Niederlande-Experte rechnet mit stabiler Koalitionsregierung

Friso Wielanga im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 12.09.2012
Der Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster, Friso Wielanga, hält es für wahrscheinlich, dass Sozialdemokraten und Rechtsliberale nach der Parlamentswahl noch einen oder zwei weitere Koalitionspartner benötigen – und dass es eine stabilere Regierung als in den vergangenen Jahren gibt.
Jörg Degenhardt: Vor Kurzem noch standen bei unseren Nachbarn in den Niederlanden alle Zeichen auf Sieg für die Sozialisten bei der heutigen Parlamentswahl - aber der Wind hat sich gedreht, die Rechtsliberalen liegen gleichauf. Während die einen in der Eurokrise für den Sparkurs im Sinne von Angela Merkel stehen, sind die anderen eher für Wachstumsprogramme, wie sie sich der französische Präsident vorstellt.

Wer die Nase vorn haben könnte und ob man heute in den Niederlanden auch ein bisschen auf die Entscheidung in Karlsruhe schaut, darüber möchte ich jetzt reden mit Professor Doktor Friso Wielenga, er ist der Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Uni in Münster. Guten Morgen, Herr Wielenga!

Friso Wielenga: Guten Morgen!

Degenhardt: Sparen oder wachsen, wofür werden sich Ihre Landsleute heute entscheiden?

Wielenga: Ach, sie werden sich sicherlich für beides entscheiden, denn alle Parteien haben gesagt, wir werden sparen, aber wir wollen auch, wir werden auch dadurch eben die Wirtschaft wachsen lassen. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wie sie eben auch gesagt haben, nur es sind momentan die Sozialdemokraten und nicht die Sozialisten, die den Kopf vorne haben und zusammen mit der rechtsliberalen VVD dann heute entscheiden, wer dann die größte wird.

Der Wind hat sich insofern tatsächlich gedreht, dass die Sozialisten, das ist eine Art niederländische linke Partei, tatsächlich vor einigen Wochen noch die größte zu werden schien, aber die ist jetzt ziemlich weit abgesackt, und die Sozialdemokraten haben jetzt diesen Platz eingenommen, und es geht jetzt tatsächlich um die Frage, wer wird Ministerpräsident, der konservativliberale Rutte oder der Sozialdemokrat Samson.

Gestern Abend gab es eine letzte Debatte, und da hat Rutte gesagt, wenn die Landsleute Samson wählen, dann gehen die Niederlande Richtung Paris, und ich stehe für die Achse sozusagen Den Haag-Berlin. Also Landsleute, wählt mich, weil ich stehe für die Stabilität. Das ist natürlich Wahlkampfrhetorik, aber so hat er das präsentiert.

Degenhardt: Schauen wir auf die andere Seite: Die rechtspopulistische Freiheitspartei von Geert Wilders, sie wollte ja seinerzeit den Sparkurs nicht mittragen – wie wird die denn abschneiden?

Wielenga: Die wird verlieren im Vergleich zum Ergebnis von vor zwei Jahren, etwa zehn bis fünf Prozent werden erwartet, das sind so drei, vier Prozent weniger als vor einigen Jahren, obwohl man da vielleicht auch noch sagen muss, dass vor zwei Jahren wurde die Wilders-Partei auch geringer eingeschätzt im Vorfeld und hat dann doch besser abgeschnitten als die Prognosen es vorhergesagt hatten.

Das heißt, viele in den Niederlanden wählen dann doch Wilders, auch wenn sie es im Vorfeld nicht wahrhaben wollen, aber er wird sicherlich doch verlieren, nehme ich mal an, weil keiner will mehr mit ihm was zu tun haben, nachdem er die Regierung im April in die Wüste geschickt hat. Er ist nicht koalitionsfähig, das wissen die Leute, und eine Stimme auf ihn ist auch nur eine Proteststimme, und der spielt in der nächsten Zeit auf Koalitionsniveau keine Rolle mehr in den Niederlanden.

Degenhardt: Also fassen wir zusammen, am Ende könnte in Holland das entstehen, was auch in Deutschland nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr droht: eine Große Koalition, richtig?

