Novartis verlost Medikament gegen SMA

Ist dieser Zwei-Millionen-Dollar-Gewinn ethisch vertretbar?

07:54 Minuten
Das Foto zeigt ein kleinen, dreijährigen Jungen mit seiner Mutter. Der Junge ist an spinaler Muskelatrophie erkrankt.
Das neue Medikament gegen spinale Muskelatrophie gibt vielen Familien mit betroffenen Kleinkindern Hoffnung. Doch nur 100 sollen für eine kostenlose Behandlung ausgelost werden. © picture alliance / newscom / Courtney Hergesheimer/The Columbus Dispatch/TNS
Dieter Birnbacher im Gespräch mit Axel Rahmlow · 03.02.2020
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Novartis hat ein äußerst teures Medikament gegen spinale Muskelatrophie auf den Markt gebracht. An 100 Kinder soll eine kostenlose Therapie verlost werden. Ein Skandal, eine "Überlebenslotterie"? Der Medizinethiker Dieter Birnbacher sieht keinen Weg aus dem Gerechtigkeitsdilemma.
Eines von 10.000 Neugeborenen ist von der spinalen Muskelatrophie einem rapiden Abbau der Muskelzellen betroffen. Unbehandelt endet die Krankheit tödlich. Mit Zolgensma gibt es ein neues, sehr teures Medikament: zwei Millionen Euro kostet eine Therapie. Eine Novartis-Tochterfirma hat die medikamentöse Gentherapie als Alternative zu einer schon bestehenden Therapie entwickelt.
Alle paar Wochen will die Basler Pharmafirma eine Verlosung durchführen: Dabei wird im Auftrag der Firma der Name eines betroffenen Babys gezogen. Das Kind wird Zolgensma dann kostenlos erhalten. In Europa ist es noch nicht zugelassen. Für viele Kinder könnte es jedoch eine wirkliche Alternative darstellen. Der Nachteil der herkömmlichen, mitunter qualvollen Behandlung: Die Gabe erfolgt durch regelmäßige Spritzen in den Wirbelkanal. Zolgensma dagegen soll bereits nach einmaliger Injektion Wirkung zeigen.

"Wie im Spielkasino"

Kritiker sprechen von einer Überlebenslotterie und von einer versteckten Marketingkampagne für das teure Medikament – kein Grund zur Freude, sondern ein Skandal. Tatsächlich habe die Form der Lotterie "ein Geschmäckle", sagt der Philosoph und Medizinethiker Dieter Birnbacher. "Das erinnert an Spielkasino – und das ist einfach dem Ernst der Situation nicht angemessen. Aber natürlich bleibt die grundsätzliche Frage: Wie sollen wir umgehen mit knappen Mitteln für schwere Erkrankungen?"
Birnbachers findet: In solchen Fällen sollte nach medizinischen Gründen entschieden werden – wie bei Organtransplantationen. Denn nicht alle Kinder vertragen die alternativen Therapiemöglichkeiten. Er räumt jedoch ein: Hätte er selbst ein Kind mit spinaler Muskelatrophie, würde er es für die Lotterie anmelden. "Ich würde es jedenfalls als Problem sehen, mich nicht anzumelden und meinem Kind diese Chance nicht zu eröffnen. Denn dieses Lotterieverfahren hat ja zumindest den Vorzug, dass es Chancengleichheit gewährt. Und ich habe einige Kollegen, die würden sagen, dass bei knappen Ressourcen Gleichheit das allererste Prinzip sein sollte."

Kein Weg aus der Ungerechtigkeit

Der Nachteil diese Prinzips sei, dass es reine Glückssache sei, ob man zum Zuge komme oder nicht. Doch auch bei einer Zuteilung des neuen Medikaments nach rein medizinischen Gesichtspunkten würden einige Kinder, die bestimmte Merkmale nicht zeigten, benachteiligt, denn sie müssten weiterhin die anderen Therapieformen über sich ergehen lassen. "Wir kommen also um diesen Eindruck der Ungerechtigkeit nicht herum", sagt der Philosoph.
Die Frage ist nur: Was wär eine Auswahl-Alternative? Birnbacher schlägt vor, auf schon bestehende Entscheidungsstrukturen, etwa durch Ethikkommissionen, zurückzugreifen.

Hoher Preis gerechtfertigt

Grundsätzlich hält Dieter Birnbacher sehr hohe Preise für Medikamente, wie im Fall von Zolgensma, für vertretbar. Letztlich seien auch andere Therapien, deren Einzeldosis weniger teuer sei, unter dem Strich ebenso kostspielig – etwa wenn der Behandlung noch etliche Nachuntersuchungen und -behandlungen oder Operationen folgen müssen, "wenn sie ein Leben dauerhaft retten sollen".
Zudem stecke die Hightech-Medizin noch in den Anfängen – und der hohe Preis sei auch durch die ebenso hohen Kosten für Forschung und Entwicklung gerechtfertigt.
(mkn)
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