Nietzsche und seine Experimente

08.06.2010
Wenige Monate vor seinem Zusammenbruch 1888/89 hat Friedrich Nietzsche begonnen, die Geschichte Jesu von Nazareth neu zu erzählen. "Der Antichrist und der Gekreuzigte" von Heinrich Detering ist eine literarische Studie über seine letzten Experimente mit Mythos und Religion.
Der späte Nietzsche zwischen Genie und Wahnsinn ist zum größten Mythos der philosophischen Moderne geworden. Sein Werk wurde zumeist vom Ende her verstanden. Und wer hat sich - von der frühen Verklärungsarbeit Georges bis hin zu postmodernen Sinn-Dekonstrukteuren - nicht alles auf ihn berufen! Der Göttinger Germanist Heinrich Detering schiebt das alles erst einmal beiseite, um mit erstaunlicher Hartnäckigkeit dem Wortlaut zu folgen: Philologie statt Psychologie. Deterings Analyse ist einem strengen Close Reading vor allem der polemische Schriften "Der Antichrist" und "Ecce Homo" verpflichtet.

Nietzsche als Autor des "Zarathustra" stellte den "Tod Gottes" fest, um mit Hammer-Härte eine neue antimoralische Moral des starken Lebens zu verkünden: "Die Schwachen und Missrathnen sollen zugrunde gehen. Erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dabei helfen." Das größte Übel war aus dieser Perspektive die Mitleidsethik Jesu: eine Religion der Liebe aus physiologischer Schwäche, die reine Verkörperung des Ressentiments gegen die "Starken". Für den Nietzsche dieser Phase war Jesus ein Hassprediger der Liebe.

Im Gegensatz dazu entwickelt er wenige Jahre später - ausgerechnet in "Der Antichrist" - ein ganz anderes Bild: Jesus als reiner Tor, als "Idiot" in Dostojewskis Sinn, das Nicht-Widerstehen nicht als Ausdruck der Schwäche, sondern des inneren Friedens und einer zeitlosen, in sich ruhenden Glückseligkeit: Jesus, der Mystiker.

Nicht Schwäche im Aushalten der wirklichen Welt und ihrer Grausamkeiten kennzeichnet ihn demnach, sondern ein verklärter Zustand zu Lebzeiten. Dieser vitale Jesus ist ein verführerisch sanfter Alles-Bejaher. Trotz dieser Revision eigener Positionen seit dem "Zarathustra" bleibt Nietzsche ein kompromissloser Feind der christlichen Kirche mit ihren metaphysischen Scheidungen, ihren Vertröstungen aufs Jenseits, ihrer Durchsäuerung des Lebens mit Verzichts-Moral. Mehr noch: Jesus selbst wird zum Gewährsmann des Antichristen.

Detering versteht die euphorischen Spätschriften Nietzsches als riskante Seiltänze zwischen argumentativer und poetisch-erzählender Rede. Das Close Reading ist eine ergiebige Methode, gerade weil Nietzsche hier keine widerspruchsfrei konzipierten Argumentationen durchführt; vielmehr sorgt die narrative Eigendynamik für unvermutete Wendungen und Doppeldeutigkeiten.

Deterings Interpretation zeigt die Konsequenz auf, mit der Nietzsche die mythischen Figurationen seines Denkens einander annähert: Dionysos und Jesus und Antichrist und schließlich das Nietzsche-Ich, wie es im autobiografischen Resümee "Ecce Homo" entworfen wird, verschmelzen miteinander. Züge überlegener Sanftheit wandern ins Bild des "Übermenschen" ein. In "Ecce Homo" spielt Nietzsche selbst die Rolle des "Erlösers", er modelliert sein eigenes Bild nach Maßgabe des revidierten Jesus aus dem "Antichrist". Jenseits des medizinisch-psychiatrischen Befundes, der die "Auflösung" von Nietzsches Persönlichkeit feststellt, hat es deshalb eine geradezu beklemmende Folgerichtigkeit, wenn er seine letzten Briefe aus dem Januar 1889 als "Der Gekreuzigte" unterschreibt. In diesem Wahnsinn steckt Methode.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 231 Seiten, 19,90 Euro