Nostalgie ade!

Von Helmut Böttiger |
Je länger die DDR entschwunden scheint, desto mehr lebt sie wieder auf. Wie haben wir in dem Film "Good-Bye Lenin" die Ausstattungskunst bewundert, die noch uralte Packungen von "Tempo-Erbsen" oder "Elbdom-Kunsthonig" aufgetrieben hat, oder die Freizeitkleidung in der "Sonnenallee". Die Kindheiten im FDJ-Hemd, mit Sand- und Ampelmännchen und dem kleinen Trompeter werden mit den Jahren immer furioser beschworen.
In letzter Zeit sind die literarischen Verarbeitungen früher DDR-Erfahrungen gar nicht mehr zu zählen, allein auf der diesjährigen langen Liste des "Deutschen Buchpreises" dominieren sie die Stoffe und die Artikel derer, die immer nach neuen "Trends" aus sind. Aber das ist alles eine ganz große Täuschung. Denn in diesem Herbst werden die Umstände der DDR-Sozialisation auf ganz neue Weise enthüllt.

Angelika Klüssendorf (geboren 1958) schildert in ihrem Roman "Das Mädchen" (Kiepenheuer & Witsch) schon auf den ersten Seiten, wie eine Zwölfjährige unter DDR-Bedingungen auf dem Schulhof von den Gleichaltrigen ausgegrenzt wird. Alle singen den aktuellen Schlager "Am Tag, als Johnny Kramer starb", und die Heldin versucht zwar, "ein genauso durchgedrehtes Gesicht" wie die anderen zu machen, aber sie spürt: sie gehört nicht dazu.

Die eigentliche Interpretin dieses Schlagers indes wird nicht genannt. Es handelt sich um Juliane Werding aus Essen, das weiß man, denn die Autogramm-Adresse wurde in der Liveübertragung der "ZDF-Hitparade" 1973 immer eingeblendet. Es geht in diesem Lied gegen Haschisch, ein Thema, nach dem man sich auf DDR-Schulhöfen augenscheinlich sehnte. Angelika Klüssendorf beherrscht in ihrem eindringlichen Roman auf virtuose Weise die Kunst des Weglassens. Dass sie die Herkunft jenes Schlagers und den Namen der Sängerin erst gar nicht nennt, muss etwas bedeuten.

Richtig stutzig wird man dann bei der Lektüre von Antje Rávic Strubels ambitioniertem Roman "Sturz der Tage in die Nacht" (S. Fischer). Strubel, geboren 1974, also 16 Jahre später, kommt auf dieselbe Sängerin zu sprechen wie Klüssendorf! Und sie geht auf dieselbe Weise mit Juliane Werding um! Der Titel des zitierten Liedes, des zweiten großen Hits der Sängerin, spielt in Antje Rávic Strubels Inzest-, Stasi- und Rätsel-Geschichte eine geradezu programmatische Rolle: "Wenn du denkst du denkst dann denkst du nur du denkst".

Das wird fast leitmotivisch eingesetzt, weil es die Gefühlslage ihrer Figuren charakterisiert. Ausgerechnet eine blonde, üppige Sängerin aus dem Ruhrpott bringt das Selbstgefühl der DDR-Bürger auf den Punkt! Der Westen liefert die Häkelmuster! Dass weder Juliane Werding noch die Herkunft dieses Schlagers ausdrücklich genannt werden, legt umso mehr den Finger in die Wunde. Klüssendorf wie Strubel demaskieren gerade dadurch alle Hohlheiten der DDR-Nostalgie um sie herum.

Dies ist der späte Herbst der Juliane Werding. Damit konnte man in den bundesdeutschen frühen Siebzigerjahren nicht rechnen: dass man einmal für das Lebensgefühl in der DDR stehen würde, für eine DDR, die postmodern geworden ist, eine Alptraum- und Sehnsuchtslandschaft gleichermaßen. So deutlich wie heute war die DDR noch nie ein Kunstprodukt. Aber in den Büchern von Klüssendorf und Strubel wird sie wieder real.


Helmut Böttiger, Dr. phil., geb. 1956 in Creglingen/Baden-Württemberg. Studium in Freiburg, Dissertation über DDR-Literatur 1985. Lebt nach verschiedenen Redaktionstätigkeiten seit 2002 als freier Autor in Berlin. Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1996. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Ostzeit-Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur, München 1996. Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur, Wien 2004. Celan am Meer, Hamburg 2006. Ausstellungskatalog "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland", Darmstadt und Göttingen, 2009.