Nordirland nach dem Brexit

„Wir sind Bürger zweiter Klasse“

23:43 Minuten
Vor einer Mauer mit dem Spruch "There was never a good war or a bad peace" stehen Menschen mit gefalteten Händen.
Ein ökumenisches Gebet an der Friedensmauer in Belfast will ein Zeichen gegen die neue Gewalt in Nordirland setzen. © picture alliance / empics / Brian Lawless
Von Julia Smirnova · 21.04.2021
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Gewalt auf den Straßen und eine kaum zu bewältigende Brexit-Bürokratie: In Nordirland werden die problematischen Folgen des Brexit deutlich wie nirgendwo sonst. Doch der Brexit ist nicht der einzige Grund für das Aufbrechen der alten Konflikte.
Auf der Springfield Road in Belfast stehen zwei Reihen von gepanzerten Polizeiwagen. Ein junger Mann mit schwarzer Maske nimmt Anlauf, wirft einen Stein. Treffer. Er läuft zurück zu seinen Freunden. Einwohner stehen dabei, beobachten das Ganze, manche kommentieren.
Dicker schwarzer Rauch steigt über der Stadt auf. Im unionistischen Stadtteil Shankill setzten Jugendliche gerade einen Bus in Brand. Und hier im katholischen Viertel versammeln sich jetzt deshalb wütende Teenager.
Der katholische Stadtteil ist vom protestantischen durch eine hohe Mauer getrennt, die sogenannten "Friedensmauer". Auf dem Tor, durch das man die Mauer passieren kann, steht geschrieben: "There was never a good war or a bad peace" – Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden. Das Zitat von Benjamin Franklin soll an die Zeit des blutigen Nordirlandkonflikts erinnern, der 1998 mit dem Karfreitagsabkommen endete. An diesem Abend ist das Tor geschlossen. Die katholischen Jugendlichen laufen dennoch hin.

"Beide Seiten zerstören ihre Gemeinden"

Sie versuchen, das Tor aufzubrechen. Werfen Steine und Flaschen, werden immer wütender. Auf der anderen Straßenseite steht, zusammen mit anderen Einwohnerinnen, Cailin McCaffery. Schwarzes T-Shirt, Brille, eine dicke Strickjacke.
"Die Spannungen kommen von den probritischen Loyalisten, sie wurden stark von den Politikern befeuert. Das ist jetzt die Rache der irischen Nationalisten, weil die das Gefühl haben, dass ihre Gruppe bedroht wird. Aber im Prinzip zerstören beide Seiten ihre eigenen Gemeinden und die Orte, in denen sie leben."
McCaffery ist 25, sie ist in diesem katholischen Arbeiterviertel aufgewachsen, hat an der Queen‘s University studiert und arbeitet jetzt für eine große internationale Firma in Belfast. Ausschreitungen wie diese kennt die Nordirin nicht:
"In den letzten zehn Jahren ist nichts passiert. Im Gegenteil, beide Seiten arbeiteten zusammen, wenn es etwa um Frauenrechte oder gleichgeschlechtliche Ehe ging. Ehrlich gesagt ist es absolut herzzerreißend. Wir sind im Schatten dieser Friedensmauer aufgewachsen, wussten nicht, wie dieser Konflikt aussah, sich anfühlte. Und das wollen wir auch nicht mehr erleben. Darunter haben unsere Eltern genug gelitten."

Karfreitagsabkommen hat nur bedingt funktioniert

Das Ziel des Karfreitagsabkommens war, die erbitterten Fronten zwischen Katholiken und Protestanten aufzuweichen. Das hat bisher nur bedingt funktioniert: Die zwei Gruppen leben nach wie vor oft in unterschiedlichen Stadtteilen, schicken ihre Kinder auf getrennte Schulen. Und doch: In der jungen Generation, für Menschen wie Cailin McCaffery, begann sich etwas zu verändern. Aber mit dem Brexit wurde die Frage nach der Identität wieder aktuell.
Newtownabbey ist ein protestantischer Vorort von Belfast. Reihenhäuser, gepflegte Gärten. In der Mitte eines Kreisverkehrs weht die britische Fahne, der Union Jack. Der niedrige Holzzaun nebenan ist abgebrannt – auch hier haben Jugendliche Molotow-Cocktails auf die Polizei geworfen. Ihre Namen wollen sie nicht nennen, aber sie wollen reden. Sie alle sind nach dem Karfreitagsabkommen geboren und sagen heute, sie glauben nicht mehr daran:
"Das Karfreitagsabkommen wurde abgeschlossen, damit wir friedlich bleiben, die Katholiken und die Protestanten. Doch jetzt ist das vorbei, wir können uns nicht mehr daran halten. Die Katholiken wollen ein vereinigtes Irland! Aber das wird nicht passieren."

