Nur wer im Zwiespalt lebt, lebt intensiv

Von Günter Kunert |
"In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bau‘n..." besagt selbstbekennerisch eine Zeile aus einem seiner frühen Gedichte. Freilich könnte dieser Satz auch als sein Lebensmotto gelten.
Wer oder was war Brecht? Unbestritten eine Jahrhundertfigur, wohl der weltweit bekannteste Dichter seiner Epoche. Damit ist natürlich über die Person noch gar nichts ausgesagt. In seinem Ich spiegelten sich die ungeheuren Diskrepanzen der Zeit wieder, Widersprüche, die einen anderen vielleicht zerrissen hätten. Ein Revolutionär, der es verzog, das Vaterland der Revolution nicht als Exil, sondern nur als Durchgangsstation ins kapitalistische Amerika zu nutzen. Dennoch: er hatte, obwohl unnötig, dem, wie er selber meinte, "verdienten Mörder seines Volkes" ebenfalls gehörigen Tribut gezollt. Das wird wohl kaum außerhalb der Germanistik überleben, diese "Erziehung der Hirse", diese Verbeugung vor Stalin, oder Gedichte wie "Beim Bau der Moskauer Metro", wo die stolzen Arbeiter stolz das Werk ihrer Hände berühren, voller Freude und Genugtuung. Dass dem nicht so war, hätte er wissen können. Unter der Erde schufteten Sklaven und Zwangsarbeiter, Gefangene des Gulag. Freilich verständlich wird solch weltlicher Hymnus nur durch Hitler, der auch ihn vertrieben hatte und durch die Opfer der Sowjetunion besiegt wurde. Ambivalenzen, die nur begreifen kann, wer die unerhörten Auseinandersetzungen jener Ära miterlebt hat.

Um gar nicht erst von den Frauen zu reden, die ihm gutgläubig oder zumindest skeptisch vertrauten. Woher diese Attraktion auf das weibliche Geschlecht? Besaß Brecht eine Anziehungskraft von besonderer Art? Ja, die besaß er wirklich. Hätte ich ihn nicht selber gekannt, im Nachhinein wäre mir dieser seltsame Magnetismus unverständlich gewesen. Etwas ging von ihm aus, eine besondere Aura, der keineswegs bloß Frauen unterlagen. Von Charme zu sprechen, wäre grundfalsch; er vermittelte einem eine besondere Nähe, eine Wichtigkeit, eine Distanzlosigkeit, die einen gefangen nahm.

Selbstverständlich war er auch ein Schlitzohr, ein Schlaumeier, der genau wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Deshalb erklärte er vor dem McCarthy-Ausschuss, er sei nie Kommunist gewesen, war ja auch vorsichtshalber nie der Partei beigetreten. Und ehe er aus der Schweiz in die DDR übersiedelte, besorgte er sich mit einem Trick die österreichische Staatsbürgerschaft: dadurch stand ihm fernerhin die Welt offen. Er änderte auf Wunsch dumpfer Funktionärsgehirne seine Oper "Verhör des Lukullus" in "Verurteilung des Lukullus". Auf dem offenen Lastwagen zusammen mit Helene Weigel zog er bei den Maifeiern winkend an der DDR-Führung vorbei; daheim und unter wenigen Augen waren die Funktionäre für ihn alle Verbrecher. Und notierte nach dem 17. Juni 1953, nach dem Arbeiteraufstand, am besten wäre es, die Regierung wähle sich ein anderes Volk.

Er stürzte sich, das leibliche Wohl ignorierend, in die Regiearbeit an seinen Stücken, von denen der größere Teil Bearbeitungen von Vorlagen und Vorgaben waren. Sein Welterfolg "Die Drei-Groschen-Oper" stammte aus dem 18. Jahrhundert als "Beggars Opera" von John Gay. Einwände gegen Adaptionen beantwortete Brecht mit dem knappen Satz: "Ich bin etwas lax in Fragen des geistigen Eigentums".

In seinen DDR-Jahren ließ die Produktivität nach, das Theater, dessen Aufführungen er dokumentieren ließ und für allgemein verbindlich erklärte, fraß ihn auf. Aber er hatte sich wohl der Bestie freiwillig zur Verfügung gestellt, vermutlich um den ideologischen Narreteien der herrschenden Kaste in seinem Refugium, der Probebühne, zu entgehen.

Ja, ich, der junge Autor, war fasziniert von ihm; sein Interesse an meinen Texten, in denen er herumkorrigierte, schien mir glaubhaft und ehrte mich. Für mich ist Brecht keineswegs ein Stein des Anstoßes geblieben, sondern die personifizierte Ambivalenz mit einem Werk, an dem man sich reiben konnte. Just dieser ihm inhärente Zwiespalt hält ihn bis heute lebendig, denn wer im Zwiespalt lebt, lebt zwar nicht angenehm, doch immerhin intensiv. Diese Intensität hat Brecht uns vorgeführt. Und so trostlos es klingen mag, gerade die Disharmonie unserer Gegenwart schützt Brechts Werk vor Staub und Rost. Wir sind noch lange nicht über Brecht hinaus.

Günter Kunert, geboren 1929 in Berlin, wurde von Johannes R. Becher entdeckt und protegiert. Bis zu seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik 1979 galt Kunert in der DDR als einer der meistgelesenen Autoren. Sein vielseitiges Werk umfasst u.a. Gedichte, Essays, Erzählungen, Märchen, Reisejournale und Kinderbücher. 1976 gehörte Kunert zu den Erstunterzeichnern des Protestbriefes einer Reihe von DDR-Schriftstellern gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Zu den zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen Kunerts zählen u.a. der Heinrich-Mann-Preis, der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, der Hölderlin-Preis, der Hans-Sahl-Preis und der Georg-Trakl-Preis. Kürzlich erschienen ist Kunerts Aufzeichnungsbuch "Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast".