Oase des Friedens

Von Beatrice Ürlings |
Rund ein Fünftel der Israelis gehört zur arabischen Minderheit, die nicht in den palästinensischen Gebieten, sondern im Kernland Israels lebt. In einem kleinen Ort zwischen Jerusalem und Tel Aviv schicken die Bewohner, zu gleichen Teilen Juden und Araber, ihre Kinder gemeinsam zur Schule und in den Kindergarten. Ihnen gelingt im Kleinen, was im Großen unerreichbar erscheint.
Mit dem Trappistenkloster von Latrun alles angefangen: 1977 überließ das Stift dem Dominikanermönch Bruno Hussar einen kargen Hügel, um seine Utopie zu verwirklichen. Hussar wollte ein Dorf schaffen, in dem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Israels friedlich zusammenleben: Ob sie nun christliche oder moslemische Araber sind, gläubige oder säkulare Juden. Neve Shalom-Wahat al Salam war geboren.

Evi Guggenheim gehörte zu den ersten, die sich in der Ortschaft niederließen. Die gebürtige Schweizerin hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Sie ist Sozialtherapeutin und arbeitet wie die meisten Dorfbewohner im nahe gelegen Jerusalem. Evi blickt von der Terrasse ihres Hauses hinunter ins Ayalon Tal. Die Sonne strahlt glutrot durch endlose Olivenhaine, Zypressen wiegen sich sanft im Wind, Vögel zwitschern.

Neve Shalom-Wahat al Salam ist durchdrungen von äußerem und innerem Frieden. Doch die Eintracht ist fragil.

Evi Guggenheim: "Wir beherrschen das Ganze Tal bis nach Tel Aviv von der Höhe her. Leute, die militärisch-strategisch denken, die können sich nicht vorstellen, dass hier auf dem Hügel auch Araber leben. Sharon zum Beispiel waren wir ein Dorn im Auge, weil er 1948 hier verletzt wurde, und dann wollte er ein Dorf für Militärveteranen gründen - gerade neben uns, um uns zu kontrollieren!

Er wollte uns sogar zwingen, dass wir eine Munizipalität werden. Das wäre das Ende von unserer Idee gewesen. Es hat vieler, internationaler Interventionen bedurft, damit das nicht passiert. Selbst der Papst hat sich eingeschaltet."

Es ist Freitag Spätnachmittag. Religiöse Juden bereiten sich jetzt auf den Shabbath vor.

20 Minuten bevor die Sonne untergeht, zündet die Frau des Hauses die Kerzen an. Mit diesem Ritual beginnt das Fest. Auch Evi deckt den Tisch, doch auf das traditionelle Kerzenanzünden verzichtet die Jüdin. Ihr Mann Eyas ist Moslem. Die beiden Töchter werden nicht religiös erzogen. Solche Multikulti-Familie haben es schwer in Israel. Vor allem dann, wenn "Jom haAtzma'ut" ansteht: Der Feiertag erinnert an die Proklamation des jüdischen Staates durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948.

Evi Guggenheim: "Der jüdische Unabhängigkeitstag ist ein Thema bei uns im Dorf und in unserer Familie natürlich auch – wir mussten lernen zu akzeptieren, dass das zwei verschiedene Gefühle und Identifikationen sind. Für uns Juden ist es okay, dass wir uns freuen, dass wir nach 2000 Jahren Diaspora wieder einen eigenen Staat haben. Und es ist okay, parallel dazu anzuerkennen, dass dieser Tag eine Katastrophe für das palästinensische Volk war.

Man sieht hier im Dorf keine israelische Flagge am Unabhängigkeitstag, aus Rücksichtnahme auf das Leiden der Palästinenser. Das hat gehalten. Wir haben den Golfkrieg so durchgemacht, die erste Intifada, die zweite Intifada, die Libanonkriege und den Gaza-Krieg."

