Stau und Stress in Stuttgart

Pendeln kostet Zeit, Geld und schadet der Gesundheit

Autos stehen in Stuttgart im Stau
Stau in Stuttgart: 240.000 Personen, die in der Landeshauptstadt arbeiten, kommen von außerhalb. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Von Uschi Götz · 16.03.2018
Die Region um Stuttgart zählt zu stauträchtigsten Städten des Landes. Baden-Württemberg gilt europaweit als die wirtschaftsstärkste Region. Doch auf dem Weg in die Landeshauptstadt verzweifeln immer mehr Menschen in ihren Autos. Vor allem die Pendler sind genervt.
Fahrerflucht oder Mord? So viel sei verraten: Der Mörder steht im Stau. Über neun Millionen Zuschauer haben sich den Tatort "Stau" im Herbst 2017 in der ARD angesehen.
"Schauplatz des SWR Tatorts ist die Stauhauptstadt der Republik, also Stuttgart, genauer: die Neue Weinsteige, wo täglich 45.000 Fahrzeuge in den Kessel reinfahren oder raus. Wenn sie nicht gerade im Stau stehen. Wie der Täter im Tatort."

Der Stau als "Tatort"-Inspiration

Im Stau gibt es bekanntlich kein Entkommen. Es sei denn man flieht zu Fuß. Natürlich kam Co-Drehbuchautor und Regisseur Dietrich Brüggemann auf diese Geschichte im Stau:
"Zu Stuttgart fallen mir zwei Sachen ein: Autoindustrie und Stau. Wir haben vor drei Jahren da einen Film gedreht und standen einfach ständig im Stau. Und genau so ein Abend auf der Weinsteige vor mords Panorama. Das kriegt man in keiner anderen deutschen Stadt. Man muss einfach das Naheliegende anschauen."
Der Ausblick von der Neuen Weinsteige hinab in den Stuttgarter Talkessel ist toll. Von den 45.000 Pendlern auf dieser Strecke dürfte das Panorama allerdings keinen mehr beeindrucken. Wer hat, schaut aufs Navi, wie lang der Stau ist. Unter fünf Kilometer ist dabei eine gute Zahl.
Bundesweit pendeln etwa 18,4 Millionen Menschen jeden Tag zur Arbeit. Tendenz weiter steigend. Das gilt besonders für Stuttgart und Umgebung. Ein Grund: In den vergangenen Jahren wurden noch mehr Arbeitsplätze in der Metropolregion mit rund 2,7 Millionen Einwohner geschaffen.

87.000 Menschen pendeln von Stuttgart ins Umland

Mehr Arbeitsplätze bedeuten auch mehr Autos. Reimund Elbe vom ADAC Württemberg hat die aktuellen Zahlen:
"Allein in Stuttgart kommen über 240.000 Personen, die in Stuttgart arbeiten von außerhalb. Und 87.000 pendeln von Stuttgart ins Umland."
Ich gehöre zu den sogenannten Einpendlern. Fast jeden Morgen fahre ich mit meinem Elektroauto in die baden-württembergische Landeshauptstadt. Elektroautos parken in der Landeshauptstadt überall kostenlos, das ist aber fast schon das einzige Privileg. Die Parkplätze sind äußert rar, wer in Stuttgart falsch parkt, wird sofort abgeschleppt.
Rund 45 Kilometer sind es von meinem Wohnort bei Tübingen bis in die Stuttgarter Redaktion. Theoretisch ist das in 35 Fahrminuten zu schaffen. Praktisch klappt das nur nachts. Meistens dauert die Fahrt am Morgen und Abend über eine Stunde.
Pendler leiden vermehrt unter Kopf-, Rücken- und Magenschmerzen. Das geht aus Studien hervor. Außerdem können Pendler schlechter schlafen und sind gereizter. Pendler haben oft einen erhöhten Blutdruck.

Schadet der Stau der Gesundheit?

Schade ich meiner Gesundheit? Heute begleitet mich der Facharzt Dr. Ulrich Köster, er wird meinen Blutdruck auf der gesamten Fahrstrecke kontrollieren:
"Morgen" "Guten Morgen Frau Götz" "Jetzt müssen wir geschwind die Blutdruckmanschette anlegen. Ich lege die Manschette um ihren Oberarm, das wird Sie beim Fahren nicht behindern. Jetzt nehmen wir den Ausgangswert. Sonst machen wir das elektrisch, aber heute haben wir ein Handgerät dabei"
Wir starten jetzt um 7:31, Ankunftszeit soll 8:15 sein. Ich habe um 8:30 Uhr einen Termin im baden-württembergischen Landtag, dort bin ich verabredet zu einem Interview.

