Nordirland als Vorbild für den Nahen Osten
Die Politikwissenschaftlerin an der palästinensischen Universität Birzeit, Helga Baumgarten, hat an die internationale Politik appelliert, sich mit neuen Lösungsansätzen für den Frieden in Israel und Palästina einzusetzen. Viele Palästinenser schauten derzeit neidisch nach Nordirland, sagte Baumgarten.
Marie Sagenschneider: Wer macht den ersten Schritt im Nahen Osten? Die Palästinenser oder Israel? Militante palästinensische Gruppen haben in den vergangenen zwei Wochen fast 250 Raketen auf Israel abgefeuert, im Gegenzug hat die israelische Luftwaffe Ziele der Hamas im Gazastreifen angegriffen, mehr als 40 Palästinenser sind dabei gestorben. Und erschwerend kommt hinzu, dass auch die innerpalästinensische Gewalt wieder aufgeflammt ist zwischen der Hamas und der Fatah. Von der Waffenruhe, wie sie im Großen und Ganze sechs Monate gehalten hatte, ist man derzeit jedenfalls weit entfernt. Oder gibt es Anzeichen dafür, dass sich die Lage wieder beruhigen könnte? Auch darüber wollen wir mit Helga Baumgarten sprechen. Sie lebt seit 17 Jahren in Ostjerusalem, ist Professorin für Politikwissenschaften an der palästinensischen Universität Birseit im Westjordanland und hat Bücher geschrieben unter anderem über Arafat und über die Hamas. Guten Morgen, Frau Baumgarten.
Helga Baumgarten: Einen schönen guten Morgen.
Sagenschneider: Wie erleben Sie diese wieder zunehmende Gewalt?
Baumgarten: Wir haben im Gegensatz zu dem, was im Ausland gemeldet worden ist, schon in den vergangenen letzten Wochen und Monaten fast tägliche Gewalt im Westjordanland erlebt. Es ist ja so, dass der Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen eingehalten worden ist bis zur Aufflammung der letzten Zusammenstöße, während im Westjordanland es tägliche Übergriffe der israelischen Armee gegen Palästinenser gegeben hat. Angriffe, die vor allem auf Nablus und Jenin sich konzentrieren, aber immer wieder auch Ramallah, also das Zentrum der Westbank, und im Süden Hebron eingeschlossen haben. Der Anfang der palästinensischen Angriffe auf israelische Ziele im Süden Israels, vor allem die Stadt Sderot, war, so die palästinensischen Erklärungen, eine Reaktion auf diese permanenten israelischen Angriffe, bei denen fast täglich Menschen ums Leben gekommen sind im Westjordanland. Wir sind inzwischen in einer regelrechten Kriegssituation im Gazastreifen. Die Palästinenser schießen ihre selbst gebastelten Kassam-Raketen heraus. Bisher gab es einen israelischen Toten. Die Israelis machen Luftangriffe und schießen mit Artillerie rein in den Gazastreifen, mit bis heute über 40 Toten. Man kann eigentlich nur hoffen, dass beide Seiten bald zur Vernunft kommen. Wir lesen in der israelischen Presse seit gestern, dass Hamas die Bereitschaft erklärt hat, einen neuen Waffenstillstand zu akzeptieren, wenn Israel die Angriffe aufhört. Allerdings fordert man von palästinensischer Seite, den Waffenstillstand nicht nur auf den Gazastreifen zu beschränken, sondern auf die gesamte Westbank, also auf das Westjordanland, auszudehnen. Die Situation sieht sehr verfahren aus. Wir haben eigentlich auf allen Ebenen nur noch die pure Gewalt.
Sagenschneider: Das heißt, es bestehen derzeit auch wenige Chancen, dass der Konflikt beigelegt oder beendet wird. Was, Frau Baumgarten, tut eigentlich die palästinensische Einheitsregierung aus Hamas und Fatah? Kommt sie irgendwie voran?
Baumgarten: Man hat natürlich unter Kriegsbedingungen kaum Möglichkeiten irgendetwas zu tun auf palästinensischer Seite. Innerhalb der Gesellschaft war man sehr optimistisch, was diese Regierung machen könnte. Es gab zwei Probleme. Das erste Problem war, dass der Westen nur teilweise den Boykott gegen die Palästinenser aufgehoben hat. Man redet jetzt also mit Ministern aus der Einheitsregierung, die der Fatah angehören oder die Unabhängige sind. Man boykottiert nach wie vor Hamas-Minister. Israel hat letzte Woche eine neue Verhaftungswelle von palästinensischen Ministern, Abgeordneten und Bürgermeistern begonnen. Unter diesen Bedingen auch nur an Regieren zu denken, ist fast unmöglich. Dazu kommt, dass die USA die Fatah weiter aufrüsten. Aufrüstung heißt natürlich, dass man auf eine neue Runde im innerpalästinensischen Bürgerkrieg, sprich im Machtkampf zwischen Fatah und Hamas redet. Die Palästinenser schauen inzwischen neidisch nach Nordirland. Und viele Forscher sagen, warum kann man hier im Land einen Lösungsversuch nicht so angehen, wie man das in Nordirland gemacht hat, nämlich dass alle Parteien miteinander reden, und zwar ohne Ausschließung irgendeiner Seite.