Penibel wird in Neve Shalom-Wahat al Salam darauf geachtet, dass keiner die Oberhand gewinnt. Selbst die Schulglocke spielt mal jüdische, mal arabische Lieder. Alle Kinder des Dorfes besuchen dieselbe Grundschule, die in ihrer Art einzigartig ist in Israel. Alle Klassen sind gemischt, der Unterricht ist bi-lingual und tri-religiös: christlich, muslimisch, jüdisch.

Die Schüler sprechen in einem Wirrwarr aus Arabisch und Hebräisch miteinander. Lehrerin Ayshe Najjar unterrichtet in zwei Sprachen zugleich. Sie ist für das Fach "Gischur" zuständig. Gischur bedeutet "Brücken bauen".

Ayshe Najjar: "Wir erheben nicht den Anspruch eine Insel zu sein, wie plädieren für Offenheit und schauen auf die Realität, die leider nicht friedlich ist. Ich spreche zum Beispiel mit den Kindern über die die Intifada, die palästinensischen Aufstände gegen Israel. Schauen sie, ich bin Araberin, und natürlich halte ich im Zweifelsfall mit den Palästinensern. Meine jüdischen Freunde hier haben dafür Verständnis.

Wir können über viele Sachen sprechen. Das ist gut, denn in den anderen Landsteilen bist du nicht so frei. Die Leute haben Angst, zu sagen was sie denken. Das merke ich ganz speziell an den Kindern, die von auswärts zu uns kommen: Sie sind es nicht gewöhnt, über Probleme zu sprechen."

Erziehung durch Toleranz und Verständigung heißt die Devise. Die Schule von Neve Shalom-Wahat al Salam ist so populär, dass sie inzwischen von 250 Kinder besucht wird. Mehr als Dreiviertel davon kommen aus den Nachbargemeinden. Spielerisch lernen alle den Umgang miteinander, die Nähe zu kulturell verschiedenen Freunden scheint selbstverständlich. Howard Shippin ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Der gebürtige Brite würde gerne noch mehr Kinder von auswärts aufnehmen, ja vielleicht sogar eine Sekundarstufe eröffnen. Aber dafür fehlt das Geld.

Howard Shippin: "Unsere Schule ist anerkannt und hat deshalb Anrecht auf staatliche Mittel – aber der Staat gibt nur das Minimum, denn das israelische Bildungsministerium ist gegen gemischte Schulen. Wir können nur dank Spenden überleben, von Freundeskreisen im Ausland zum Beispiel. Die Wirtschaftskrise macht uns sehr zu schaffen. Die Spendengelder sind letztes Jahr um die Hälfte eingebrochen.

Wir können unsere Schule nur weiterführen, weil die Lehrer Gehaltskürzungen akzeptiert haben und die Studiengebühren um 20 Prozent angehoben wurden. Die Eltern zahlen pro Kind jetzt 1000 Euro im Jahr."

Auf dem Parkplatz stürmen Kinder auf Schulbusse zu. Gleich gegenüber liegt die sogenannte Friedensschule, eine Bildungsstätte, wo man sich wissenschaftlich mit Nahostkonflikt beschäftigt. Die Referenten haben ihre Erfahrungen längst auch in andere Krisenregionen exportiert, nach Nordirland und Südafrika zum Beispiel. Hier führen sie Besuchergruppen aus aller Welt in Seminaren zusammen. Der Ansatz der Friedensschule ist insofern ungewöhnlich, weil das Institut nicht versucht zu unterstreichen, dass alle Menschen gleich sind.

Die jüdische Soziologin Nava Sonnenschein ist gegenüber allen Bevölkerungsgruppen Israels gleichermaßen kritisch eingestellt: Gut Dreiviertel der knapp 7,5 Millionen Landesbewohner sind Juden; die arabische Minderheit setzt sich aus arabischen Israelis im Kernland, sowie aus Palästinensern in teils besetzen, teils autonomen Gebieten zusammen.

Nava Sonnenschein: "Jeder soll seine Identität bewahren. Aber es sollten dieselben Rechte für alle gelten. Das ist in unserem Land nicht der Fall. Palästinenser wie Israelis verwehren einander den Zugang zu bestimmten Straßen und Städten. Das geschieht oft sehr willkürlich, es ist ein ständiger Schlagabtausch, der von beiden Seiten angefeuert wird.

