Niebel: FDP für entlastendes Steuerkonzept
Der neue Generalsekretär der FDP, Dirk Niebel, debattiert im Streitgespräch mit Deutschlandradio Kultur über Steuerkonzepte und die gemeinsamen und unterschiedlichen Ziele einer möglichen schwarz-gelben Regierung. Mit der FDP werde es seiner Meinung nach keine Mehrwertsteuererhöhung geben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Niebel, wir verstehen nicht, warum eigentlich die zurzeit so sehr diskutierte mögliche Erhöhung der Mehrwertsteuer für die FDP so ein Tabu ist.
Dirk Niebel: Nun, wir haben einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag vorgelegt für ein neues System der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung. Das ist durchgerechnet. Abgesehen davon, dass wir keine Mehrwertsteuererhöhung wollen, bei unserem Konzept brauchen wir sie auch nicht. Bei fünf Millionen registrierten Arbeitslosen ist allein die Diskussion über Steuererhöhungen mit Sicherheit kontraproduktiv.
Deutschlandradio Kultur: Andererseits haben Sie Anfang dieser Woche schon gesagt, dass im Rahmen eines Gesamtkonzeptes schon eine Veränderung des Verhältnisses zwischen direkten und indirekten Steuern denkbar sei. Die Mehrwertsteuer ist eine indirekte Steuer. Da haben wir gedacht, dass Sie doch darauf angespielt haben, um sich mögliche Koalitionschancen mit der Union nicht ganz zu verderben.
Dirk Niebel: Nein, ich habe es anders gesagt. Ich habe es genau so gesagt: Wir wollen keine Mehrwertsteuererhöhung und für unser Steuerkonzept brauchen wir sie auch nicht. Wenn allerdings eine richtige Steuerreform umgesetzt worden sein wird, kann es sein, dass sich automatisch bedingt durch die Umsetzung dieser Steuerreform das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern verändern wird. Das kann, wenn überhaupt, am Ende eines derartigen Reformprozesses sein. Von daher ist es zumindest eine Diskussion zur Unzeit.
Deutschlandradio Kultur: Dass sich dieses Verhältnis verschieben sollte, dafür plädieren sehr viele Fachleute, weil sie sagen: Die Steuern auf Arbeitseinkommen sind bei uns im Lande zu hoch.
Dirk Niebel: Ja, deswegen haben wir auch einen einfachen, gerechten und transparenten Steuertarif vorgelegt. Nur, um das noch mal zu wiederholen, abgesehen davon, dass wir eine Mehrwertsteuererhöhung nicht wollen, bei unserem Gesetzentwurf, der durchgerechnet im Bundestag eingebracht worden ist, brauchen wir sie auch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Eine Überlegung dabei, wenn man das ins Spiel bringt, ist ja immer, dass man sagt: Egal, wo wir es hernehmen, man muss die Lohnnebenkosten senken, denn die meisten Unternehmen in der Bundesrepublik beschweren sich ja nicht darüber, dass die Steuern zu hoch sind, sondern dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Da ist es doch dann wurscht, wo man das herbekommt.
Dirk Niebel: Na, ganz wurscht ist es nicht, aber Sie haben Recht, die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Das liegt auch daran, dass uns die sozialen Sicherungssysteme entgleiten. Es hat natürlich auch etwas mit der hohen Arbeitslosigkeit zu tun. Dadurch, dass viele Menschen keine Arbeit haben, zahlen sie keine Beiträge, zahlen keine Steuern, beziehen Transferleistungen. Das erhöht die Staatsausgaben insgesamt und mindert die Einnahmen. Ein Ansatz ist, dass man z.B. anfängt, die Lohnkosten von den sozialen Sicherungskosten zu entkoppeln, indem man Arbeitgeberanteile mit an den Arbeitnehmer auszahlt. Zum Beispiel im Bereich der Arbeitslosenversicherung ist das überhaupt erst der Anreiz, auch einen Wahltarif in Anspruch zu nehmen, denn solange der Arbeitgeber die Hälfte der Beitragsersparnis für sich verbuchen könnte, hat ja kein Arbeitnehmer irgendeinen Anreiz, einen Wahltarif in Anspruch zu nehmen.