Wielenga: Ja, obwohl, wahrscheinlich sind die Rechtsliberalen und die Sozialdemokraten zueinander verurteilt, und die haben zusammen noch nicht einmal eine Mehrheit, weil die niederländische Parteienlandschaft ist sehr zersplittert, und die rechtsliberale VVD und die sozialdemokratische PvdA, die haben zusammen wahrscheinlich um die 45 Prozent. Die brauchen noch eine oder zwei Parteien, und das wird dann eine Regierung werden voraussichtlich, die auf jeden Fall stabiler ist als das, was wir in den letzten Jahren hatten, und das ist, glaube ich auch, für die Positionierung der Niederlande in Europa auch nur günstig.

Degenhardt: Bisher waren die Niederländer proeuropäisch. Herr Wielenga, ist das trotz der Krise eigentlich immer noch so?

Wielenga: Ach, das – die Stimmung ist schon skeptischer geworden, so wie in vielen europäischen Ländern. Und, also Wilders ist sowieso sehr europakritisch, auch die sozialistische Partei, die jetzt dann abgesackt ist, ist auch ziemlich europakritisch, aber ich erwarte schon, dass, wenn wir jetzt eine Regierung – ob nun die Sozialdemokraten die größten werden oder die Konservativliberalen –, sie müssen von der Mitte aus unterstützt werden. Und die Mitte, wie die Christdemokraten und auch die Linksliberalen, sind sehr klar und deutlich proeuropäisch. Also ich glaube, es wird auf dieser Front ruhiger werden als in den letzten Jahren.

Degenhardt: Die Rechtsliberalen sind einer der wichtigsten Verbündeten von Merkel im Kampf gegen die Eurokrise. Viele in Europa schauen heute auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Rettungsschirm ESM, bis auf die Bundesrepublik haben alle anderen 16 Euroländer den ESM-Vertrag bekanntlich ratifiziert. Ohne Deutschland scheint in der Krise nicht viel zu laufen - ist das ein Eindruck, den man auch in den Niederlanden hat?

Wielenga: Das ist sicherlich auch ein Eindruck, den man in den Niederlanden hat, aber das heißt nicht, dass jetzt die ganzen Niederlande heute gebannt auf Karlsruhe schaut. Sehr viele Niederländer wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass es ein Bundesverfassungsgericht gibt. Und insofern schauen die Niederländer heute doch vor allem auf die eigene Wahlkabine, sonst sind es natürlich einmal die Europasachverständigen und diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, die wissen natürlich genau, was heute in Karlsruhe auf dem Spiel steht, und man kann das sogar noch zuspitzen und sagen, das, was heute in Karlsruhe entschieden wird, ist wichtiger für den Euro, als was die Niederländer heute in der Wahlkabine entscheiden. Aber viele Niederländer sind sich darüber nicht so sehr im Klaren.

Degenhardt: Wie steht es denn eigentlich bei Ihnen um das Ansehen der Bundeskanzlerin? Gibt es da auch diese mittlerweile überall anzutreffenden Karikaturen, die die Bundeskanzlerin wenig vorteilhaft zeigen?

Wielenga: Ach nein, überhaupt nicht. Da wird in der Politik, sowohl ob es nun um die Rechtsliberalen oder Sozialdemokraten oder die anderen geht, immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig die Beziehungen zu der Bundesrepublik sind. Da ist es auch so, dass in der Eurokrise Den Haag und Berlin natürlich mit ganz unterschiedlichen Gewichtungen, aber doch am gleichen Strang gezogen haben, sei es, dass Mark Rutte oft in Berlin dann auch wieder was anderes gesagt hat als zu Hause, weil ja zu Hause unter Druck der rechtspopulistischen PVV stand, aber diese Karikaturen, die es von der Bundeskanzlerin in Südeuropa gibt, das ist weit, weit weg von der niederländischen Bildformung über die Kanzlerin.

Degenhardt: Europa blickt nach Karlsruhe, die Niederländer wählen trotzdem ein neues Parlament. Vielen Dank für diese Einschätzungen, das war Professor Doktor Friso Wielenga, er ist der Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Uni in Münster. Vielen Dank für das Gespräch!

Wielenga: Gern geschehen!


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