NSA-Spähaffäre "erinnert an kolonialistische Zeiten"

Wolfgang Hoffmann-Riem im Gespräch mit Britta Bürger |
Der ehemalige Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem fordert von der Bundesregierung, beim Datenschutz auf der Einhaltung deutscher Gesetze zu bestehen. Zudem müsse versucht werden, internationale Abkommen zu schließen.
Britta Bürger: Die Enthüllungen über das Überwachungssystem des NSA haben bei jedem Einzelnen große Verunsicherung ausgelöst. Es ist der Eindruck entstanden, dass unser Grundgesetz keinen ausreichenden Schutz bietet, dass wir über unsere Rechtsordnung neu nachdenken müssen. Genau das wollen wir im Folgenden tun mit dem Rechtswissenschaftler Wolfgang Hoffmann-Riem. Er war als ehemaliger Verfassungsrichter jahrzehntelang federführend beteiligt an Urteilen zu Datenschutz und digitaler Kommunikation, vom Volkszählungsurteil über den großen Lauschangriff bis hin zur Online-Durchsuchung. Guten Morgen, Herr Hoffmann-Riem.

Wolfgang Hoffmann-Riem: Guten Morgen, Frau Bürger.

Bürger: Ist ein Insider wie Sie genauso überrascht vom Ausmaß der Ausspähung wie die Mehrheit der Bevölkerung?

Hoffmann-Riem: Ja, ich war nicht darüber überrascht, dass es geheimdienstliche Überwachungen gibt, wohl aber über die Intensität und Breite der Maßnahmen, die jetzt bekannt geworden sind. Dass etwa die englische Regierung sogar ihre Konferenzgäste überrascht, hätte ich in einem schlechten Krimi erwartet, aber nicht in der politischen Realität.

Bürger: Über 30 renommierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben in ihrem offenen Brief geschrieben: "Deutschland ist ein Überwachungsstaat". Und der Blogger Johnny Haeusler hat bei uns im Programm noch einen Schritt draufgelegt:

"Ich glaube, wenn man es auf ganz simple und vielleicht ein bisschen polemische Formeln runterbricht, ist es am einfachsten: Ich finde, dass da ein Apparat aufgebaut worden ist – wenn das alles so stimmt, wie wir es erfahren haben –, der absolut mit der Stasi vergleichbar ist, und ich glaube, so kann man das auch Leuten nahebringen, die sich jetzt vielleicht für die technischen Details nicht interessieren. Und dagegen lohnt es sich schon, aufzustehen, absolut."

Bürger: Deutschland ist ein Überwachungsstaat, mit der Stasi sei dieser Apparat vergleichbar. Herr Hoffmann-Riem, würden Sie diesen massiven Vorwürfen zustimmen?

Hoffmann-Riem: Schriftsteller dürfen übertreiben und dramatisieren und Blogger dürfen provozieren, und das ist für beide Begriffe, glaube ich, so der Fall. Auch ich bin besorgt über das Ausmaß der Ausspähaktion, aber ich denke nicht, dass Deutschland deswegen ein Überwachungsstaat ist. Wir haben in Deutschland nicht nur ein gutes Grundgesetz, sondern wir haben durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts viele Sicherungen für Persönlichkeitsschutz geschaffen, stärker als in anderen Staaten. Und natürlich gibt es – und zwar auch in rechtsstaatlich einwandfreier Weise – Maßnahmen der Überwachung, etwa zu Zwecken der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr, aber diese sind rechtsstaatlich in Deutschland begrenzt, sie unterliegen rechtsstaatlicher Kontrolle, auch Rechtsschutz. Das schließt nicht aus, dass es Maßnahmen gibt, die außerhalb des Rechts erfolgen. Dafür ist dann wieder der Rechtsstaat da, dass er die Bahnen begehen hilft, die der Rechtsstaat vorsieht.

Bürger: Und doch ist ja Fakt: Es werden Daten gesammelt. Die Telekommunikationsfirmen hängen mit drin, wie wir heute lesen, es wird Kommunikation gespeichert und analysiert. Welche Grundrechte werden hier unter Umständen verletzt?

Hoffmann-Riem: Zunächst mal, das habe ich ja eben schon ausgeführt, ist nicht alles, dass nicht alles, was dort geschieht, gleich eine Verletzung von Grundrechten ist. Wichtig ist aber, dass es Grundrechte gibt, die hier einen Maßstab geben: Das ist einmal das Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit, das ist auch das Grundrecht auf Schutz der Wohnung. Dann gibt es das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das im Volkszählungsurteil vom Bundesverfassungsgericht entwickelt worden ist, und in der letzten Entscheidung zur Online-Durchsuchung ist eine weitere Konkretisierung erfolgt, dass nämlich auch informationstechnische Systeme als solche vor Infiltration und Manipulation geschützt sind.