Deutschlandradio Kultur: Das wäre ja nun ein kompletter Systemwechsel. Da ist eine Mehrwertsteuererhöhung vielleicht doch etwas leichter einzusetzen. Zum Beispiel plädieren der Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, oder auch der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, um eben die Lohnnebenkosten zu senken, um die Anzahl der Menschen, die in Arbeit stehen, zu erhöhen. Und es würde die Wettbewerbsbedingungen für Deutschland nicht verschlechtern, denn mit 16 % liegen wir in der EU knapp ein Prozent über dem Mindestsatz. Es gibt ja Länder mit 25 % Mehrwertsteuer.
Dirk Niebel: Mit der Einleitung Ihrer Frage haben Sie einen ganz wichtigen Punkt deutlich gemacht. Unser Vorschlag wäre ein Systemwechsel. Und wenn Sie die Einnahmeverbesserung des Staates durch eine Steuererhöhung hinkriegen wollten, dann nehmen Sie auch den notwendigen Druck, die sozialen Sicherungssysteme zu reformieren. Das ist das Prinzip Ökosteuer. Statt dass man ein soziales Sicherungssystem zukunftsfähig macht, kassiert man woanders ab, schiebt Staatsknete rein und lässt das System weiterhin gegen die Wand fahren. Wir brauchen den Systemwechsel. Wir brauchen echte Reformen in den sozialen Sicherungssystemen. Und eine Steuererhöhungsdebatte würde nicht nur falsche Signale setzen, sondern sie würde vor allem auch den Reformdruck rausnehmen aus den Systemen. Damit wären sie noch weniger zukunftsfähig als sie es heute schon sind.
Deutschlandradio Kultur: Meinen Sie, dass es Ihnen auch gelingen wird, die diversen Unionspolitiker von dieser Position zu überzeugen?
Dirk Niebel: Je stärker wir werden, desto mehr können wir durchsetzen.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht im Moment nicht so wahnsinnig gut aus.
Dirk Niebel: Wir arbeiten dran.
Deutschlandradio Kultur: Sie schrammen ja genauso nah an der Fünfprozentgrenze wie die Union an der absoluten Mehrheit.
Dirk Niebel: Nein, wir sind nach der Umfrage, die gestern veröffentlicht worden ist, bei guten sieben Prozent.
Deutschlandradio Kultur: Und die CDU bei guten 48 Prozent.
Dirk Niebel: Richtig.
Deutschlandradio Kultur: Das sind jeweils zwei Prozentpunkte.
Dirk Niebel: Da werden die auch wieder runterkommen. Die Bundesrepublik insgesamt ist strukturell kein Land für absolute Mehrheiten. Wir sind gerade am Beginn eines Wahlkampfes, wenn er denn hoffentlich kommt. Wir brauchen da ja auch bestimmte Formalien, die erledigt werden müssen. Wir werden im Rahmen dieses Wahlkampfes, natürlich unter der Prämisse, dass wir den Politikwechsel mit der Union erreichen wollen, auch klar machen, wo die Unterschiede zur Union sind. Deswegen sind wir eine eigene Partei.
Deutschlandradio Kultur: Das hat jetzt hoffentlich nicht der Bundespräsident gehört mit den Formalien, die da nur noch zu erledigen sind.
Dirk Niebel: Natürlich sind es Formalien, die zu erledigen sind.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen – wie auch Westerwelle, Gerhardt, Brüderle –, also diverse FDP-Politiker sagen, dass es mit ihnen keine Mehrwertsteuererhöhung geben werde. Wir würden ja fast geneigt sein, eine Wette abzuschließen, dass es sie geben wird. Vielleicht um ein selbst gekochtes Dreigangmenü, da können wir uns gerne einigen.
Dirk Niebel: Das würde ich Ihnen nicht antun wollen!
Deutschlandradio Kultur: Es geht doch darum: Auch Sie wollen als FDP nicht auf Steuereinnahmen verzichten. Bei den Haushaltslöchern, die wir haben, sind Steuergeschenke im Moment nicht drin. Und dann ergibt es doch Sinn, eine Steuer als Einnahmequelle zu benutzen, die – wenn man sie denn erhöht – nicht zum Nachteil im Wettbewerb wird.
