Niederlande vor Parlamentswahl

Sozialdemokraten im Sinkflug

Der niederländische Außenminister Bert Koenders.
Der niederländische Außenminister Bert Koenders muss mit seinen Sozialdemokraten mit großen Verlusten rechnen am 15. März. © picture alliance/dpa/Patrick van Katwijk
Von Kerstin Schweighöfer · 01.03.2017
Vor der Parlamentswahl in den Niederlanden am 15. März drehen sich die Umfragen. Nun liegt die rechtspopulistische "Partei für die Freiheit" von Geert Wilders knapp hinter den Rechtsliberalen von Premierminister Mark Rutte. Er und vor allem die Sozialdemokraten müssen trotzdem mit großen Verlusten rechnen.
Irgendwie kommt er einem bekannt vor, der grossgewachsene Mann mit dem roten Schal, der an diesem Samstagnachmittag am nördlichen Stadtrand von Utrecht vor einer ehemaligen Fabrikhalle in der Sonne steht. Richtig: Bert Koenders, der sozialdemokratische Aussenminister der Niederlande. Er darf nicht fehlen, wenn in der Fabrikhalle die grosse Wahlveranstaltung der "Partij van de Arbeid" beginnt - der "Partei der Arbeit”, kurz PvdA genannt.
Kein Bodyguard weit und breit zu erkennen. Wahlkampf auf holländisch. Er lässt sich auch einfach so ansprechen, der Außenminister.
Koenders wartet auf das Eintreffen von Lodewijk Asscher, Minister für Arbeit und Soziales. Ihn haben die Sozialdemokraten als ihren neuen Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt: Asscher soll sie vor dem Untergang retten. Denn glaubt man den Umfragen, könnte die PvdA bis zu zwei Drittel ihrer Stimmen verlieren. Bei den letzten Parlamentswahlen 2012 sind die Sozialdemokraten als zweitstärkste Fraktion ins Parlament eingezogen, mit knapp 25 Prozent der Stimmen, gleich nach den Rechtsliberalen von Premierminister Mark Rutte, die 27 Prozent erhielten und mit denen die Sozialdemokraten seitdem eine Koalition formen. Vier Jahre später können sie froh sein, wenn von diesen 25 Prozent zehn Prozent übrig bleiben. Aussenminister Koenders übt sich in Zuversicht:
"Es wird uns gelingen, die Wähler zurückzuerobern. Weil wir der Ungleichheit den Kampf angesagt haben. Weil wir uns zurückbesinnen auf die soziale Gerechtigkeit: Wir wollen für gleiche Chancen sorgen und für Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Wobei es natürlich nicht so ist, dass wir in den letzten vier Jahren nichts erreicht hätten: Wir haben das Land zusammen mit den Rechtsliberalen aus einer schweren Rezession geholt und die Wirtschaft wieder angekurbelt.”
Dann trifft Hoffnungsträger Lodewijk Asscher ein - der Arbeitsminister und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Ebenfalls ohne großen Hofstaat und Bodyguards im Gefolge.
"Heh, jonge! Hi! Hi!"
Und auch Asscher lässt sich einfach so ansprechen:
"Die Stimmung im Land schlägt um. Wir wollen eine positive Alternative bieten, gegen das Schwarzsehen und den Ausländerhass. Und wir wollen mit anderen linken Parteien zusammenarbeiten, um gemeinsam zu zeigen, wie es besser gehen kann: auf dem Arbeitsmarkt, auf dem Gesundheitssektor."
Und um mit diesem linken Block einen linken Frühling anbrechen zu lassen:
"Zo is het! Helemaal goed!"