Die Friedensschule versucht dem entgegenzuwirken, indem sie einflussreiche Berufsträger für ihre Sache gewinnt. Architekten zum Beispiel, denn die sitzen ja schließlich in den Ausschüssen, die etwa darüber entscheiden, ob der Staat Israel weiter an dieser Trennungsmauer bauen wird, die die Palästinenser im Westjordanland einkesseln soll."

Nava weiß, dass ihre Arbeit nur langsam Früchte tragen kann. Auch auf religiöser Ebene ist Neve Shalom-Wahat al Salam dem Rest des Landes weit voraus.

Abgeschirmt in einer lieblichen Mulde am anderen Ende des Dorfes liegt das "Haus des Schweigens". In einen Bau, der aussieht wie ein überdimensionales, weißes Ei, ziehen sich die Bewohner zurück, wenn sie nachdenken, meditieren oder beten wollen.

Das Haus des Schweigens bringt zum Ausdruck, dass alle Menschen, mögen sie auch getrennt sein durch die Verschiedenheit ihres Glaubens, in der Stille Gemeinschaft erleben können. Nach einer Moschee oder einer Synagoge suchen sie bei uns vergeblich, lacht Dorit Shippin, die sich selber als säkulare Jüdin bezeichnet.

Dorit Shippin: "Religionen lassen immer jemanden aus, selbst wenn die Leute aus demselben Kulturkreis stammen. Das Judentum zum Beispiel ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Nation: Es genügt, jüdische Vorfahren zu haben, um automatisch israelischer Staatsbürger zu werden. Wir wollen all den Unterschieden gerecht werden und haben deshalb einen spirituellen Ort geschaffen, der zugleich die spirituelle Idee des Dorfes symbolisiert. Das Konzept des Schweigens spricht alle an.

In der Bibel gibt es den Psalm 65, wo es heißt: "Gott, man lobt dich in der Stille", und im Koran sagt Prophet Mohammed, dass der Glaube nur in einem ruhigen Herzen wachsen kann."

Im Ortskern gibt es ein Café samt Souvernirshop für Gäste von auswärts. Das Friedensdorf empfängt 20.000 Touristen im Jahr. Manche sind so begeistert, dass sie ganz bleiben wollen.

500 Familien stehen derzeit auf der Warteliste. Aber es ist nicht einfach, in dieser heilen Welt zugelassen zu werden, die derzeit gerade mal 50 Familien umfasst. Der Dorfrat achtet mit Adleraugen darauf, dass es ebenso viele Araber wie Juden in der Gemeinde gibt.

Neuankömmlinge haben auch nur dann eine Chance, aufgenommen zu werden, wenn sie sich einem Psychologeninterview und einen Grafologietest unterziehen. Cafébesitzer Rayek Rizek, ein Araber, hat seiner Gemeinde schon zweimal als Bürgermeister gedient und ist immer ein bisschen melancholisch, wenn er an die alten Zeiten zurückdenkt.

Rayek Rizek: "Anfangs lebten wir hier wie in einem Kibbuz: Wir aßen zusammen, teilten alles. Die Grundstücke auf denen wir unsere Häuser bauten, befanden sich im Gemeinschaftsbesitz. Die jüngeren Generationen ticken anders, sie sind individueller und nicht bereit, die finanziellen Lasten der anderen mitzutragen.

Alle Parzellen sind inzwischen privatisiert. Alte Pioniere wie ich waren nicht damit einverstanden, aber immerhin konnten wir durchsetzten, dass keiner, der hier wegzieht, sein Haus mit Gewinn an die Nachfolgefamilie weiterverkauft. Du bekommst nur deine Investition zurück. Ohne Kompromisse geht gar nichts mehr. Wir sind wie Seefahrer auf dem Ozean: Wenn es Streit gibt, dann kannst du das Boot nicht zersägen, sonst ertrinken alle."

