Notfallseelsorger am Breitscheidplatz

"Ich erinnere eine große Stille"

Eine Frau steht vor Kerzen und Blumen und einem Schild mit der Aufschrift "Warum" am Berliner Breitscheidplatz.
Mit Kerzen und Blumen wird den Opfern des Attentats am Berliner Breitscheidplatz gedacht, © imago stock&people
Von Holger Trocha · 19.12.2017
Vor einem Jahr fuhr der Attentäter Anis Amri mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt. Minuten später sind hunderte Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter vor Ort. Unter den Einsatzkräften ist auch der Leiter der Berliner Notfallseelsorge: Justus Münster.
Justus Münster: "Normalerweise ist der Breitscheidplatz ein Platz, wo immer sehr viel Menschen sind, wo der Verkehr drum herum tobt und tost. Und das war nicht der Fall. Ich erinnere, und das kann eigentlich gar nicht gewesen sein, eine große Stille. Hier ist eine bleierne, ganz merkwürdige Stimmung auf diesem Platz."
Und genau in dieser unwirklichen Stimmung musste er, der 43-Jährige mit dem Lockenkopf und dem Drei-Tage-Bart sofort richtig reagieren. Professionellen, seelischen Beistand für Opfer, Angehörige und Augenzeugen leisten. Und das, obwohl die Situation völlig neu war.
"Gerufen worden sind wir zu einem Verkehrsunfall mit vielen Toten und nach und nach erst stellte sich heraus, dass es nicht nur ein Verkehrsunfall war sondern, dass es eben ein islamistisch motivierter Anschlag war. Und dann haben wir festgestellt, es gab eben Menschen, die sehr nach außen gegangen sind, die sehr emotional gewesen sind. Und die haben wir versucht, erst mal ein Stück zu beruhigen."
Justus Münster sitzt in seinem 15 Quadratmeter kleinen Büro in der Verwaltung der evangelischen Kirche Berlin, Brandenburg, schlesische Oberlausitz im Berliner Bezirk Friedrichshain. Der Vater von zwei Kindern ist evangelischer Pfarrer und leitet die Berliner Notfallseelsorge. Im Talar sieht man ihn deshalb selten.

Kritik an den Behörden

Münsters katholische Kollegin Roxana Bechler kommt auf einen Kaffee vorbei. Die beiden wollen heute noch einmal den Einsatz vor einen Jahr auswerten. Justus Münster spart dabei nicht mit Kritik, vor allem am Vorgehen der Behörden.
"Na ja, das war ja ein Problem am Breitscheidplatz, dass die Polizei uns zum Teil Zugänge verwehrt hat, also, dass sie uns selber angefordert haben aber dann Zugänge verwehrt haben. Da haben wir dann im Nachgang gesagt: Freunde, so geht es nicht."
Justus Münster, Leiter der Berliner Notfallseelsorge
Justus Münster, Leiter der Berliner Notfallseelsorge© Holger Trocha
Münster und Bechler wissen genau, wie wichtig eine seelsorgerische Akut-Betreung ist. Rund 300 solcher Gespräche führe jeder von ihnen im Jahr. Egal, ob Mord, Anschlag, Unfall oder plötzlicher Kindstod: Es zähle jede Minute, um schwere psychologische Störungen zu verhindern.

Angehörige bleiben oft ratlos zurück

"Wenn Menschen sterben, bleiben Angehörige oftmals ratlos, ohnmächtig in einer Wohnung oder an der Straße, je nachdem, wo etwas passiert ist, zurück."
"Man muss sich einfach auf denjenigen einstellen und schauen, was braucht der im dem Moment, wie kann man ihm helfen."
So klingt es, wenn Justus Münster alarmiert wird. Egal, was er gerade tut. Er muss sofort reagieren. Kraft gebe ihm dabei das Gefühl, überhaupt für die Angehörigen der gerade Verstorbenen da zu sein:
"Und genau dieses Gefühl gibt mir dann die Kraft für den nächsten Einsatz. Ich weiß, dass es eben nicht mein Verstorbener ist, das ist nicht meine Traueraufgabe, die in den nächsten Wochen und Monaten ansteht. Klar ist aber auch, das alles, was ich da wahrnehme – rieche, schmecke, fühle – das es auch zu meinem wird."
Seine Familie erfährt von alledem nichts. Erstens unterliegen Notfallseelsorger der Schweigeplicht und zweitens seien seine Kinder noch zu klein, um zu verstehen, was der Tod überhaupt bedeute. Sie denken, ihr Papa ist Feuerwehrmann.
Nach besonders schwierigen Situationen greift Münster deshalb oft zu seinen abgewetzten Laufschuhen und joggt durch den Tiergarten oder entlang der Spree. Doch selbst das hilft nicht immer:
"Größere Einsätze werten wir immer danach noch einmal aus. So dass man dieses Puzzle auch noch mal zusammentragen kann. Wenn man sich darüber austauscht, setzt sich etwas Ganzes zusammen und nicht diese Fragmente brennen sich ein."

Auch Seelsorger haben Grenzen

Justus Münster wuchs in Trebbin als Sohn eines Pfarrers auf. Nach dem Abitur studierte er Theologie und ging dann zunächst als Vikar nach Shanghai. Anschließend wurde er Gemeindepfarrer in Berlin-Pankow. 2005 berief ihn die Landeskirche zum Leiter der Notfallseelsorge. Nach zwölf Jahren und mehr als 3000 Gesprächen, bei denen der Tod immer präsent war, weiß der Pfarrer genau, was bei einem Einsatz das Wichtigste ist:
"Da muss man natürlich genau einschätzen, wann ist es angebracht zu reden und wann ist es angebracht auch zu schweigen und auszuhalten. Da ist tatsächlich auch meine Erfahrung, dass das Schweigen oftmals schwieriger ist als das Reden."
Mittlerweile gibt es für Justus Münster aber eine Grenze. Seit er vor drei Jahren Vater geworden ist, lehnt er Einsätze, bei denen Kinder gestorben sind, ab.
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