Sagenschneider: Aber dazu müsste ja vielleicht – und darauf wird Israel pochen und darauf pocht Israel auch – die Bereitschaft erkennbar sein, dass da Zugeständnisse gemacht werden von Seiten der Hamas, wie zum Beispiel das Existenzrecht Israels anzuerkennen und auf Gewalt zu verzichten.
Baumgarten: Was den Gewaltverzicht betrifft, so hat Hamas diese Bedingung sicher immer wieder erfüllt. Ansonsten wissen wir aus anderen Erfahrungen mit internationalen Verhandlungen zur Konfliktlösung, dass es am besten ist, Verhandlungen ohne Vorbedingungen zu starten. Die Erfüllung von Bedingungen sind das Ergebnis von Verhandlungen, nicht eine Vorbedingung.
Sagenschneider: Wie lange wird sich die Hamas überhaupt noch halten können, denn die Situation in den palästinensischen Gebieten ist ja schwierig. Sie haben es beschrieben, die Gelder fließen nicht mehr, das heißt, die im öffentlichen Dienst Angestellten bekommen keine Gehälter mehr, die Arbeitslosigkeit liegt bei 66 Prozent – das sind alles Zahlen der Vereinten Nationen – sieben von zehn Haushalten leben in absoluter Armut. Leidet da das Image der Hamas nicht zunehmend oder produziert das eher einen Solidarisierungseffekt?
Baumgarten: Ich denke, die Palästinenser sehen sehr deutlich, dass ihr Problem die israelische Besatzung ist und nicht die Hamas-Regierung, die man ja konsequent am Regieren gehindert hat. Es gibt gleichzeitig durchaus Kritik an der Hamas, der man vorwirft, viele ihrer Versprechen nicht eingehalten zu haben. Trotz des Boykotts wäre es möglich gewesen, auf der einen oder anderen Ebene bestimmte Dinge, zum Beispiel Kampf gegen die Korruption, neue Ideen, was die Regierung betrifft, etc., durchzuziehen. Das ist der Hamas nicht gelungen. Viele sagen, unter diesen Bedingungen der verschärften Besatzung plus des internationalen Boykottes ist überhaupt nichts möglich. Generell, wir stehen eine Woche vor 40 Jahren israelische Besatzung, konzentriert sich die Bevölkerung heute in den palästinensischen Gebieten darauf zu fordern, macht endlich Schluss mit der Besatzung, lasst uns in Freiheit unsere eigene Regierung und unser eigenes Leben bestimmen. Und das ist leider nicht möglich. Israel ist nicht bereit bis heute, zeigt keine Anzeichen, die Besatzung aufgeben zu wollen. Von internationaler Seite her ist leider auch keinerlei Druck auf Israel, also auf die Besatzungsmacht zu spüren. Von internationaler Seite kommt der Druck auf die Hamas. Und die palästinensische Bevölkerung argumentiert immer wieder, warum wird nur die schwache, die empfangende Seite unter Druck gesetzt, warum macht man das nicht mit dem Starken.
Sagenschneider: Frau Baumgarten, ich danke Ihnen. Helga Baumgarten war das, sie ist Professorin für Politikwissenschaften an der palästinensischen Universität Birseit im Westjordanland.
Helga Baumgarten: Einen schönen guten Morgen.
Sagenschneider: Wie erleben Sie diese wieder zunehmende Gewalt?
Baumgarten: Wir haben im Gegensatz zu dem, was im Ausland gemeldet worden ist, schon in den vergangenen letzten Wochen und Monaten fast tägliche Gewalt im Westjordanland erlebt. Es ist ja so, dass der Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen eingehalten worden ist bis zur Aufflammung der letzten Zusammenstöße, während im Westjordanland es tägliche Übergriffe der israelischen Armee gegen Palästinenser gegeben hat. Angriffe, die vor allem auf Nablus und Jenin sich konzentrieren, aber immer wieder auch Ramallah, also das Zentrum der Westbank, und im Süden Hebron eingeschlossen haben. Der Anfang der palästinensischen Angriffe auf israelische Ziele im Süden Israels, vor allem die Stadt Sderot, war, so die palästinensischen Erklärungen, eine Reaktion auf diese permanenten israelischen Angriffe, bei denen fast täglich Menschen ums Leben gekommen sind im Westjordanland. Wir sind inzwischen in einer regelrechten Kriegssituation im Gazastreifen. Die Palästinenser schießen ihre selbst gebastelten Kassam-Raketen heraus. Bisher gab es einen israelischen Toten. Die Israelis machen Luftangriffe und schießen mit Artillerie rein in den Gazastreifen, mit bis heute über 40 Toten. Man kann eigentlich nur hoffen, dass beide Seiten bald zur Vernunft kommen. Wir lesen in der israelischen Presse seit gestern, dass Hamas die Bereitschaft erklärt hat, einen neuen Waffenstillstand zu akzeptieren, wenn Israel die Angriffe aufhört. Allerdings fordert man von palästinensischer Seite, den Waffenstillstand nicht nur auf den Gazastreifen zu beschränken, sondern auf die gesamte Westbank, also auf das Westjordanland, auszudehnen. Die Situation sieht sehr verfahren aus. Wir haben eigentlich auf allen Ebenen nur noch die pure Gewalt.