"Sie behandeln uns wie Dreck"

Seit dem Brexit gibt es in vielen Teilen des Vereinigten Königreiches Abspaltungstendenzen. In Schottland wird über ein neues Unabhängigkeitsreferendum diskutiert. Und in Nordirland setzt sich die irisch-republikanische Partei Sinn Féin für die Wiedervereinigung mit Irland ein. Auch wenn das in absehbarer Zeit wohl nicht passieren wird, macht das den pro-britischen Protestanten Angst:
"Sie behandeln uns wie Bürger zweiter Klasse. Wir sind darüber verärgert, deshalb protestieren und randalieren wir. Gegen sie. Wir sind alle Teenager. Wir sind in diesem Land aufgewachsen und wollen kein Teil vom vereinigten Irland sein, wo sie uns wie Dreck behandeln werden."
Die Jugendlichen sind überzeugt, dass sie bereits jetzt schlechter behandelt werden als die Katholiken.
"Sie stellen die Katholiken als makellos dar, sie sind privilegiert, die Oberklasse. Und wir sind ganz unten, wir werden wie Bauern behandelt."

Die Beerdigung von Bobby Storey im Juni 2020 in Belfast gilt als ein Auslöser der aktuellen Ausschreitungen. Mehr als 1000 Menschen waren zur Trauerfeier des ehemaligen IRA-Mitglieds gekommen. Die IRA, die Irisch-Republikanische Armee, war eine paramilitärische Organisation, die für ein vereinigtes Irland kämpfte. Auch die stellvertretende Regierungschefin Michelle O’Neill von der Partei Sinn Féin war da. Sinn Féin galt während des Nordirlandkonflikts als politischer Flügel der IRA.
Ein Sarg, der in eine irische Flagge gehüllt ist, wird von Männern in dunklen Anzügen getragen. Dahinter zahlreiche Menschen, die der Prozession zum Friedhof folgen.
Zur Beerdigung des IRA-Mitglieds Bobby Storey am 30.6.2020 in Belfast kamen weit mehr als die erlaubten 30 Gäste. © picture alliance / empics / Liam McBurney
Eigentlich sind wegen der Covid-Pandemie nicht mehr als 30 Trauernde erlaubt. Doch niemand der Anwesenden wird bestraft, das wurde vor Kurzem offiziell bestätigt. Der Ärger der Protestanten darüber ist groß. Die protestantischen Jugendlichen finden das unfair:
"Wenn das Protestanten wären, würde man alle festnehmen und anklagen, wegen Covid."

Premier Johnson hat sein Versprechen gebrochen

"Welcome to Larne" steht an der Einfahrt in den kleinen Hafen der nordirischen Stadt. Eine Fähre aus Schottland wird ausgeladen. Die LKW fahren über die Rampe und sind jetzt in Nordirland und damit im EU-Handelsraum – so will es der Brexit, genauer das sogenannte Nordirlandprotokoll. Hier gelten EU-Standards für alle Produkte. Deshalb wird die Ware auf einem nahe gelegenen Gelände kontrolliert. Damit hat Boris Johnson sein Versprechen gebrochen, es werde keine Grenze in der Irischen See geben.
Ein Kreisverkehr neben dem Hafen. An einem Pfahl hängt ein Poster: "EU: Hände weg von Ulster". Zwei Graffitis auf einem Zaun daneben wurden übermalt – vorher stand hier geschrieben: "All border post staff are targets" – alle Grenzbeamte sind Zielscheiben.
John Shannon betreibt ein Gartencenter am Rande von Larne, in der Nähe einer Schnellstraße. Es ist ein sonniger Aprilmorgen. Shannon ist 66, graues Haar, grüne Fleecejacke, und ist sichtbar glücklich, dass Kunden nach dem Lockdown wieder einkaufen kommen. Sein Geschäft betreibt er schon seit über 40 Jahren.
"Wir leben in einem schönen Land und ich bin dagegen, wenn Menschen überall solche Sprüche an die Wände sprühen. Das ist nicht akzeptabel. Wir sind ein gastfreundliches Land. Wenn der Lockdown vorbei ist, freuen wir uns auf die Touristen. Doch die Sachen, die hier neulich passiert sind, werden sie abschrecken."

