NSU-Morde

Die Perspektive der Opfer fehlt

Ibrahim Arslan im Gespräch mit Britta Bürger · 08.09.2020
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Vor 20 Jahren wurde der Blumenhändler Enver Şimşek das erste Opfer des rechtsextremen NSU. Noch immer befasst sich die Gesellschaft viel zu wenig mit den Angehörigen, klagt Ibrahim Arslan. Er überlebte den Brandanschlag von Mölln im Jahr 1992.
Am 9. September 2000 wurde der Blumenhändler Enver Şimşek in seinem Lieferwagen in Nürnberg durch Schüsse in den Kopf so schwer verletzt, dass er zwei Tage später starb. Şimşek war das erste Opfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dessen Mordserie erst Jahre später aufgedeckt wurde.
20 Jahre später ist aus Sicht der Betroffenen nicht viel passiert, was die Aufarbeitung der rassistischen Morde angeht, sagt Ibrahim Arslan. Er überlebte 1992 den rechtsextremistischen Brandanschlag von Mölln, bei dem drei seiner Familienmitglieder starben.
"In puncto rechtsextreme Übergriffe hat sich in Deutschland leider wenig verändert. Wir haben nicht nur den Anschlag in Halle gesehen und den Mord an Walter Lübcke, sondern auch am 19. Februar die rassistischen Morde an neun Menschen in Hanau. Da sehen wir auch, dass rassistische Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten in Deutschland leider eine Kontinuität haben und dem auch nicht entgegengetreten wird."
Ibrahim Arslan, Enkel des Möllner Opfers von 1992 Barhide Arslan, auf einer Pressekonferenz zur Terrorzelle NSU in Berlin im November 2012
Ibrahim Arslan überlebte als Siebenjähriger den Anschlag von Mölln 1992.© dpa/Hannibal Hanschke
Und auch von staatlicher Seite habe es wenig Aufklärungswillen gegeben, beklagt Arslan:
"Das macht mir Angst, wenn ich weiß, dass heute der Verfassungsschutz V-Männer ausbildet, und zwar aus der Naziszene. Aus diesem Grund kann ich nicht ausschließen, dass die Leute, die unser Haus angezündet haben, heute eventuell für den Staat als V-Männer arbeiten. Das macht mir Angst."

Keiner redet mit den Angehörigen

Es werde zu wenig gefragt, wie es den Angehörigen der Opfer geht, findet Arslan. Auch die Familie Şimşek fühlte sich alleingelassen. Sie seien elf Jahre lang als Hauptverdächtige befragt worden, ohne dass überhaupt in andere Richtungen ermittelt worden wäre. Er vermisst Solidarität mit den Opfern:
"Wenig ist bis heute getan worden, um eine solidarische Entschädigung zu leisten. Bis heute warten die Familienangehörigen aller NSU-Opfer auf eine Entschuldigung von medialer Seite, von der Politik, aber auch von uns als Gesamtgesellschaft, die wir einfach blind die Zeitungen weitergeblättert haben, als wir ‚Dönermorde‘ gelesen haben."

Das Wort opfer neu definieren

Arslan hat zusammen mit Angehörigen von Opfern rassistische Gewalt das Buch "Die Angehörigen" geschrieben. Darin schildern die Betroffenen ihre Erfahrungen und fordern Solidarität ein. Es sei für viele ein befreiendes Gefühl, wenn sie ihre Erlebnisse schildern können, berichtet Arslan.
Er hofft, dass sich die Aufmerksamkeit verschiebt: weg von den Tätern und hin zu den Opfern:
"Wir reden täglich im Bildungssystem, aber auch im Fernsehen über die Täter. Aber keiner redet über die Angehörigen oder über die Opfer. Das möchten wir als Betroffene ändern, indem wir die Betroffenenperspektive hervorheben und das Wort Opfer neu definieren, es mit Stärke befüllen und es nicht als schwaches Wort wiedergeben, sondern als ein handlungsfähiges Subjekt in den Vordergrund rücken wollen."
(abu)
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