Solche Grundrechte sind zunächst mal der Ausdruck einer Freiheitssicherung, aber sie unterliegen auch Grenzen, und etwa zu Zwecken der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr dürfen in Grenzen auch Beschränkungen vorgenommen werden. Deswegen sind seit Jahrzehnten etwa Telefonüberwachungen zulässig, es sind auch gewisse Erfassungen von Datenverkehrsmaßnahmen zulässig – aber eben in bestimmten Grenzen. Und wir müssen darauf achten, und dafür sind dann auch die Gerichte und das Bundesverfassungsgericht insbesondere da, dass diese Grenzen auch im realen Fall eingehalten werden. Und wenn das jetzt nicht der Fall war, dann muss hart zugegriffen werden.

Wolfgang Hoffmann-Riem als Richter am Bundesverfassungsgericht 2008
Wolfgang Hoffmann-Riem war von 1999 bis 2008 Richter am Bundesverfassungsgericht.© dpa / picture alliance / Uli Deck
"Es gibt keine Immunität für Geheimdienstler"
Bürger: In welchem Punkt war es denn nicht der Fall? Wo, würden Sie sagen, werden die Grenzen unseres Rechtssystems berührt?

Hoffmann-Riem: Nun haben wir es zunächst mal im Wesentlichen mit Maßnahmen von ausländischen Stellen zu tun, und das ist in der Tat eine schwierige Problematik. Erster Punkt: Wenn etwa Amerikaner in Deutschland Ausspähaktionen vornehmen, dann sind sie an deutsche Gesetze gebunden. Es gibt keine Immunität für Geheimdienstler aus anderen Staaten in Deutschland. Wenn ihnen dabei deutsche Behörden behilflich sein sollten, dann kommt sogar in Betracht, dass man das als Maßnahmen der deutschen Staatsgewalt behandelt und damit die normalen Gesetze auf diese anwendet.

Schwieriger ist es, wenn Ausspähaktionen außerhalb Deutschlands erfolgen, etwa, indem Kabel im Atlantik angezapft werden. Da haben wir jetzt ein besonderes Problem der Informationsgesellschaft, dass die Information global geworden ist. Selbst eine E-Mail, die Sie mir von Berlin nach Hamburg schicken, kann auf dem Weg zu mir einmal um den ganzen Globus reisen, also auch in diesem Kabel sein und angezapft werden. Da gilt natürlich deutsches Recht nicht. Hier muss man versuchen, über internationale Abkommen und andere Maßnahmen der völkerrechtlichen und international rechtlichen, auch europäischen Regelung für Gegenmaßnahmen zu sorgen.

Bürger: Das Verhältnis von Bürger und Staat in Zeiten der Vollüberwachung – in unserer Serie "Datagate" sind wir heute im Gespräch mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem zur Frage, ob wir angesichts der enthüllten NSA-Praktiken auch über unsere deutsche Rechtsordnung neu nachdenken müssen. Der amerikanische Journalist Glenn Greenwald, der einen Teil der Informationen von Edward Snowden auswertet, sagt heute in der "Süddeutschen Zeitung", Deutschland kooperiere und teile mit der NSA Wissen, aber die USA spionierten auch gegen Deutschland, also genau das, was Sie auch gerade gesagt haben, Herr Hoffmann-Riem, und das verstoße eben gegen die deutsche Verfassung. In welcher Weise müssen denn jetzt Politik und Justiz sich mit dieser neuen Realität auseinandersetzen?

Hoffmann-Riem: Das Problem ist, dass wir eine Reihe von Informationen haben, deren Genauigkeit uns noch nicht überprüfbar ist. Insofern ist es sehr schwer, jetzt konkrete Ansatzpunkte zu benennen. Aber richtig ist natürlich, dass wir versuchen müssen, aufzuklären, was wirklich geschieht, und dann klären, ob und wie weit deutsche Gesetze verletzt werden, und das kann bei der Kooperation deutscher Behörden mit ausländischen durchaus der Fall sein, muss aber nicht in jedem Fall so sein, also bedarf dies auch der genaueren Abklärung.

"Das Wichtigste ist, dass die deutsche Regierung massiv einschreitet"
Und darüber hinaus denke ich, dass es einer Koordination im europäischen Bereich bedarf, denn Deutschland ist nur ein kleines Land und die Kommunikationswelt, ich erwähnte es eben schon, ist international, ist auch natürlich europäisch. Wir müssen aufpassen, dass es hier keine Hegemonie durch etwa die Amerikaner gibt – das erinnert mich manchmal an kolonialistische Zeiten, wenn jetzt plötzlich die ganze Kommunikationswelt von einem ausländischen Staat beobachtet und eventuell für eigene Zwecke genutzt wird unter Missachtung von Rechten und Interessen anderer Staaten und der Bürger dort. Aber es ist wahnsinnig schwer, hier jetzt mit ganz konkreten Maßnahmen vorzugehen.