Stets rechte Mehrheit in den Niederlanden

Einen linken Lenz. Den jedoch hat es in den Niederlanden noch nie gegeben, jedenfalls nicht ohne die Hilfe mindestens einer Partei vom rechten Rand des Parteienspektrums, stellt Politologe André Krouwel von der Freien Universität Amsterdam klar:
"Die Linken können bei uns keine Wahlen gewinnen, denn eine Mehrheit der Niederländer wählt rechts. Rechte Wähler gehen häufiger zur Wahl als linke. So kommt es, dass die Rechten schon immer eine kleine Mehrheit bei uns geformt haben. Unser Image ist kurioserweise links, aber wir sind ein konservatives Land: Rechte Parteien haben in den Niederlanden bisher immer mehr Stimmen bekommen als linke."
Professor Krouwel rechnet mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der rechtsliberalen VVD-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte und der rechtspopulistischen "Partei für die Freiheit” PVV von Geert Wilders. In den Umfragen liegen VVD und PVV seit Monaten vorne - mit jeweils etwa 15 Prozent der Stimmen:
"Es wird spannend, sehr spannend! Mark Rutte ist ein ausgezeichneter Wahlkampfstratege, es könnte den Rechtsliberalen durchaus gelingen, größte Fraktion zu bleiben – auch wenn es Wilders schafft, die Zahl seiner Sitze zu verdoppeln. Bei den Koalitionsverhandlungen stellt sich dann die Frage, wie die anderen Parteien mit ihm umgehen: Ob sie sich mit den Rechtspopulisten einlassen – oder Wilders mit einem cordon sanitaire versehen."
Koalitionsverhandlungen verlaufen in den Niederlanden in der Regel zäh und sind sehr kompliziert. Die Parteienlandschaft ist zersplittert, es gibt keine Fünfprozenthürde. Geich 31 Parteien wollen sich dieses Mal zur Wahl stellen, schon jetzt sind 17 Fraktionen im Parlament vertreten.

Sozialdemokraten wollen Rückbesinnung

In der grossen Fabrikhalle in Utrecht bläst ein Clown rote Luftballons auf und knotet sie zu Rosen, dem Symbol der Sozialdemokraten.
Es gibt gratis Glühwein, Fritten und Erbsensuppe auf ihrer großen Wahlveranstaltung. In der Ecke sind zwei junge Musiker damit beschäftigt, für ihre Band Lautsprecherboxen aufzustellen. Nach der Rede von Spitzenkandidat Asscher wollen sie spielen. Es sind zwei Brüder: der 27 Jahre alte Hidde Roerda und sein älterer Bruder Lucas. Sie haben sich grade mit zwei Portionen Fritten eingedeckt. Hidde hat eine Zeitlang gezweifelt, gibt er mit vollem Mund zu, aber jetzt will er doch wieder PvdA wählen:
Die Sozialdemokraten hätten nie mit den Rechtsliberalen, der Unternehmerpartei von Premier Mark Rutte, in See stechen dürfen. Dadurch hätten sie den Eindruck geweckt, nach rechts gerückt zu sein.
"Dieses Bild kann jetzt korrigiert werden, mit einer Rückbesinnung auf traditionelle linke Werte wie soziale Gerechtigkeit, und genau das hat Lodewijk Asscher vor. Und wenn wir links eine Faust machen, dann können wir vielleicht auch die neuen Rechten und Geert Wilders stoppen!"
Eine Halle weiter beginnt Lodewijk Asscher mit seiner Rede. Viel stehe auf dem Spiel, so der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Die Niederlande müssten ein anständiges, ein soziales Land bleiben. Asscher warnt vor einer weiteren Polarisierung: "Wir dürfen nicht nach rechts abbiegen, dieses Land gehört uns allen!”
Lodewijk Asscher verspricht den Wählern ehrliche Spielregeln für alle: Multinationals sollen ihre Steuern genauso zahlen wie der kleine Handwerker. Ihn will er vor unfairem Wettbewerb schützen und den Billigstlöhnen der Arbeitsimmigranten aus Osteuropa. Am Kündigungsschutz dürfe nicht weiter gerüttelt werden, und auch nicht an den festen Arbeitsverträgen.
"Diese Wahlen dürfen nicht reduziert werden auf eine Entscheidung zwischen zwei rechten Geschmacksrichtungen: dem abscheulichen Geschmack der Rechtspopulisten und dem des Märchens von Neoliberalismus und Individualismus der Rechtsliberalen! Viele denken, dass es keinen Zweck hat zum Wählen zu gehen. Wir überzeugen sie vom Gegenteil, wir bieten ihnen eine Alternative – eine progressive Alternative.”
Dass sich die Sozialdemokraten zurückbesinnen auf ihre traditionelle Rolle als Schützer des Sozialstaates kommt nicht von ungefähr. Nur so liessen sich Stimmen zurückgewinnen, sagt Politologe Krouwel:
"Im Grunde genommen haben die etablierten Parteien bei uns nichts verkehrt gemacht. Im Gegenteil – sie haben uns aus einer der schwersten Wirtschaftskrisen der letzten 30 Jahre geholt. Die Niederlande zählen nach wie vor zu den reichsten, sichersten und damit besten Ländern der Welt, in denen man leben kann. Untersuchungen ergeben immer wieder, dass die Menschen hier zu den glücklichsten auf Erden zählen. Aber – und das haben die etablierten Parteien übersehen: Die Wähler sind zutiefst beunruhigt, weil sie sich Sorgen über die Zukunft machen. Die Gunst der Wähler sichert man sich nicht mit dem Durchführen bestimmter politischer Massnahmen, sondern über das Gefühl der Sicherheit."