Stehender Verkehr - noch ist der Blutdruck stabil

Nach sieben Kilometern auf einer Landstraße geht es auf die A 81 in Richtung Stuttgart. Das Navigationssystem zeigt längst den ersten Stau, doch noch fließt der Verkehr. Etwa 20 Kilometer vor Stuttgart in Höhe Böblingen ist Schluss: stehender Verkehr.
"Jetzt wollen wir wieder nach ihrem Blutdruck schauen, wenn wir hier so immer mehr verzögert werden."
Fast zehn Jahre lang ist der Mediziner Ulrich Köster mit dem Auto nach Stuttgart gependelt.
"Da hat sich nicht viel getan, Sie sind immer noch sehr gelassen für die Situation: 125/ 80."
Vor einigen Jahren ist er auf die S-Bahn umgestiegen. Bis Herrenberg fährt Köster mit dem Auto und steigt dort am Bahnhof in die S-Bahn nach Stuttgart:
"Von Tür zu Tür brauch ich eine Stunde. Ich habe immer etwas zu lesen dabei, ich bin immer warm angezogen für Wartezeiten auf kalten Bahnhöfen."
Will man das? Der Bahn-Pendler gibt zu: Er komme oft zu spät. Alle kommen oft zu spät.
Auf der A 81 geht es im Schneckentempo voran. Meine vorhergesagte Ankunftszeit am Landtag verschiebt sich um weitere 20 Minuten. Würde der Verkehr endlich wieder fließen, käme ich nur 5 Minuten zu spät zu meinem Interviewpartner. Aber es geht nicht weiter:
"Und jetzt sehen wir auf dem Display auch noch einen anderen Stau, nämlich vor dem Heslacher Tunnel, das ist ganz in der Nähe ihrer Praxis. Auch da eine Verzögerung von acht Minuten."
Der Heslacher Tunnel ist ein 2,3 km langer, zweispuriger Straßentunnel im Süden Stuttgarts. Hier staut sich der Verkehr jeden Morgen, heute extrem. Viele Fahrzeuge kommen vom Autobahnkreuz Stuttgart. Jetzt stehen wir oben, sozusagen an den Toren der Stadt. Es geht sehr langsam Richtung Tunnel. Hier verlieren wir weitere 25 Minuten. Ein kleiner Auffahrunfall macht heute das große Problem. Der Blechschaden hat für tausende Pendler Konsequenzen.

Auf allen Einfallsstraßen nach Stuttgart staut es sich

Es gibt keine Ausweichspuren, bei jedem Zwischenfall steht der Verkehr. Das gilt auch für alle anderen Einfallsstraßen nach Stuttgart, auch dort staut es sich heute wieder.
"Und das stresst mich jetzt einfach."
"Dann werde ich jetzt wieder Blutdruckmessen. Nun, jetzt haben Sie doch eine Blutdruckerhöhung, die ist zwar durchaus noch in der Norm, mit 135/ 80. Aber der Puls ist doch spürbar angestiegen, auf 96. Also sie ärgert das offensichtlich doch."
Mein Interviewpartner kann nicht mehr länger auf mich warten, auch Dr. Köster wird zu spät in die Praxis kommen.
Kösters Patienten sitzen im Wartezimmer, auch sie müssen warten. Das ganze Praxisteam muss warten.
Ich komme kurz nach 9 Uhr im Büro an, um 7:30 Uhr bin ich losgefahren, eineinhalb Stunden Fahrzeit für 45 Kilometer.
"Alle sind genervt! Alle sind genervt von dieser Verkehrssituation. Bei uns kommt im Jahr 2017 noch hinzu, dass die S-Bahnen unglaublich unpünktlich waren, was extreme Auswirkungen hat."
Johannes Schmalz ist Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart. Die Kammer ließ 2017 die Verkehrssituation in und um Stuttgart analysieren. "Dem Stau auf der Spur" heißt die vielversprechende Studie. 2, 5 Millionen Datensätze aus GPS-Fahrzeugdaten wurden analysiert. Gerade die Wirtschaft hat großes Interesse daran, dass sich endlich was tut auf den Straßen:
"Es geht auch um die Schäden, die daraus entstehen, wenn ein Mitarbeiter – und jetzt denkt man nicht nur an den, der ins Büro fährt, sondern an den, der von Kunde zu Kunde unterwegs ist –, wenn er nicht pünktlich am Ort ist. Und in Stuttgart ist es wie in vielen anderen Metropolen auch, ankommen ist inzwischen ein Glückspiel. Keiner weiß, wie gesichert er eine Ankunftszeit vorhersagen kann."