Suche nach neuen Lieferanten durch den Brexit

Überrascht war Shannon darüber jedoch nicht. Larne ist eine unionistische Stadt, und der Unmut unter den Protestanten über das Nordirlandprotokoll ist hier überall spürbar. Auch Shannon selbst musste nach dem Brexit neue Lieferanten suchen.
"Im Dezember letzten Jahres sagte mir ein englischer Lieferant, bei dem ich Blumenzwiebeln und Saatkartoffeln kaufe: Wir werden demnächst große Probleme damit haben, unsere Produkte nach Nordirland zu liefern. Wir empfehlen Ihnen ausdrücklich, frühzeitig zu bestellen, im Dezember. Das tat ich, und das war eine sehr gute Entscheidung."
Ein weißhaariger Mann in grüner Fleecejacke steht neben einem Kasten mit Jungpflanzen.
Wegen des Brexit muss Gartencenterbetreiber John Shannon nach neuen Lieferanten in Irland oder Nordirland suchen.© Deutschlandradio / Julia Smirnova
Für die Engpässe sind neue Regeln verantwortlich, die seit Januar in Nordirland gelten. Man darf weder Saatkartoffeln aus dem Rest des Vereinigten Königreichs einführen noch Topfpflanzen. Zwar setzte die britische Regierung diese Regeln vorübergehend außer Kraft, geholfen hat es Shannon aber nicht. Denn für jede Lieferung müssen weiterhin Gesundheitszertifikate vorgelegt und Zollerklärungen ausgefüllt werden.
"Der Stapel von Dokumenten für eine Lieferung kann zwei oder drei Zoll dick sein. Das ist verrückt. Ich habe einen exzellenten Lieferanten von Asalien, Rhododendren und Kamelien aus England. Eine Lieferung habe ich noch vor Weihnachten bestellt. Die zweite Lieferung hätte jetzt im März oder April kommen müssen. Sie haben sich sehr darum bemüht, mir die Waren zu schicken, doch am Ende riefen sie mich an und sagten: Wir können diesen Papierkram nicht bewältigen, das ist zu viel. Die Speditionsfirma wird Ihre Lieferung nicht akzeptieren."

Sorge, dass es zu weiterer Gewalt kommt

Vor dem Brexit kaufte Shannon 50 bis 60 Prozent der Pflanzen und des Saatguts in Großbritannien ein. Jetzt kommt alles entweder aus Nordirland oder Irland. Der 66-Jährige glaubt nicht, dass die Grenze in der Irischen See verschwinden wird, aber er findet, die Formalitäten müssten vereinfacht werden. 2016 stimmte er gegen den Brexit und er will keine Grenze zu Irland. Doch nach den jüngsten Ausschreitungen fürchtet er, dass es zu weiterer Gewalt kommen kann:
"Die EU muss verstehen, wenn sie diese sehr strengen Regeln für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland nicht lockern wird, dass dann die Gewalt wieder eskalieren kann. Leider hat unsere Geschichte der letzten 30 bis 40 Jahre gezeigt: Wenn du auf die Straße gehst und Chaos anstiftest, kannst du damit etwas verändern. Wir sind in einer Situation, in der es sich lohnt, zur Gewalt zu greifen, und das ist absolut falsch."
Zurück in Belfast. Jim Wilson fährt durch ein Arbeiterviertel im Osten der Stadt. Reihenhäuser aus rotem Ziegelstein. Im 19. und 20. Jahrhundert lebten hier Arbeiter der Werft, auf der das Schiff Titanic gebaut wurde. Man merkt sofort, dass hier vor allem pro-britische Unionisten leben. Überall hängen Union Jacks oder Fahnen von Glasgow Rangers, einem Fußballverein, der vor allem von Protestanten unterstützt wird. Und hier verehren Graffitis immer noch alte loyalistische Milizen wie UDA - Ulster Defence Association. Ein Bild zeigt einen Mann in Tarnuniform und einer schwarzen Sturmhaube, der mit einem Gewehr auf Zuschauer zielt.
"Das ist ein Mural von UDA. Heute sind UDA und UVF die größten Gruppen", erklärt Wilson. "Sie sind alle entstanden, um unser Ulster vor der IRA zu schützen."

