Lesung in Dresden

Das Spiel der Neuen Rechten mit Victor Klemperers LTI

Der Kabarettist Uwe Steimle sitzt vor Beginn einer Lesung aus dem Buch "LTI" von Victor Klemperer in Dresden.
„Von LTI zur Sprache des Grünen Reiches“ - solche Statements macht der Kabarettist und Schauspieler Uwe Steimle in seiner Youtube-Sendung. Im Bild: Steimle bei der Lesung von LTI am 9.11.2023 in Dresden. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
10.11.2023
Die Lesung der Freien Wähler in Dresden von Victor Klemperers Werk LTI über die Sprache des Dritten Reiches verlief zwar ohne Zwischenfälle. Trotzdem gibt der Coup aus dem Umfeld der Neuen Rechten Anlass zur Sorge. Ein Überblick.
Eine Lesung des Werkes „Lingua Tertii Imperii“ (LTI) von Victor Klemperer über die Sprache des Dritten Reiches hatte im Vorfeld große Bedenken geschürt. Die Veranstaltung der Freien Wähler in Dresden führte bei der Stadtverwaltung und beim Verlag zu Befürchtungen, das Werk des Autors jüdischer Herkunft könnte durch die sogenannte Neue Rechte vereinnahmt werden. Ein Überblick über das Geschehen und die dadurch ausgelöste Debatte.

Warum war die von den Freien Wählern veranstaltete Lesung umstritten?

Victor Klemperer war Holocaust-Überlebender und Zeitzeuge vom Kaiserreich bis in die DDR. Sein Buch „Lingua Tertii Imperii“, Sprache des Dritten Reichs, kurz LTI, gilt bis heute als umfassende Analyse der Sprache im Nationalsozialismus.
In seinem Werk analysiert der Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker die Sprache des Dritten Reichs und dechiffriert das Gift, das ihr innewohnt.

"Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse."
Victor Klemperer

Für den 9. November 2023 hatten die Freien Wähler in Dresden eine Lesung des Buches angekündigt und damit große Besorgnis ausgelöst. Insbesondere auch wegen des Tages der Lesung, an dem deutschlandweit an die antisemitischen Pogrome 1938 in Nazi-Deutschland gedacht wird. Zudem war Uwe Steimle als einer der Vortragenden angekündigt - der Kabarettist und Schauspieler ist in der Vergangenheit schon durch antisemitische Erzählungen aufgefallen.
Eingefädelt worden sei die Veranstaltung von der Buchhändlerin Susanne Dagen, berichtet der Journalist Michael Bartsch für Deutschland Kultur. Dagen sitzt für die Freien Wähler im Dresdner Stadtrat, wird aber dem Umfeld der sogenannten Neuen Rechten zugeordnet; u.a. hat sie zusammen mit dem Antaios Verlag die Internetsendung „Mit Rechten lesen" veranstaltet.
Die Befürchtung war daher groß, dass Klemperers Werk nicht angemessen im historischen Kontext gewürdigt und diskutiert sowie Leid der NS-Opfer verunglimpft werden könnte. Dennoch gestatteten der Verlag und die Stadt Dresden die Veranstaltung nach einigem Hin und Her.

Wer sind die Konfliktparteien und welche Motive haben sie?

Der Reclam Verlag, der die Bühnenrechte an Klemperers Werk hält, wollte die Lesung aus den oben genannten Gründen zunächst verbieten lassen. Unter dem Motto „Bücher sind für alle da“ entschied sich der Verlag dann aber dagegen, die Veranstaltung zu verhindern – eine öffentliche Auseinandersetzung mit Klemperers Werk sei wichtig, hieß es. Allerdings behielt sich Reclam rechtliche Schritte für den Fall vor, dass das Ansehen Klemperers oder das Gedenken an die NS-Opfer verunglimpft werden.
Anne-Katrin Klepsch, Kulturbürgermeisterin von Dresden, hatte sich quergestellt, die Räumlichkeiten für die Lesung zur Verfügung zu stellen, weil sie befürchtete, dass die Veranstaltung der Stadt Dresden einen Imageschaden zufügen könnte. Die Linke-Politikerin sagte, die Gäste der Veranstaltung seien im rechten Spektrum aktiv.
Die Dresdner Buchhändlerin und Stadträtin Susanne Dagen zeigte sich über die Äußerungen von Kulturbürgermeisterin Klepsch empört und hält diese für strafrechtlich relevant. Sie sagte: „Wir, die Freien Wähler, haben Klepsch dafür angezeigt.“

Was ist die Vorgeschichte der Lesung von LTI in Dresden?

Die aufgeheizte Debatte steht im Zusammenhang mit einem deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle und Straftaten in Deutschland.
Nach Ansicht des Philosophen Thomas Meyer von der Ludwig-Maximilians-Universität München gibt es zudem schon länger Versuche von Seiten der Neuen Rechten, Klemperers Werk LTI umzudeuten. Meyer sieht darin eine Strategie, die Teilhabe an einem Diskurs durchzusetzen, der sonst nur „Gutmenschen und Linken vorbehalten sei“ und sich selbst in diese Opfererzählung mit einzuschreiben.
Tatsächlich sollten am 9. November in Dresden zwei Lesungen von LTI stattfinden: Eine schon länger geplante Lesung des Staatsschauspiels Dresden in der Neuen Synagoge sowie die Parallel-Veranstaltung der Freien Wähler.
Kulturbürgermeisterin Klepsch hatte die Stadtratsfraktionen bereits im August um ihre Pläne für Veranstaltungen in Gedenken an die Pogromnacht am 9. November gebeten. Daraufhin hatte nur die Fraktion der Freien Wähler reagiert – und den Zuschlag für den Festsaal erhalten. Ihr Vorhaben für den Abend gaben die Freien Wähler aber erst Ende Oktober über Facebook bekannt. Klepsch weigerte sich daraufhin, den Raum freizugeben.
Auch, weil die geplante Lesung von LTI des Staatsschauspiel Dresden in der Neuen Synagoge schon viel früher angekündigt worden war, und noch dazu um die gleiche Uhrzeit stattfinden sollte, wurde die Facebook-Mitteilung der Freien Wähler als Affront gesehen.
Der Schriftsteller Ingo Schulze sprach sich im Vorfeld bei Deutschlandfunk Kultur dafür aus, die Lesung stattfinden zu lassen. Das Buch LTI sei so stark, dass er keine Angst davor habe, dass es missbraucht werden könnte. Im Gegenteil werde es diejenigen, die zur Lesung gingen, überraschen.

Wie ist die Lesung der Freien Wähler in Dresden verlaufen?

Letztlich verlief die Veranstaltung der Freien Wähler am 9. November ohne Zwischenfälle. Eine Schweigeminute wurde abgehalten in Gedenken an die Opfer der Pogromnacht und Klemperer als Person und für seine Sprachschärfe geehrt.
Über ihre strategischen Absichten ließen die Veranstalter nichts verlauten. Die vier Vortragenden schilderten unter anderem ihre persönlichen, biografischen Bezüge zu Klemperer. Einzig der Kabarettist und Schauspieler Uwe Steimle schweifte thematisch ab, indem er sich unter anderem zum „nicht aufgearbeiteten Corona-Impfkrieg“ äußerte.
Offenbar ist Viktor Klemperers LTI resistent genug, um sich einer Vereinnahmung durch rechte Ideen zu widersetzen. An diesem Abend zumindest war dies der Fall.

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