Nutzen bei Krebstherapie

Freie Radikale zu Unrecht verdammt?

Wurst aus Alge mit vielen Antioxidantien - aber: Vorsicht!
Wurst aus Alge mit vielen Antioxidantien - aber: Vorsicht! © picture alliance / dpa / Remi Böttcher
Von Udo Pollmer · 23.10.2015
Manch selbsternannter Gesundheitsapostel hat die freien Radikale zum Todfeind erklärt. Allerdings ist genau das sehr gefährlich - denn sie tun viel Gutes. Und die angeblichen Good Guys, die Antioxidantien, sind selbst ganz schön böse.
Es gibt Mythen, die sind einfach nicht totzukriegen. Manchmal jedoch sind diejenigen schneller tot, die an solche Mythen glauben: Zum Beispiel an die Schnapsidee, Antioxidantien aus Obst und Gemüse, zur Not auch aus Wein und Tee würden unsere Zellen schützen und dem Krebs "die rote Karte zeigen". Fernseh-Mediziner versprechen, dass Antioxidantien wie Vitamin C, Vitamin E oder auch Selen im Körper freie Radikale jagen. Diese würden mächtig oxidativen Stress machen und der wiederum sei für so ziemlich alle Zivilisationskrankheiten verantwortlich.
Die freien Radikalinskis dringen, so lese ich, "wie kleine Diebe" heimlich in die Zellen ein, um sich dort ein Elektron "zu klauen". Auf ihrer Diebestour zerstören sie gesunde Zellen. Die Aussage ist im weitesten Sinne nicht mal falsch – denn der Körper bildet ja selbst gezielt freie Radikale. Er erzeugt im Blut Wasserstoffperoxid, damit bekämpft er tatsächlich "gesunde Zellen", nämlich Krankheitserreger.
Einige Radikale sind gar eine Art Gesundheitspolizei
Wasserstoffperoxid-Radikale sind eine Art Gesundheitspolizei. Der aggressive Stoff macht nicht nur Bazillen den Garaus, sondern tötet auch kranke Körperzellen ab. Er sorgt für den kontrollierten Zelltod. Genau das macht den Unterschied zwischen normalen Zellen und Krebszellen aus. Krebszellen sind unsterblich und wuchern ungebremst weiter. Alle anderen müssen nach getaner Arbeit neugebildeten Zellen Platz machen.
Wasserstoffperoxid ist im Übrigen ein wunderbarer Toilettenreiniger, daneben verwandelt es zuverlässig dunkelhaarige Schönheiten in attraktive Blondinen. Egal ob als Blondiermittel oder als Abwehrstoff des Immunsystems, es ist das genaue Gegenteil von Antioxidantien wie Vitamin E. Füttert man krebskranken Mäusen gesunde Kost mit besonders viel Vitamin E, dann wachsen die Tumoren umso schneller. Dabei konnten die Forscher zeigen, dass die Vitamine tatsächlich die freien Radikale verminderten – aber dummerweise nur im kranken Gewebe. Denn Krebsgewebe reichert fleißig Radikalfänger wie Vitamin C oder Vitamin E an, um sich damit vor dem Immunsystem zu schützen.
Es gibt ja nicht nur Experimente mit Tieren – die Resultate bei der Einnahme von Antioxidantien, von Vitaminen zur Krebsprävention sind reichlich ernüchternd. Ein Teil dieser Studien musste aufgrund von Wirkungslosigkeit oder sogar steigenden Krebsraten abgebrochen werden – so auch die im Jahr 2001 begonnene "SELECT"-Studie mit 35.000 Männern.
Unlängst wurden die Teilnehmer abermals nachuntersucht. Von Jahr zu Jahr werden die nachteiligen Effekte deutlicher: Wer auf ärztlichen Rat bei normalen Selenwerten noch Extra-Selen geschluckt hatte, erkrankte fast doppelt so häufig an einer gefährlichen Form von Prostatakrebs. Wer hingegen niedrigere Selenwerte hatte und Vitamin E schluckte, verdoppelte ebenfalls sein Risiko. Ähnlich unerfreuliche Ergebnisse liegen auch mit anderen Wunderpillen vor wie Lycopin aus Tomaten, Catechinen aus grünem Tee oder Vitamin D aus der Apotheke.
Antioxidantien können die Krebsbekämpfung behindern
Es ist sicher kein Zufall, dass die meisten Krebstherapien – wie Chemo oder Bestrahlung – reichlich freie Radikale produzieren, um die Verteidigungslinien des Tumors zu überwinden und das erkrankte Gewebe zu zerstören. Mit Antioxidantien werden die Therapien nicht etwa unterstützt, sondern unwirksam.
Inzwischen scheint die Medizin die biochemischen Tatsachen nicht mehr in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn nach 25 Jahren gescheiterter Therapie mit Radikalfängern, versucht man es endlich mal mit dem Gegenteil. Im Tierversuch funktioniert es schon. Wer die "gesunden" Antioxidantien in die Schranken weist, kann den Tumor erfolgreicher zurückdrängen. Übrigens: Die Idee ist so neu nicht. In einem Werk über die Bedeutung der Vitamine schrieb der Schweizer Gynäkologe Professor Hans Guggisberg bereits 1935: "Die Ergänzungsstoffe haben auch ihre Schattenseite. Sie begünstigen das Wachstum der malignen Tumoren."
Auch hier gilt wieder einmal: Essen Sie doch was Sie wollen – aber schlucken Sie nicht jeden Unfug, der Ihnen aufgetischt wird. Mahlzeit!
Literatur
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