Novelle

Analytisches Tourette-Syndrom

Von Katharina Döbler |
In seinem Debüt schreibt der Autor Heinz Helle über einen jungen Mann, der alles hat: einen guten Job, eine schöne Freundin und viel Sex. Doch die ständige Selbstreflexion macht ihm das Leben zur Hölle.
"So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt"
- sagt Hamlet in dem berüchtigten Monolog, der mit "Sein oder Nichtsein" beginnt. Heinz Helle hätte diesen Anfang auch als Motto über sein kleines Buch setzen können, denn dann wäre das wesentliche gesagt gewesen.
Ein junger Mann - so zeitgenössisch, wie man ihn sich nur vorstellen kann - hat einen guter Job, eine schöne Freundin, viel Sex, besucht schicke Bars in München und New York und leidet darunter, dass er ständig nachdenkt. An ihm spielt Heinz Helle ein "Ich" durch, das sich durch permanente Selbstbefragung matt setzt, das Gegenteil also eines aufklärerischen Ichs, das sich, cogito ergo sum, durch Denken definiert. Das geschieht nicht etwa im Hintergrund einer Romanhandlung, sondern diese Dissoziation ist Thema, Methode und auf weite Strecken sogar Grammatik dieses Buches.
Ich, sagt der junge Mann am Anfang der meisten Sätze, ich sehe, ich trete, ich trinke, ich nicke, ich sitze an meinem Schreibtisch, und so weiter. Dass an anderen Schreibtischen andere Menschen sitzen, entgeht ihm dabei nicht; was ihm dazu einfällt allerdings sind Luhmannsche Systemanalysen.
Ja, der Mann hat eine Macke, das weiß er natürlich, "ein analytisches Tourette-Syndrom", wie er selbst diagnostiziert. Dass seine Liebesbeziehung zwischen Banalität und Negation zerrieben wird, wundert da nicht. Auch nicht, dass er als graduierter Philosoph an einem akademischen Vortrag über das Bewusstsein arbeitet.
Ironischerweise hat Heinz Helle seine essayistischen Novelle (fälschlicherweise als Roman etikettiert und verkauft) in jenem Modus geschrieben, den man üblicherweise Bewusstseinsstrom nennt. Aber da strömt natürlich nichts. Exemplarisch zeigt der Autor, wie Wehre und Deiche dagegen errichtet werden, bis man im Stillstand eines Baggersees angekommen ist.
Ein altes Thema, neu verpackt
Nun ist die Vorstellung, dass das Denken den Menschen am Tun hindere und dem Leben selbst nicht gerecht werde, eine sehr alte Vorstellung, noch älter als die Erfindung Hamlets. Sie ist das Geburtstrauma des Intellektualismus schlechthin und kein ernstzunehmender Schriftsteller entgeht ihr je. Heinz Helle hat dem nicht wirklich etwas hinzuzufügen - außer den zeitgenössischen akademischen Formeln, Alltagsphänomenen und sozialen Gepflogenheiten.
Auch wenn er pointiert schreibt (gelegentlich überpointiert wie der Titel selbst) und viele elegante Kettensätze hervorbringt, unterlaufen ihm doch gelegentlich studentisch-pubertäre Formulierungen wie diese:
"Ich überlege, ihr zu sagen, dass ich nur dann glücklich bin, wenn ich mich nicht frage, ob ich glücklich bin, und dass ich mich das eigentlich immer frage, außer wenn ich esse, saufe, scheiße oder ejakuliere."
Und das ist, in aller Treuherzigkeit, auch die Essenz des kleinen Buches selbst.
Heinz Helle: Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin

Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
159 Seiten, 18,95 Euro