Umfahrungsmöglichkeiten und Schleichwege – alle sind zu

Im Rahmen der Studie wurden auch Geschwindigkeiten gemessen: Morgens um 8 Uhr liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrzeuge auf bestimmten Straßen in Stuttgart im Schnitt bei 29 Kilometern in der Stunde. Abends gegen 17:30 Uhr sind es nur 28 Kilometer in der Stunde. Mancherorts geht es noch langsamer vorwärts.
"Viele Beschäftigte versuchen sich anzupassen, aber die Kapazitäten im Ballungsraum Stuttgart sind begrenzt. Sie können keine Umfahrungsmöglichkeiten, keine Schleichwege wählen, weil die auch alle zu sind."
Eine mögliche Lösung sind laut der Kammer neue Straßen. Doch mehr Straßen wird es mit Stuttgarts grünem Oberbürgermeister Fritz Kuhn nicht geben. Der Rathauschef hat längst andere Sorgen. Als erste Stadt hat Stuttgart den Feinstaubalarm eingeführt. Autofahrer werden bei bestimmten Wetterlagen aufgefordert, den Wagen stehen zu lassen und auf Bus und Bahn umzusteigen. Nur wenige steigen freiwillig um.
Das Bundesverwaltungsgericht erlaubt Städten nun Fahrverbote. Vermutlich werden ältere Diesel ab 2019 nicht mehr in den Talkessel fahren dürfen. Zurzeit wird der Luftreinhalteplan überarbeitet, der entsprechende Verbote beinhalten könnte.
Geschäftsführer Schmalzl wirft der Stuttgarter Rathausspitze Fantasielosigkeit vor:
"Da ist einfach zu viel Durchwursteln aus Sicht der Unternehmen, man packt gewisse Dinge nicht mehr an: Straßenbaumaßnahmen gelten als vergiftet, weil sofort die nächste Bürgerinitiative da steht und dagegen protestiert, oder artenschutzrechtliche Bedenken da sind. Da sind zu viele Denkverbote im Spiel. Wenn Sie Metropolen im Rest der Welt sich anschauen, die haben mutige Entscheidungen getroffen, um den Stau zu beheben."
Ein Besuch in Tokio hätte ihn beeindruckt, sagt Schmalzl. Dort führen Bahntrassen und mehrstöckige Autostraßen über die Stadt. Das ginge natürlich in Stuttgart nie.

Unternehmen fordern immer lauter eine zuverlässigere Infrastruktur

Doch lange geht es in Stuttgart so auch nicht mehr weiter. Immer lauter fordern Unternehmen eine zuverlässigere Infrastruktur. Es ginge nun darum, den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver und zuverlässiger zu machen:
"Aber es muss kostenmäßig erschwinglich sein, es muss berechenbar sein. Die S-Bahnen sind zur Rush Hour vollgestopft, wir haben Klagen von Unternehmen, dass Beschäftigte, mitunter auch Schulkinder gar nicht mehr mitgenommen werden, weil die Busse voll sind. Das heißt, der hält an der Haltestelle, aber es darf keiner mehr ein- und zusteigen."
Baden-Württemberg gilt als die wirtschaftsstärkste Region in Europa. Viele namhafte Konzernzentralen stehen in Stuttgart und der Region.
Ausgerechnet diese Region bekommt seit Jahren weder das Chaos auf den Straßen in den Griff, noch ist der Bus- und Bahnverkehr verlässlich. Winfried Hermann, grüner Verkehrsminister im Land, setzt mittlerweile die Bahn wegen ständiger Verspätungen unter Druck. Teilweise mit Erfolg. Außerdem kündigte er ein Metropolexpresssystem an:
"Die Züge starten ungefähr in einem Umkreis von 50 Kilometern von Stuttgart. Sind so Städte wie Tübingen, Pforzheim, Göppingen, Heilbronn. Aus allen Richtungen, wo wir wissen, da sind erhebliche Pendlerströme, fahren im Halbstundentakt Metropolexpresszüge."
Hermann ist überzeugt:
"Es ist einfach ein gutes Angebot für Pendler umzusteigen. Das ist für mich ziemlich wichtig, denn dieser Pendlerverkehr macht, erstens, die Luft kaputt und schadet der Lebensqualität in Stuttgart, und ist mitverantwortlich für die Staus."