Das Gefühl, die britische Identität zu verlieren

Jim Wilson gehörte einst selbst einer solchen Miliz an. Er war Mitglied von Red Hand Commando, einer paramilitärischen Gruppe, die für mehrere Morde an katholischen Zivilisten verantwortlich ist. Der 68-Jährige saß im Gefängnis, heute arbeitet er für das Projekt "Reach UK", das ehemalige Paramilitärs ins friedliche Leben integrieren soll. Wilson stimmte 2016 für den Brexit. Jetzt bereut er seine Entscheidung:
"Wenn ich gewusst hätte, was passieren wird, hätte ich lieber dafür gestimmt, in der EU zu bleiben. Das wäre einfacher gewesen. Es hätte keine Gewalt auf den Straßen gegeben, keine Probleme für unsere Kinder. Aber damals hatte ich das Gefühl, dass wir unsere britische Identität an die EU verlieren."
Wilson sagt, er sei gegen die Gewalt. Doch die politischen Forderungen, die er aufstellt, klingen drastisch:
"Wir wollen, dass das Nordirlandprotokoll verschwindet. Wir wollen keinen Unterschied zwischen uns und Manchester, Glasgow, Cardiff, den Städten in England, Schottland und Wales. Wir wollen exakt die gleichen Bedingungen. Das ist etwas, wofür wir gekämpft haben, als wir zur Gewalt griffen und auf die irisch-republikanische Gewalt antworteten. Denn es hieß: Wir bleiben Teil des Vereinigten Königreichs, bis wir selbst anders entscheiden."
Ein älterer Mann in dunnkler Steppjacke steht vor einer Einfahrz zu einem Anwesen.
Bereut, dass er 2016 für den Brexit gestimmt hat: Jim Wilson, protestantischer Nordire.© Deutschlandradio / Julia Smirnova
Wilson ist Mitglied der Organisation Loyalist Communities Council, in der auch Vertreter von paramilitärischen Gruppen sitzen. Die Organisation erklärte in diesem Jahr, dass sie das Karfreitagsabkommen nicht mehr unterstütze. Wilson sagt, die größten paramilitärischen Gruppen hätten mit der jüngsten Gewalteskalation aber nichts zu tun.
Doch in Nordirland wird gerade diskutiert, inwiefern Leute wie er Öl ins Feuer gießen, wenn sie das Karfreitagsabkommen ablehnen oder Jugendlichen das Gefühl geben, sie seien als Protestanten benachteiligt. Auch Politiker der pro-britischen Partei DUP stehen dafür in der Kritik.

Der Priester versucht, die Lage zu beruhigen

Ein Gottesdienst in der katholischen Kirche St Paul’s Church. Der Priester Anthony Devlin steht im weißen Gewand vor der Gemeinde. Der Katholik findet, kein Politiker in Nordirland sollte spaltende Botschaften an die Jugend senden.
"Manchmal erkennt man nicht, ob einzelne Politiker die Gewalt tatsächlich stoppen wollen. Ich weiß, sie wollen alle, dass die Gewalt aufhört, aber sie wollen auch, dass die Proteste weitergehen. Doch man kann nicht junge Menschen mit solchen Botschaften füttern und dann erwarten, dass sie nichts tun."

Im Europaparlament waren bis zum Brexit 73 Abgeordnete aus Großbritannien, darunter auch nordirische und schottische. Der Kontakt zu ihnen ist nach dem Brexit nicht abgebrochen, erklärt die grüne Europa-Abgeordnete Terry Reintke, und dabei seien natürlich auch die Bestrebungen von Nordirland und Schottland nach Unabhängigkeit Thema. Das ganze Interview hören Sie am Ende dieser Weltzeit.

Anthony Devlin war während der Krawalle auf der Springfield Road und versuchte, die katholischen Jugendlichen zu beruhigen.
"Ich war auf dieser Seite der Mauer", erzählt er. "Sie hörten mir zu, sie waren freundlich, aber nur wenige hörten auf, Steine zu werfen. Das ist die Wahrheit, nur einige hörten damit auf."
Zusammen mit protestantischen Pfarrern traf er sich zu einem gemeinsamen Gottesdienst. Er hofft, dass die Gewalt nicht weiter eskaliert.
"Wir hoffen, und das ist alles, was wir tun können. Beten und arbeiten, auf die andere Seite der Mauer gehen, mit Menschen dort reden und darauf hoffen, dass wir alle für die Proteste eine weniger gefährliche Form finden."
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