieder."
Bis zu 20.000 junge Leute leben nach Schätzungen von Terre des Hommes auf der Straße. Aber genau weiß das keiner.
Markus Seidel, Gründer und Vorstandssprecher von Off Road Kids, ist der Meinung, es müsste in Deutschland keine Straßenkinder geben. Er schätzt, dass jedes Jahr dreihundert Minderjährige zu Straßenkindern werden …
"… und von denen schaffen unsere Streetworker in Berlin, Hamburg, Köln und Dortmund, etwa 170 bis 200 von der Straße zu holen. Das heißt dadurch gibt es durch unsere Arbeit und durch die Arbeit anderer, lokal arbeitender Vereine und Organisationen eigentlich nahezu keinen Minderjährigen, der auf der Straße leben muss, sondern normalerweise haben wir die Situation im Griff, solange wir arbeiten."
Neben den bundesweit vier Streetwork-Niedelassungen betreibt Off Road Kids zwei eigene Kinderheime im Schwarzwald. Ohne einen Cent Steuergeld - ausschließlich mit Spenden und Sponsorengeldern großer Konzerne. Deutschland, beklagt Seidel, habe das opulenteste, aber auch das ineffizienteste Jugendhilfesystem der Welt.
Auch deshalb hat "terre des hommes" das "Bündnis für Straßenkinder" gegründet. Das Kinderhilfswerk will sich so mit 25 anderen Organisationen intensiver um Straßenkinder kümmern – und mehr staatliche Gelder einfordern.
Der Verein Off Road Kids ist dem Bündnis allerdings nicht beigetreten. Sprecher Markus Seidel sieht darin keinen Nutzen. Auch geht er auf Distanz zu der Arbeitsweise anderer Vereine und Organisationen …
"Wir haben nur ein einziges Ziel, wir wollen die bestmögliche Perspektive für den einzelnen Jugendlichen erarbeiten, und das bedeutet, dass wir ihn auf der Straße nicht versorgen, um es ihm dort bequem zu machen. Bei uns gibt es nur Hilfe bei der Suche nach einer Perspektive, und unsere Büros sehen dann auch so aus, in unserem Büros finden sie eben keine Tischkicker, und keine Küche, und kein Sofa, bei uns finden sie eben Bürotische, Computer, an denen man recherchieren kann, und das genügt dann auch. Unsere Streetworker gehen an jedem Tag raus, suchen nach neuankommenden Jugendlichen, und versuchen dann auch, sie möglichst zügig in unsere Büros zu bekommen, und dort wird dann recherchiert, und üblicherweise auch innerhalb der nächsten vier fünf sechs Tage eine Lösung gefunden."
Seidel hält wenig von, wie er sagt, "Kuschelpädagogik".
Der Kleinbus des Berliner Vereins "Karuna" ist auf dem Weg zum Alexanderplatz. Mit vier Streetworkern. Im Kofferraum ein Trog warmer Suppe, Kaffee, Saft und Obst. Karuna ist ein Begriff aus der buddhistischen Ethik und beschreibt die Tugend des Erbarmens, der Liebe und des Mitgefühls. Streetworkerin Eva Funk:
"Also, ich denke grundsätzlich ist es so, dass wir einfach nen akzeptierenden Ansatz haben, und das wir sagen: Wir akzeptieren erst mal die Lebenseinstellung der Leute und das ist einfach das Leben auf der Straße. Und sie haben einen Grund dafür, weshalb sie da sind. Und wir wollen einfach erst mal dahin gehen und gucken: Warum leben sie da … Also jemand hat mal zu mir gesagt: Nee, ich will nicht in ner Wohnung leben, weil wenn ich in ner Wohnung lebe, dann hab ich was zu verlieren, und ich hab einfach nichts zu verlieren …"
Zwei mal wöchentlich parkt der Bus von Karuna vor einer Grünanlage am Alexanderplatz. Die Kinder und Jugendlichen der Straße geben ihr weniges Geld oftmals nicht für Essen aus, schon gar nicht für gesundes Essen.
Schnell bildet sich eine Traube um den Kleinbus. Die Streetworker verteilen Essen, Vitamintabletten, Kaffee, hören zu und geben Tipps.
Kaiser ist schon seit Jahren am Alex zu Hause. Er freut sich auf eine eigene Wohnung, die man ihm in Aussicht gestellt hat.