Die Wahrung solcher Grundüberzeugungen ist ein Dauerprojekt – auch auf rein zwischenmenschlicher Ebene. Nirgends zeigt sich das deutlicher als im Jugendclub "Nadi". Zwei Dutzend Teenager zwischen 13 und 15 Jahren, zu gleichen Teilen Juden und Araber, haben sich an diesem Abend eingefunden. Die Leiterin hat ein Brettspiel für sie organisiert.

Ähnlich wie bei "Mensch ärgere Dich nicht" geht es darum, die eigene Spielfigur so schnell wie möglich zum Zielkästchen zu ziehen. Der Würfel entscheidet, wie schnell die Spieler vorrücken dürfen. Im Prinzip hat also jeder dieselben Chancen. Aber: Es können auch Joker eingesetzt werden, die zu einer Änderung der Spielregeln berechtigen.

Jugendleiterin: "Wir versuchen, herauszufinden, ob die Jugendlichen die Regeln zu ihrem Vorteil ändern: Normalerweise machen sie das, denn wer gewinnt, bekommt Schokolade. Das ist natürlich sehr verlockend, zeigt aber auch, wie empfänglich wir alle dafür sind, unsere Macht auf Kosten anderer auszunutzen.

Wir sprechen mit den Teenagern darüber, was es für Konsequenzen haben kann, wenn man seine Mitmenschen wissentlich benachteiligt. Ob es sich nun Andersdenkende bei uns im Dorf handelt, oder um die Situation generell in Israel. Wir wollen sie dazu bewegen, dass sie Ebenbürtigkeit anstreben."

Ein lebendes Labor für den Frieden, hin- und hergerissen zwischen hehren Idealen und menschlichen Schwächen. Doch so schwierig die Balance mitunter zu halten sein mag, die Bemühungen sind es wert und überzeugen auch die Nachwachsenden: So etwas wie Landflucht gibt es nicht in Neve Shalom-Wahat al Salam. Die meisten Jugendlichen bleiben in ihrem Dorf wohnen.

Und sie sind bereit, dafür viel einzustecken. Eden ist er 15 Jahre alt und besucht ein Gymnasium in der Nachbarschaft. Dort geht es alles andere als pluralistisch zu. Manche seiner jüdischen Mitschüler schimpfen ihn einen Verräter. Aber auch das Verhältnis zu seinen arabischen Kindheitsfreunden gestaltet sich zunehmend schwierig.

Eden: "Juden wie ich müssen, wenn wir 18 Jahre alt sind, für drei Jahre zum Militär. Ich bin gerade von einem Vorbereitungskurs zurück und sehe dem ganzen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Aber ich weiß, dass ich mein Land verteidigen muss. Ohne die Armee wäre Israel nicht sicher, die palästinensischen Kämpfer von Hisbollah und Hamas würden uns andauernd angreifen.

Denen ist es doch egal, dass ich ebenso den Frieden will, wie meine gemäßigten, arabischen Freunde hier im Dorf. Aber auch die waren nach meinen Vorbereitungskurs böse auf mich. Sie warfen mir vor, dass ich mich dazu bereit erklärt habe, unter Umständen gegen ihre Landsleute zu kämpfen, was ja stimmt. Wir haben viel geredet und jetzt vertragen wir uns wieder."

Draußen vor dem Jugendclub zieht ein Armee-Helikopter vorbei. 1997 kam der Sohn einer jüdischen Familie von Neve Shalom-Wahat al Salam bei einem Helikoptereinsatz der israelischen Armee im Libanon ums Leben. Die Eltern wollten ihm ein Denkmal im Dorf errichten.

Die arabischen Nachbarn waren dagegen. Viele ihrer Landsleute sind bei der Staatsgründung Israels in den Libanon geflüchtet sind und leben immer noch dort. Schließlich einigte man sich auf einen Mittelweg:

Am öffentlichen Basketballplatz gibt es jetzt eine kleine Plakette: "Sohn des Friedens, gestorben im Krieg" ist darauf zu lesen. Viele sehen in Neve Schalom-Wahat al Salam einen praktizierten Traum. Die Bewohner können ihn aber nur leben, weil sie immer wieder über ihren eigenen Schatten springen.