Dirk Niebel: Nein, Sie haben – Entschuldigung – den komplett falschen Denkansatz, wenn ich das so hart sagen darf. Sie gehen immer davon aus, wir hätten ein Einnahmeproblem in Deutschland. Im letzten Jahr hat die Bundesrepublik Deutschland über alle öffentlichen Haushalte ungefähr 930 Milliarden Euro Einnahmen gehabt. Wir haben kein Einnahmeproblem. Wir haben ein Ausgabenproblem. Das Problem der öffentlichen Haushalte besteht in der unsozialen und unkalkulierbaren Ausgabenpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Deswegen ist es der falsche Ansatz, die Bürger noch mal wieder abzukassieren, um Haushaltslöcher zu stopfen, wie Sie es eben angeregt haben.
Deutschlandradio Kultur: Darum geht es ja nicht.
Dirk Niebel: Sondern der richtige Ansatz ist, eine Aufgabenkritik durchzuführen und den Staat zurückzuführen überall da, wo er sich Dinge angeeignet hat, die eigentlich Sache der Bürger sind.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen ja nicht die Haushaltslöcher damit stopfen, sondern wir haben uns ein Gesamtkonzept angesehen, was hauptsächlich dazu führen soll, dass es sozialer bei den Steuern in Deutschland zugeht, nämlich zu Arbeit führt. Denn das ist ja Ihr Credo.
Dirk Niebel: Ja, aber wir haben doch ein Gesamtkonzept als Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, wo wir klar berechnet haben, dass – um das durchzusetzen – damit Arbeit möglich wird durch Investition und Konsum, deswegen ist es ein entlastendes Steuerkonzept, wo wir klar berechnet haben, dass dieses Konzept durchsetzbar ist ohne Mehrwertsteuererhöhung. Und mit dem werben wir um die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Deutschlandradio Kultur: Nun wird ja die FDP, auch wenn es Neuwahlen geben sollte, und auch, wenn die FDP die zurzeit prognostizierten sieben Prozent bekommen sollte, das ja nicht alleine verabschieden.
Dirk Niebel: Wir werden auch noch stärker.
Deutschlandradio Kultur: Gut, acht Prozent. Ich habe den Eindruck, dass die Kanzlerkandidatin der Union Ihre Analyse nicht ganz teilt, Herr Niebel. Denn sie hat sich in dieser Woche sehr vorsichtig geäußert, gerade was diese ganzen Steuerfragen angeht, und unter andrem darauf verwiesen, dass die Staatsfinanzen zerrüttet seien. Das hörte sich nicht so an, als ob sie meinte, es gäbe ein reines Ausgabenproblem.
Dirk Niebel: Ich werde mit großem Interesse auf das Steuerkonzept der Union warten. Solange das nicht vorliegt, haben wir einen durchgerechneten Gesetzentwurf, für den eine Mehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist.
Deutschlandradio Kultur: Können wir Sie dann wenigstens zu einer Art Systembereinigungsdebatte verleiten. Wenn man diese Mehrwertsteuer betrachtet, gibt es ja wirklich Absurditäten, Sie wissen das. Es gibt den verminderten Satz auf Dinge, die vielleicht nicht alle unbedingt sinnvoll sind. Da braucht man nur die berühmten Rennpferde zu nehmen …
Dirk Niebel: Entschuldigung, aber es bringt doch nichts, wenn wir über einen Einzelpunkt sprechen. Genauso bringt es nichts, wenn wir über eine einzelne Subvention sprechen, die man verändern müsste, sondern es geht um ein Gesamtkonzept. Und in dem Gesamtkonzept, das wir vorgelegt haben, ist eine entlastende Steuerreform beschrieben worden, die ohne Mehrwertsteuererhöhung auskommt, die auf der anderen Seite allerdings enorm viele Ausnahmetatbestände abschafft.
Deutschlandradio Kultur: Pendlerpauschale? Den verminderten Satz der Mehrwertsteuer? Eigenheimzulage? Als Beispiele. Es stellt sich ja die Frage der Gegenfinanzierung.
