Niedergang der Souveränität

28.01.2013
In der EU wird über Kompetenzen gestritten, die Frage nach der Souveränität ist brandaktuell. Der britische Historiker Quentin Skinner, eine Kapazität auf dem Gebiet der politischen Ideengeschichte, hat die Zweifel zum Anlass genommen, die Idee des Staates einmal historisch zu betrachten.
Viel ist in den letzten Jahren über den Niedergang des Staates gesprochen worden, von Politikern ebenso wie von politischen Philosophen. Entweder handelt es sich dabei um konservative Unkenrufe im Zusammenhang mit der allmählichen Durchsetzung internationaler Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die in die Gesetzgebung souveräner Staaten eingreifen können. Oder es handelt sich um enthusiastische Forderungen aus der Sicht einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die den Staat nicht als Garant, sondern als Hindernis für das Funktionieren des freien Marktes auffasst.

Quentin Skinner – Jahrgang 1940, Grand Seigneur der politischen Ideengeschichte –, nimmt diese Tendenzen nun als Ausgangspunkt, um die Idee des Staates einer kleinen historischen Betrachtung zu unterziehen – und dabei zu verteidigen.

Er beginnt im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter, das für die Entstehung der modernen Wissenschaft, Philosophie und Politik von herausragender Bedeutung ist. Hier zeigt er, wie der "Staat" zunächst eine Gemeinschaft von Menschen meinte; in absolutistischer Sicht wurde diese Gemeinschaft als Körper aufgefasst, der einem Haupt, nämlich dem von Gott bestellten Monarchen, gehorsam zu sein hatte. Dieser Vorstellung stand schon im 17. Jahrhundert eine demokratische oder republikanische Auffassung kritisch gegenüber. Diese verstand den Staat ebenfalls als Körper, aber sie erachtete keinen gesonderten Kopf für nötig: Der Staat, das heißt das Volk, regiert sich selbst. Beispiele dafür fanden sich in der Antike mit der römischen Republik, aber auch in den "Generalstaaten" der Niederlande oder in der Republik Venedig.

Für die Gegenwart bedeutsam ist aber vor allem eine dritte frühneuzeitliche Vorstellung vom Staat, nämlich die des Philosophen Thomas Hobbes. Skinner nennt sie die "fiktionale" Auffassung. Denn Hobbes unterscheidet nicht nur zwischen der Menge von Menschen, die sich zusammenschließen und sich per Vertragsschluss auf einen Souverän einigen, und diesem Souverän selbst. Er unterscheidet auch zwischen diesen beiden einerseits und andererseits dem Staat als solchem. Letzterer ist für Hobbes und seine Nachfolger eine eigenständige, wenn auch nicht reale, sondern bloß fiktive "Person". Dieser eigenständige Staat überdauert die zufällig regierende Monarchen (oder sonstige Regierungen) ebenso wie die ständig sich wandelnde regierte Masse.

Nur ein solcher Staat, der mehr ist als das gerade lebende Volk oder die gerade herrschende Regierung, kann Verträge und Verpflichtungen eingehen – oder Schulden aufnehmen, die weder die jetzige Regierung noch irgendein Staatsbürger je zurückzahlen können, wie der Autor im Schlussteil erläutert. Dort geht er direkt auf die Gegenwart ein – mit kritischem Blick sowohl auf Theoretiker, die den Staat für überflüssig erklären, als auch auf populistische Politiker, nicht zuletzt US-amerikanische, die gegen staatliche Eingriffe anwettern.

Damit vollendet Skinner seine ebenso aus dem Vollen schöpfende wie klare und gut verständlich geschriebene politische Geschichte. Und so zeigt er in diesem Buch, inwiefern Ideengeschichte auch für die Gegenwart relevant ist: weil sie eben nicht bloß längst vergangene Ideen ausgräbt, sondern auch genau das erhellt, was Grundlage für unsere heutigen Ideen ist.

Besprochen von Catherine Newmark

Quentin Skinner: Die drei Körper des Staates
Aus dem Englischen von Karin Wördemann
Wallstein, Göttingen 2012
112 Seiten, 9,90 Euro