"Der einfache Mann will Sicherheit"

Früher, so der Amsterdamer Professor, sei es den Sozialdemokraten gelungen, dieses Gefühl der Sicherheit zu vermitteln: Arbeitsplätze und Löhne waren sicher und mit ihnen die Rente. Doch offene Grenzen und Globalisierung hätten den Wählern nicht nur die soziale Sicherheit genommen, sondern auch die kulturelle.
Kulturell fühlten sie sich ebenfalls bedroht: durch Brüssel und Terror, durch Immigration und die multikulturelle Gesellschaft:
"Der einfache Mann hat mit Dynamik nichts am Hut, der braucht keine weitere Flexibilisierung, der will nur eins: Sicherheit. Das Gefühl, dass nichts mehr sicher ist, hat die etablierten Parteien das Vertrauen gekostet. Denn der Wähler macht sie dafür verantwortlich. Und deshalb hat jede Partei, die in irgendeiner Form Schutz bieten will, auf einmal Erfolg – selbst wenn sie Luftschlösser verspricht. Schutz ist in Zeiten wie diesen für die Wähler extrem attraktiv."
Das erklärt auch die Gründungswelle der vielen kleinen Protestparteien, die die Niederlande erlebt haben, vor allem am rechten Parteienspektrum: Sie spielen sich ebenfalls als Beschützer auf und haben dafür gesorgt, dass Wilders erstmals Konkurrenz bekommen hat. VNL zum Beispiel - "Voor Nederland", "Für die Niederlande". Oder das "Forum für Demokratie", das den Nationalstaat retten will.
Das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit erklärt auch, weshalb den Sozialdemokraten selbst in traditionellen Hochburgen wie Rotterdam schon vor Jahren die Wähler davon gelaufen sind.

Rotterdam einst Hochburg der Sozialdemokraten

Der Strevelsweg ist eine wichtige Verkehrsader im Süden von Rotterdam und teilt das alte Arbeiterviertel Feyenoord in einen nördlichen und südlichen Teil. Auf beiden Seiten der Strasse wurden die Mietswohnungen in den letzten Jahren saniert, Bäume gepflanzt, Jugendbanden und Drogendealer vertrieben. Dennoch gehört Feyenoord nach wie vor zu den Problemvierteln der Hafenstadt. Nicht nur Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind hoch, auch die Angst vor Überfremdung. Durch den Zustrom von Immigranten in den 1990er Jahren beträgt der Ausländeranteil in Vierteln wie diesen bis zu 70 Prozent.
Die Lebensqualität habe sich zwar verbessert, erzählt Riets van der Poel, eine 75 Jahre alte Witwe mit rötlich gefärbten Haaren, die mit ihrem motorisierten Rollstuhl gerade vom Einkaufen zurückkommt. Riets wohnt seit mehr als 50 Jahren am Strevelsweg. Sie will nicht alle Ausländer über einen Kamm scheren, mit den meisten kommt sie gut zurecht. Aber etwas weniger könnten es ruhig werden:
Kein Zweifel, wem sie am 15. März ihre Stimme geben wird:
"Wollen Sie es wissen? Wilders! Ja, tut mir leid. Nein, eigentlich tut es mir nicht leid. Ich wähle Wilders. Punkt aus. Weil er es einmal probieren sollte. Und weil Rutte und die Sozialdemokraten nichts von all dem wahrgemacht haben, was sie uns versprochen haben."
Dabei habe sie anfangs gar nicht so viel von Wilders wissen wollen und war ein treuer PvdA-Wähler:
"Aber nun werde ich abtrünnig. Nun wähle ich Wilders. Zum allerersten Mal. Weil ich so enttäuscht bin von den Sozialdemokraten. Was die falsch gemacht haben? In einem Satz lässt sich das nicht sagen. Eigentlich alles."