Das Wichtigste ist sicherlich, dass die deutsche Regierung massiv einschreitet, das heißt also, sich nicht nur irgendwie weich erkundigt, sondern darauf besteht, dass deutsche Gesetze eingehalten werden, dass dort, wo möglicherweise deutsche Organe in rechtswidriger Weise kooperieren sollten – was wir im Augenblick noch nicht wissen –, dass das intern abgestellt wird, und darüber hinaus, dass man versucht, internationale Verständigungen zu erreichen und etwa Maßnahmen wie den Abschluss eines Freihandelsabkommens der EU mit den USA nutzt, um das zu verkoppeln mit Anforderungen auch an hinreichenden Persönlichkeitsschutz.

Bürger: Diese Entwicklungen passen der Politik natürlich überhaupt nicht ins Wahlkampfprogramm. Eine neue Forsa-Umfrage belegt, dass die Deutschen vom Regierungskurs in dieser Sache sehr enttäuscht sind. Ich höre raus: Auch Sie fordern entschiedenere Reaktionen der deutschen Regierung?

Hoffmann-Riem: Ja. Ich meine, ich weiß nicht, ob vielleicht im uns nicht bekannten Bereich schon entschieden gehandelt wird. Es ist sicherlich auch wichtig, dass entschiedenes Handeln nach außen erkennbar wird, denn hier kann eine Vertrauenskrise entstehen. Vertrauen in Staat und Gesellschaft, aber auch in die Funktionsfähigkeit etwa von Kommunikationsinfrastrukturen – das ist das Lebenselixier der Wissens- und Informationsgesellschaft. Ohne das ist gewissermaßen die Software weg, die benötigt wird, damit Staat und Gesellschaft funktionieren. Ich glaube, deswegen muss auch einiges getan werden, um Vertrauen aufzubauen.

Und wenn etwa der Blogger zu einer solchen, wie ich finde, ungeheuerlichen Vergleichsmaßnahme Stasi schreitet, dann muss gegengehalten werden und deutlich gemacht werden, wie falsch diese Aussage ist – wobei ich natürlich hoffe, dass sie falsch ist, und ich bin persönlich im Augenblick auch überzeugt, dass sie falsch ist.

"Snowden fürs Bundesverdienstkreuz vorschlagen"
Bürger: Wir haben hier im "Radiofeuilleton" schon sehr kontroverse Meinungen zum Vorgehen und zur Bewertung von Edward Snowden gehört. Was haben Sie für eine Haltung zu ihm und was wird sein vorübergehendes Asyl in Russland bewirken?

Hoffmann-Riem: Also zunächst zu meiner Haltung. Ich habe spontan gesagt, als ich davon hörte: Ich würde ihn am liebsten fürs Bundesverdienstkreuz vorschlagen. Das ist natürlich nicht realistisch, aber es macht deutlich, dass ich finde, dass seine Tat sehr, sehr anerkennenswert ist, auch, dass er sehr viele persönliche Risiken auf sich genommen hat und uns einen Einblick in eine Welt ermöglicht hat, den wir bisher nie hatten. Das Asyl in Russland ist für ihn ja nur eine Aufschubmaßnahme. Ich hoffe sehr, dass es auch dauerhafte Lösungen gibt.

Am schönsten wäre es natürlich, wenn jemand wie er einem rechtsstaatlichen Verfahren sich stellen könnte, dass, soweit er Strafgesetze verletzt haben sollte – und das ist nach amerikanischem Recht doch der Fall – dann eventuell auch verurteilt wird. Aber es gibt in einem Rechtsstaat dann noch eine weitere Möglichkeit, nämlich, dass man wegen des gesellschaftlichen Sinns dieser ganzen Aktion und auch in Anerkennung seines Mutes so etwas wie eine Begnadigung ausspricht. Das ist ein Weg, dass, wenn zwar Gesetze verletzt werden, aber doch in einer anerkennenswerten Haltung, eventuell doch die Folgen der Bestrafung wieder beseitigt werden. Auch das wäre in einem Rechtsstaat möglich, und ich hoffe sehr, dass man einen Weg dieser Art oder einen ähnlichen findet, um ihm auch wieder einen Weg in das normale Leben zu ermöglichen.

Bürger: Schützt uns das deutsche Rechtssystem vor der vollständigen Überwachung durch ausländische Geheimdienste? Unter anderem diese Frage haben wir mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem diskutiert. Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Hoffmann-Riem.

Hoffmann-Riem: Tschüss, Frau Bürger.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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