Sagenschneider: Das heißt, es bestehen derzeit auch wenige Chancen, dass der Konflikt beigelegt oder beendet wird. Was, Frau Baumgarten, tut eigentlich die palästinensische Einheitsregierung aus Hamas und Fatah? Kommt sie irgendwie voran?
Baumgarten: Man hat natürlich unter Kriegsbedingungen kaum Möglichkeiten irgendetwas zu tun auf palästinensischer Seite. Innerhalb der Gesellschaft war man sehr optimistisch, was diese Regierung machen könnte. Es gab zwei Probleme. Das erste Problem war, dass der Westen nur teilweise den Boykott gegen die Palästinenser aufgehoben hat. Man redet jetzt also mit Ministern aus der Einheitsregierung, die der Fatah angehören oder die Unabhängige sind. Man boykottiert nach wie vor Hamas-Minister. Israel hat letzte Woche eine neue Verhaftungswelle von palästinensischen Ministern, Abgeordneten und Bürgermeistern begonnen. Unter diesen Bedingen auch nur an Regieren zu denken, ist fast unmöglich. Dazu kommt, dass die USA die Fatah weiter aufrüsten. Aufrüstung heißt natürlich, dass man auf eine neue Runde im innerpalästinensischen Bürgerkrieg, sprich im Machtkampf zwischen Fatah und Hamas redet. Die Palästinenser schauen inzwischen neidisch nach Nordirland. Und viele Forscher sagen, warum kann man hier im Land einen Lösungsversuch nicht so angehen, wie man das in Nordirland gemacht hat, nämlich dass alle Parteien miteinander reden, und zwar ohne Ausschließung irgendeiner Seite.
Sagenschneider: Aber dazu müsste ja vielleicht – und darauf wird Israel pochen und darauf pocht Israel auch – die Bereitschaft erkennbar sein, dass da Zugeständnisse gemacht werden von Seiten der Hamas, wie zum Beispiel das Existenzrecht Israels anzuerkennen und auf Gewalt zu verzichten.
Baumgarten: Was den Gewaltverzicht betrifft, so hat Hamas diese Bedingung sicher immer wieder erfüllt. Ansonsten wissen wir aus anderen Erfahrungen mit internationalen Verhandlungen zur Konfliktlösung, dass es am besten ist, Verhandlungen ohne Vorbedingungen zu starten. Die Erfüllung von Bedingungen sind das Ergebnis von Verhandlungen, nicht eine Vorbedingung.
Sagenschneider: Wie lange wird sich die Hamas überhaupt noch halten können, denn die Situation in den palästinensischen Gebieten ist ja schwierig. Sie haben es beschrieben, die Gelder fließen nicht mehr, das heißt, die im öffentlichen Dienst Angestellten bekommen keine Gehälter mehr, die Arbeitslosigkeit liegt bei 66 Prozent – das sind alles Zahlen der Vereinten Nationen – sieben von zehn Haushalten leben in absoluter Armut. Leidet da das Image der Hamas nicht zunehmend oder produziert das eher einen Solidarisierungseffekt?
Baumgarten: Ich denke, die Palästinenser sehen sehr deutlich, dass ihr Problem die israelische Besatzung ist und nicht die Hamas-Regierung, die man ja konsequent am Regieren gehindert hat. Es gibt gleichzeitig durchaus Kritik an der Hamas, der man vorwirft, viele ihrer Versprechen nicht eingehalten zu haben. Trotz des Boykotts wäre es möglich gewesen, auf der einen oder anderen Ebene bestimmte Dinge, zum Beispiel Kampf gegen die Korruption, neue Ideen, was die Regierung betrifft, etc., durchzuziehen. Das ist der Hamas nicht gelungen. Viele sagen, unter diesen Bedingungen der verschärften Besatzung plus des internationalen Boykottes ist überhaupt nichts möglich. Generell, wir stehen eine Woche vor 40 Jahren israelische Besatzung, konzentriert sich die Bevölkerung heute in den palästinensischen Gebieten darauf zu fordern, macht endlich Schluss mit der Besatzung, lasst uns in Freiheit unsere eigene Regierung und unser eigenes Leben bestimmen. Und das ist leider nicht möglich. Israel ist nicht bereit bis heute, zeigt keine Anzeichen, die Besatzung aufgeben zu wollen. Von internationaler Seite her ist leider auch keinerlei Druck auf Israel, also auf die Besatzungsmacht zu spüren. Von internationaler Seite kommt der Druck auf die Hamas. Und die palästinensische Bevölkerung argumentiert immer wieder, warum wird nur die schwache, die empfangende Seite unter Druck gesetzt, warum macht man das nicht mit dem Starken.
Sagenschneider: Frau Baumgarten, ich danke Ihnen. Helga Baumgarten war das, sie ist Professorin für Politikwissenschaften an der palästinensischen Universität Birseit im Westjordanland.