Die neue Splitterpartei DENK

Die junge mollige Mutter, die gerade vorbeikommt, wird da konkreter. Bernadette heisst sie und stammt von den niederländischen Antillen: Auch sie war einst eine treue PvdA-Wählerin, denn traditionell konnten die Sozialdemokraten neben alteingesessenen Arbeitern auch viele Immigranten an sich binden:
"Aber damit ist es vorbei – ein für alle Mal! Früher waren die Sozialdemokraten eine gute Partei für uns Immigranten. Aber sie sind das Schosshündchen von Rutte geworden und willenlos den Rechtsliberalen hinterher getrottet."
Bernadette weiss noch nicht, wem sie nun ihre Stimme geben soll. Als Alternative würde sich "DENK" anbieten, eine der neuen Splitterparteien, die im letzten Jahr entstanden sind. "DENK" – zu Deutsch: "Denk nach!" - gilt als erste Immigrantenpartei Europas und wurde von zwei abtrünnigen türkisch-stämmigen Sozialdemokraten gegründet. Sie wollen Rassismus und Diskriminierung bekämpfen und sehen sich als Gegenbewegung zu Geert Wilders.
Sie hätten zwar ein paar gute Punkte, sagt Bernadette. Aber alles in allem ist ihr das doch zu einseitig, eine Partei nur für Immigranten.
Wahlexperten zufolge gehört "DENK" dennoch zu den wenigen neuen Splitterparteien, denen mit ein oder zwei Sitzen der Einzug ins Parlament gelingen könnte – vor allem auf Kosten der Sozialdemokraten, die bis vor kurzem noch viele Immigranten an sich binden konnten.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend. 40 Prozent der niederländischen Wähler entscheiden erst in der letzten Woche, wem sie ihre Stimme geben wollen. Jeder Wahlkampftag zählt.

Rosen vom Sozialdemokraten

In der Utrechter Fabrikhalle hat Lodewijk Asscher - der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten - seine Rede beendet. Zusammen mit Koenders und ein paar Dutzend treuer Parteimitglieder begibt er sich in einen von zwei roten Bussen, um zum Abschluss der Wahlveranstaltung in der Innenstadt Flyer und rote Rosen auszuteilen – und zwar in der Kanaalstraat, einem Utrechter Viertel mit hohem Migrantenanteil.
Frauen in langen schwarzen Gewändern kommen mit prallgefüllten Einkaufstaschen vom Markt zurück. Arabische Wortfetzen fliegen durch die Luft. Männer mit Bärten radeln für das Gebet an roten Backsteinreihenhäuschen vorbei zur Moschee, deren Minarette in den hohen holländischen Himmel ragen.
Beleitet vom Blitzlichtgewitter der Fotografen teilen Asscher und Koenders Rosen aus. Auch eine junge marokkanische Mutter lässt sich beglücken. Sie spricht sehr gut Niederländisch und will von ihrem Wahlrecht in jedem Falle Gebrauch machen:
Aber ob sie ihre Stimme den Sozialdemokraten gibt, das weiss sie noch nicht – Rose hin, Rose her. Immerhin will sie es wohlwollend in Erwägung ziehen.
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