Nur Technikversagen?

Von Stephan Speicher |
Der Wintereinbruch, ein keineswegs dramatischer Wintereinbruch, hat die Deutsche Bahn schwer getroffen und mehr noch ihre Fahrgäste. Die Berliner S-Bahn kommt aus ihrer Dauermisere, ganz unabhängig von den Widrigkeiten der Saison, auch in den nächsten Monaten nicht heraus; mit Glück wird sie Ende des Jahres 2010 wieder ungefähr so fahren, wie es vorgesehen und auch vertraglich vorgeschrieben ist. Und die Banken wurden vom Jahreswechsel überrascht, die Scheckkarten funktionierten über den Wechsel 09/10 hinaus nicht mehr.
Was ist da los? Ist es nur unsere wachsende Mäkeligkeit, die Lust sich aufzuregen, die uns das Gefühl einimpft, nichts klappe mehr? Dass wir alle ungeduldiger werden, gereizter reagieren, den Autoritäten weniger Kredit einräumen, ja, das wird wohl so sein. Und doch ist es mit dem Hinweis auf gesteigertes Kritikastertum nicht getan.

Es hat sich etwas geändert. Für den Schienenverkehr sind die Gründe bekannt: Bei der Deutschen Bahn fehlt es an Reserven, beim rollenden Material wie beim Personal. Die Reserven, die man früher bereithielt, waren teuer, daran wird jetzt gespart. Auch für die Ausfälle der Berliner S-Bahn hat die Bahn AG als Muttergesellschaft die Gründe benannt: Fehlentscheidungen der Unternehmensleitung, die an der Instandhaltung sparte. Vergleichbar wird es bei den Banken gewesen sein: Wohl wurde die Codierung der Scheckkarten zugekauft, von einem Spezialisten für Datentechnik. Aber man hat sich um die technische Zuverlässigkeit der eigenen Produkte auch nicht richtig gekümmert.

Lange wurde in Deutschland der übermächtige Einfluss der Ingenieure auf ihre Firmen beklagt. Die technische Raffinesse werde hochgedreht, der wirtschaftliche Nutzen darüber vernachlässigt. Tatsächlich entsprach die Fixierung auf die ingenieurwissenschaftliche Seite der Unternehmensführung einer alten Tradition. Die Industrialisierung in Deutschland setzte später ein als in England oder Belgien, sie war keine mehr der findigen Bastler, sondern der wissenschaftlich ausgebildeten Ingenieure, Physiker, Chemiker. Auf den forschungsnahen Gebieten der Elektrotechnik, des Spezialmaschinenbaus einschließlich der Feinmechanik, der Chemie und Pharmazie hatte die deutsche Wirtschaft ihre großen Stärken. So entwickelten sich Betriebe, die einen eigenen Stolz in die Qualität ihrer Leistungen setzten. Das strahlte aus, Deutschland ist eine Region, die seit je stärker als andere von der Industrie und weniger von Dienstleistungen lebt.

Diesen Produktstolz wird es immer noch geben. Aber der Wirtschaftlichkeitszwang ist stärker geworden. Und das Bewusstsein, das einzelne Unternehmen diene auch der Volkswirtschaft, scheint nachzulassen. Volkswirtschaftlicher Nutzen, das ist eine Größe, die ähnlich wie das Gemeinwohl oder das Beste des Staates zerrieben worden ist, zerrieben zwischen der linken Kritik an dem womöglich ideologischen Charakter solcher Begriffe und der vulgärliberalen Annahme, Wirtschaften und Leben überhaupt sei nichts anderes als striktes Verfolgen des eigenen Vorteils. Das Management jedenfalls muss sich heute auf zwei Märkten bewähren: einmal auf dem der Produkte und ihrer Kunden, die zufriedenzustellen teuer ist. Und dann auf dem Kapitalmarkt, der Kostensenkungen verlangt - und das heißt oft Qualitätsminderung.

Kostensenkung war immer ein Ideal des Wirtschaftens, jetzt aber wird es von außen auferlegt, von Instanzen, die die technischen Zwänge nicht kennen. In der liberalen Idealwelt ist das ein nur scheinbarer Konflikt. Auf lange Sicht löst er sich auf, denn das Unternehmen, das seine Kunden nicht zufriedenstellt, mit anderen Worten: einen volkswirtschaftlichen Nutzen nicht erbringt, kann dauerhaft keine Gewinne machen. Die berühmte Äußerung des Adam Smith, wir erwarteten unser Brot nicht vom Wohlwollen des Bäckers, sondern von der Wahrnehmung seiner ureigenen Interessen, meint genau dies: Smith rühmte hier nicht einfach den Egoismus der Wirtschaftssubjekte, sondern deren wechselseitige Verbundenheit: "Das Prinzip, das der Arbeitsteilung zugrunde liegt" heißt das einschlägige Kapitel. Doch diese Idealwelt will nicht mehr richtig funktionieren. Die zwei Märkte bewegen sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Auf dem der Kunden dauert es lange, Vertrauen zu gewinnen. Der Kapitalmarkt aber ist ein jäher Markt. Auf diesem Markt wird über Karrieren entschieden. Da muss gegebenenfalls dann die Qualität der Leistungen zurückstehen und die Zufriedenheit der Kunden auch.

Stephan Speicher, Jahrgang 1955, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik in Münster und Bonn. Nach einigen Jahren als Wissenschaftlicher Angestellter für Neuere Germanistik an der Universität Wuppertal wechselte er in den Journalismus. 1991/92 war er Redakteur des Berliner Tagesspiegels, 1992 - 1996 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1996 – 2007 bei der Berliner Zeitung. Seit 2008 arbeitet er für die Süddeutsche Zeitung.