Norwegen

Neues Attentat, altes Trauma

25:11 Minuten
Rosen und Gedenkkerzen in Kongsberg, wo ein Mann bei einem Attentat fünf Menschen tötete.
Zehn Jahre nach Breiviks Tat - das friedliebende Norwegen trauert um die Opfer von Kongsberg. © Tim Diedrichs, ARD-Studio Stockholm
Sofie Donges im Gespräch mit Isabella Kolar · 19.10.2021
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Am Abend, bevor der sozialdemokratische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre sein Amt antritt, läuft in der norwegischen Kleinstadt Kongsberg ein Mann Amok und tötet fünf Menschen - darunter eine Deutsche. Die schockierte Nation fragt: Warum immer wir?
Die neue norwegische Regierung hatte sich ihren Amtstantritt ganz anders vorgestellt, sagt unsere Skandinavien-Korrespondentin Sofie Donges. Die Regierungsübergabe sei vor dem Hintergrund des Attentats von Kongsberg am Abend zuvor fast zur Nebensächlichkeit geworden.

Die Anschläge vor zehn Jahren als Trauma

Die erste Dienstreise von Ministerpräsident Jonas Gahr Støre habe ihn denn auch in die südwestlich von Oslo gelegene Stadt geführt. Schon zu diesem Zeitpunkt habe er über die Anschläge von Utøya und Oslo gesprochen, deren zehnten Jahrestag Norwegen am 22. Juli begangen hatte.
Er habe damit ausgesprochen, so Donges, was viele Menschen in Norwegen dachten. "Es gibt diese Parallele zu Utøya und Oslo, das ist ja fast schon ein Trauma dieses Landes: diese beiden Attentate", sagt sie.
"Gerade hatten wir den zehnten Jahrestag und eigentlich sollte das nicht noch einmal passieren. Dass sich einer aus der Mitte der Gesellschaft heraus radikalisiert. Und genau das Gefühl haben jetzt Viele: Genau das ist wieder passiert."
Jonas Gahr Støre steht vor einem weißen, mit Holz verkleidetem Rednerpult, an dem in roter Schrift Utøya steht. Die Bühne schmücken mehrere Wimpelketten, auf denen 'AUF' steht, die sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens.
Norwegens neuer Ministerpräsident Jonas Gahr Støre hält eine Rede beim Feriencamp in Utøya, wo Anders Behring Breivik vor zehn Jahren seinen zweiten Anschlag verübte.© picture alliance / NTB
Am Anfang sah der Tatablauf für die Ermittler sehr eindeutig aus, sagt unsere Korrespondentin, die rund um die Uhr über die Ereignisse berichtete.
"Der Tathergang erfolgte quasi so, dass er mit einer einfachen Waffe – erst dachte man ja nur Pfeil und Bogen, inzwischen wissen wir, er hatte auch eine Stichwaffe dabei, es wird nicht näher definiert, was das war –, dass er eben mit diesen Waffen wahllos Menschen im öffentlichen Raum getötet hat", berichtet Donges.
"Das passt zum Thema Terror, dazu kamen Hinweise auf eine Radikalisierung, er sei zum Islam konvertiert. Aber dann führte man die ersten Verhöre mit dem Mann durch, Zeugen wurden gehört und es zeichnete sich eher das Bild eines psychisch Erkrankten ab. Weshalb das Gericht angeordnet hat, dass der Mann die vier Wochen Untersuchungshaft in einer geschlossenen medizinischen Einrichtung verbringen muss."

"Man ermittelt weiterhin in alle Richtungen"

Die Staatsanwaltschaft habe mitgeteilt, dass jetzt sehr lange und umfangreich ermittelt werde. Und zwar in alle Richtungen. Es gebe noch kein abschließendes Urteil.
Der mutmaßliche Täter, ein Däne, habe ein umfassendes Geständnis abgelegt und kooperiere mit den Ermittlern, sagt Donges. Details darüber würden nicht veröffentlicht, damit mögliche weitere Zeugen nicht beeinflusst würden.
Viele in Norwegen stellten sich die Frage, ob man diese Gewalttat hätte verhindern können. Der Täter sei der Polizei bekannt gewesen, sei aber nicht als so gefährlich eingestuft worden. Ist also bei der Beurteilung etwas schiefgegangen?
"Eine norwegische Friedensforscherin hat jetzt aber auch noch mal gesagt: Na ja, es gibt immer ein Restrisiko für eine Gesellschaft. Psychisch Erkrankte, die zu so einer Tat fähig sind, gibt es überall. Und wenn sie einfache Waffen benutzen, die auch überall zugänglich sind, dann gibt es dieses Risiko und man kann sich davon nicht komplett freimachen."

Waffen im Safe im Einsatzfahrzeug

Wie bei den Anschlägen von Anders Breivik vor zehn Jahren gebe es auch bei diesem Anschlag wieder Kritik am Verhalten der Polizei.
Ein Jahr nach Utøya sei die norwegische Polizei tatsächlich wieder unbewaffnet, sagt Donges. Polizisten hätten nur Waffen bei sich, wenn wirklich Lebensgefahr herrsche. Sonst seien die Waffen zum Beispiel im Safe im Einsatzfahrzeug.
"Die ersten Polizisten waren bereits fünf Minuten nach Eingang der ersten Notrufe vor Ort und haben den Täter auch gesehen. Er soll dann aber die Polizisten angegriffen haben und da die eben keine Schutzausrüstung oder zumindest zu wenig Schutzausrüstung dabei hatten, mussten sie sich erst mal zurückziehen", sagt Donges.
"Und das Tragische, was dann passiert ist, ist, dass die fünf Menschen, die ermordet worden sind, erst danach getötet wurden. Das heißt, die Polizei war vor Ort und der Täter hat eine halbe Stunde lang fünf Menschen töten können, bis die Polizei ihn festgenommen hat."
Das Justizministerium prüfe nun, ob da etwas schief gegangen sei.

"Warum passiert das in unserer Gesellschaft?"

Das Attentat von Kongsberg sei nicht das erste nach Utøya und Oslo. Vor zwei Jahren habe ein 22-jähriger Rechtsextremist versucht, eine Moschee in Bærum rund 20 Kilometer westlich von Oslo anzugreifen. Der Anschlag sei verhindert worden.
"Warum passiert so etwas immer wieder bei uns?" Diese Frage stelle man sich auch dieses Mal wieder, sagt unsere Korrespondentin. Die Anschläge passten nicht in das Bild, dass die Norweger und Norwegerinnen von ihrem eigenen Land hätten.
"Dass sie nämlich eigentlich eine typisch skandinavische Gesellschaft sind, die eng zusammensteht und die sich gegenseitig auffängt und füreinander da ist", erklärt Donges.
"Die Frage: 'Warum passiert das hier, in unserer Gesellschaft?', die wird garantiert wieder aufkochen in den nächsten Tagen und Wochen und ich bin sehr gespannt welche Antworten die Norwegerinnen und Norweger darauf haben."
(ik)
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