"Seit … vier Jahren … bin ich hier Alex eigentlich. Keine Lust mehr gehabt auf meine Eltern, also bin ich einfach abgehauen. Keene Lust mehr jehabt. Sachen jepackt und bin gegangen."
"Und wo wohnst du jetzt?"
" Jetze? Überall und nirgendwo. Auf der Straße."
"… nu red doch ma nicht so abwertend, nachher heißt det, wir sind alle Alkoholiker … Haha, Jaaa! "
"Träumen? Nee, ich habe keine Träume. Ich träume gar nichts."
" Oder wünschst du dir ein bürgerliches Leben?"
" Nein … Ne also komplett bürgerlich muss nicht sein …"
Na ja, wenigstens n Grundstandard haben … ne Wohnung, bisschen Geld, das reicht ja eigentlich schon. "
"N Job wär ja schon mal n Anfang. Ma aus dem Trott rauskommen!"
Zu den Kindern und Jugendlichen des Alexanderplatzes gesellen sich auch Feierabend- und Wochenend-Ausreißer, die ein ganz normales Teenager-Leben führen. Manche aus Abenteuerlust, manche aus Langeweile oder Neugier. Es kommt zu einem kleinen Streit um die Essensverteilung …
"Das hat ja damit nichts zu tun, aber mich kotzt das an, wenn die zwölfjährigen dummen Gören, die wo gerade zuhause waren und Mittag gegessen haben …"
"Keiner von denen war gerade zu Hause und hat Mittag gegessen!"
"Doch, aber …"
"Ist ja auch egal, ob jemand von denen zuhause hat oder nicht, weißt du, jeder, der hier her kommt, der hat einen Grund dafür!"
"Ne, is nicht so!"
"Nein, weißt du, das ist unsere Entscheidung!"
"Ja, solange alle was abkriegen …"
" Weißt du, wir sind halt ne soziale Einrichtung und wir machen keinen Unterschied …"
Die Streetworker verteilen "Komm-vorbei-Karten" an die Ausreißer – im Stadtbezirk Friedrichshain unterhält Karuna in Kooperation mit zwei Berliner Jobcentern Werkstätten für Ein-Euro-Fünfzig-Jobs. Dort sollen die Jugendlichen irgendwann vor der Türe stehen, aber die Hilfe zur Selbsthilfe nimmt nicht jeder an. Die Streetworkerinnen Maggy Flandergan und Birgit Herrmann:
"Ich hab heut einige Leute gesehen, die die letzten Wochen überhaupt nicht da waren, das ist schön, wenn man die dann irgendwann auch mal wiedersieht … und dass die sich auf positiv an einen erinnern und dass ne gewisse Vertrautheit auch da ist. Dass die sich öffnen …"
"Also es ist schon ne Hürde. Wir haben es hier auch wirklich mit Menschen zu tun, die große Vermittlungshemmnisse haben und auch prinzipiell einfach Hemmnisse haben, sich Menschen anzuvertrauen und besonders auch erwachsenen Menschen. Deswegen klappt das nicht immer so, aber wir versuchen natürlich unser Bestes und das gelingt insofern immer ganz gut – dass wir sie zumindest erst mal erreichen."
Zusätzlich zu den Ein-Euro-Fünfzig-Jobs gibt es bei Karuna ein "Tagelöhnermodell" – für die Jugendlichen, die vom Staat gar nichts kriegen. Einen Tag lang das eigene Fahrrad reparieren oder ein T-Shirt für den Eigenbedarf zu bedrucken wird von Karuna mit einem warmen Essen, guter Gemeinschaft und sieben Euro fünfzig bar auf die Hand honoriert. Es ist eine Alternative zum Schnorren, und Hunde dürfen mitgebracht werden.
"Es geht hier um Strukturen …"
Sagt Mark Lehmann von Karuna e.V. …
"… das heißt, das Jugendliche lernen, wieder an einem Tag zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort zu sein, nicht breit zu sein, also keine Drogen drin zu haben, oder wenigstens nur so wenig, dass sie arbeiten können, und das ist so unsere Aufgabe hier, und zugleich gucken wir dann auch, welche Potentiale hat der Jugendliche überhaupt. Die sind ja oft durch die Sucht sehr verschüttet, da sind wir oft überrascht, was da so verborgen ist, bei den Jugendlichen …"
Soja kommt seit November zu Karuna, jeden Tag. Ihre Hunde Raffnix und Sharon bringt sie mit. Auch sie hat einen Ein-Euro-Fünfzig-Job. Heute hat sie bereits ihr Fahrrad lackiert und ihre Schuhe repariert.