Ein Paar pendelt seit etwa 17 Jahren

5:45 Uhr, ein Tag später. Sven Detzer und seine Frau warten am Bahnhof von Süßen nahe Göppingen auf den Zug aus Ulm. Etwa 60 Kilometer sind es von hier aus nach Stuttgart. Seit 17 Jahren pendelt das Paar:
"Ganz einfache Geschichte, wir wohnen sogar noch weiter draußen, in einem Tal, weil die Grundstückspreise dort relativ günstig sind."
Der Mann mittleren Alters arbeitet bei einer Bank. Eine Eigentumswohnung ist in Stuttgart auch für zwei normale Verdiener kaum noch bezahlbar. Mit fast zehn Euro durchschnittliche Nettokaltmiete pro Quadratmeter ist derzeit nur noch München teurer. Viele Beschäftigte müssen deshalb pendeln. Detzers wohnen gerne außerhalb, allerdings war vor allem 2017 für die Zugpendler dramatisch:
"Zweimal in der Woche standen wir für umsonst am Bahnsteig. Man musste halt eine Stunde oder eine dreiviertel Stunde auf den nächsten Zug warten oder sich eine Alternative suchen, mit dem Auto nach Göppingen fahren zu einem IC oder sonst irgend so etwas."
Auch Zugpendler aus anderen Regionen mit Fahrtziel Stuttgart machten ähnliche Erfahrungen. Zurzeit fährt zumindest der Zug von Ulm nach Stuttgart nahezu pünktlich.
Das ist auch Sven Detzer und einem Mitstreiter zu verdanken. In einer beispiellosen Aktion haben sie sich gegen die massiven Verspätungen und Zugausfälle gewehrt. Zunächst erfolglos über das Beschwerdemanagement der Bahn:
"Dann haben wir die Strategie gewechselt. Und zwar haben wir unsere Briefe direkt an die Vorgesetzten geschrieben. Wir haben uns die Adressen besorgt, wer für was zuständig ist."

Ein erfahrener Bahnexperte wurde aus dem Ruhestand geholt

Zeitgleich informierten die frustrierten Bahnpendler Medienvertreter in ganz Baden-Württemberg, auch Lokalpolitiker und die Landespolitik wurden eingeschaltet. Die Bahn geriet zunehmend unter Druck:
"Und das ging so weit, dass uns die Geschäftsführung DB Regio zu einem persönlichen Gespräch einmal eingeladen hat. Und da haben wir mal zwei Stunden über die Probleme gesprochen."
Auch das baden-württembergische Verkehrsministerium reagierte und holte einen erfahrenen Bahnexperten aus dem Ruhestand. Offiziell wurde der Experte als "Sonderbeauftragter für den Personennahverkehr" eingesetzt, viele Pendler nannten ihn Chaosmanager.
Der Experte erreichte in wenigen Wochen viel. Einige Züge, so auch der von Sven Detzer, werden nun nach ihrer Ankunft am Zielort nicht gleich wieder zurückgeschickt. Ein anderer Zug steht jetzt am Bahnhof bereit. So summieren sich Verspätungen nicht mehr. Allerdings gibt es nun andere Probleme: die Gleisbelegung im Stuttgarter Bahnhof ist zu dicht:
"Und dass ein verspäteter IC genau auf dem Gleis steht, wo unser Zug eingesetzt werden soll. Das heißt, wieder Verspätung, weil wir warten müssen bis der ICE raus ist, dann kommt unser Zug mit zehn Minuten Verspätung in die Bereitstellung, und dann haben wir ein ähnliches Drama wie letztes Jahr."
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