Von der Mutter abgehauen und obdachlos geworden war sie mit 14 Jahren.
"Auf der Straße zu leben war die bessere Alternative als bei meiner Mutter zu Hause, weil auf der Straße, da trifft man immer wieder auf Leidensgenossen, die in ähnlichen Situationen leben, es fing im Mauerpark an, der Mauerpark war dann sozusagen mein zweiter Wohnsitz … weil die Solidarität, die da unter den Leuten herrscht, die war einfach viel besser als zu Hause. Weil man hat sich gegenseitig geholfen, gegenseitig unterstützt, wenn jemand nen Pennplatz anzubieten gehabt hat, dann sind alle mitgegangen, obwohl man den gar nich kannte … War natürlich auch ne schwierige Zeit, so mit schnorren, hat ja auch nich immer so geklappt … ja."
Basti hat eine lange Karriere durch die verschiedensten Jugendhilfe-Instanzen hinter sich. Jetzt hat er eine eigene Wohnung und einen Ein-Euro-Fünfzig-Job bei Karuna.
"Ja, ich bin mit elf Jahren von zuhause weg, Schlussstrich gezogen und zu meiner Muddi gesagt: Muddi, bist meine Erzeugerin, mehr aber nich. Mit 16 bin ich auf de Straße, dann bin ich wieder in ne Betreuung gekommen, dann war ich mit 18 wieder auf der Straße, immer so n hin und her gewesen. Klauen, schnorren, Kumpels … Drogenverkauf, sowat macht man auch, ja? Also es is immer so, jenachdem wie du viel trinkst (lacht…) Auf der Straße bist de halt mit Drogen und Alkohol so zugepuscht, dass ick nich wirklich mitbekommen hab, was mit mir war. Immer dicht, hatte nie Probleme, hast dir einfach gar keinen Kopp um irgendwat gemacht …"
Ricardo ist vor Jahren von seinen Eltern in Neubrandenburg abgehauen. Wohnte mal hier, mal da. Irgendwann ging er bei Karuna ins Netz. Da dreht er jetzt kleine Filme. Für Ricardo ist alles anders geworden, sagt er ...
"Richtig; und vor allem auch ne Entwicklung zu sehen, und nicht irgendwas zu machen, das am Ende kein Ergebnis vorweist, vor allem nicht für sich selber, so. Die wenigsten Tätigkeiten, sag ich mal, sind von persönlichem Wert. Und das hier, auch wenn s nur ne Ein-Euro Fünfzig-Maßnahme ist, sag ich mal, da sind Sachen entstanden, die weitaus wertvoller sind als Blätter sammeln gegangen zu sein …"
Ricardo will auch später beruflich Filme machen. Basti schwärmt von seinem eigenen Fahrradladen. Und Soja traut man bei Karuna zu, ein Studium zu bestehen. Aber Soja träumt von einem Wohnmobil und davon, die Welt zu ihrem Zuhause zu machen.
"Was wär jetzt gewesen, wenn es Karuna nicht gäbe, mit dir?"
"Ich glaube, ich würde mittlerweile auf der Straße sitzen, beziehungsweise ich war abgewrackt. Denk ich. So, det is det Fazit. Obdachlos und abgewrackt."
"Als ich sechzehn war, da hatt ich gerade die schwierigste meiner Depressionen-Phasen überstanden … als ich mir dann meinen Hund angeschafft habe, meinen ersten Hund, Raffnix, da hab ich angefangen zu träumen: Ich wollt mir nen Wohnbus kaufen, und somit die Welt zu meinem Zuhause zu machen, dann hab ich angefangen, Schritt für Schritt darauf zuzuarbeiten. Ich hab meine Abschlüsse nachgeholt, nächstes Jahr hab ich meine drei Jahre Berufserfahrung voll, und dann hab ich die Möglichkeit, am Kolleg mein Abitur nachzuholen, dann brauch ich eigentlich nur noch n Führerschein und genügend Geld, mir nen Wohnbus zu kaufen …"
"… langsam ma son Knick in die Richtung bekommen, dass ma wieder berghoch geht … und … jetz versteh icks auch wat die meinten immer …"
"Was meinten die denn?"
"Na ja, guck dich ma an, guck ma dein Leben an … soll dein Leben so lange so weitergehen, wie lange soll dein Leben sein? Mit dreißig aufhören? Oder … Na ja …"