Dirk Niebel: Nein, ich werde mich nicht auf eine Einzeldiskussion einlassen, das werde ich nicht tun. Wir haben auch gesagt, beim Subventionsabbau können wir nicht eine einzelne Subvention, wie von Ihnen angesprochen z.B. die Eigenheimzulage, rauspicken und sagen, die schaffen wir ab, sondern wir können nur sagen: Alle Subventionen, die da sind, müssen linear zurückgefahren werden, damit diese entlastende Steuerreform möglich ist. Denn eine Entlastung führt dazu, dass die Bürger wieder konsumieren können, Betriebe wieder investieren können, und nur das schafft Arbeitsplätze.
Deutschlandradio Kultur: Gut, wir haben aber die Frage nach einem anschaulichen Beispiel gestellt. Denn Ausnahmetatbestände abschaffen bleibt etwas blutleer, wie Sie zugeben müssen, oder? Was sollen wir uns als Bürger darunter vorstellen?
Dirk Niebel: Sie müssen sich als Bürger darunter vorstellen, dass Sie bei der Umsetzung dieses Konzeptes eine Steuerentlastung haben.
Deutschlandradio Kultur: Das ist jetzt aber keine Antwort.
Dirk Niebel: Doch.
Deutschlandradio Kultur: Was heißt denn Ausnahmetatbestände abschaffen?
Dirk Niebel: Ausnahmetatbestände könnte ich tausend Einzelbeispiele aufzählen.
Deutschlandradio Kultur: Dann nennen Sie die doch mal.
Dirk Niebel: Nein, was ich nicht tun werde, weil Sie dann jeden Lobbyisten, der genau begründen kann, wieso dieses Beispiel das falsche ist, auf den Plan rufen. Wir müssen eine generelle Reform, eine komplette Reform dieses Steuersystems hinkriegen, die im Endeffekt, genau wie wir es beschrieben haben, zu einer Entlastung der Betriebe und einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger führt.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Sie eine Mehrheit für ein Gesetz bekommen wollen, dann können Sie es doch nicht geheim halten!
Dirk Niebel: Na, es ist ja nicht geheim. Schauen Sie doch im Deutschen Bundestag mal in die Drucksachen. Das ist ja alles aufgeschrieben. Und wir haben jeden einzelnen Tatbestand, der zur Gegenfinanzierung herangezogen wird, auch aufgelistet.
Deutschlandradio Kultur: Also, wir halten fest, es wird auch keine größeren Abbautatbestände bei Subventionen geben, die Ihnen nicht so liegen, Windkraftenergie beispielsweise, geben, sondern ...
Dirk Niebel: Aber selbstverständlich.
Deutschlandradio Kultur: … überall fünf Prozent weniger oder zehn Prozent weniger, egal, was es ist.
Dirk Niebel: Also, es wird mit Sicherheit politisch am leichtesten durchzusetzen sein, wenn Sie – was intellektuell zwar nicht sonderlich anspruchsvoll, aber durchsetzbar wenigstens ist – sagen, wir machen lineare Kürzungen. Wir haben auch natürlich in einem Rechtsstaat bestimmte Dinge einzuhalten, die vertraglich festgelegt sind. Deswegen werden wir die Steinkohlesubvention auf jeden Fall zurückführen, aber man kann die nicht von heute auf morgen zurückführen. Das weiß auch jeder Mensch.
Deutschlandradio Kultur: Steinkohle ist ein ganz schönes Stichwort, Herr Niebel. Sie gehen erklärtermaßen in diesen vorgezogenen Wahlkampf, wenn er denn kommt, als mögliche Koalition, also als schwarz-gelbes Projekt sozusagen. Lassen Sie uns doch mal eine kleine Unverträglichkeitsprüfung durchführen. Wo sind die Punkte, wo Sie sagen würden, da wird es schwer miteinander in Deckungsgleichheit oder zumindest Übereinstimmung zu kommen?
Dirk Niebel: Vorweg: Es ist richtig, es ist eine ganz klare Strategie, wir wollen Rot-Grün mit einer schwarz-gelben Regierung ablösen. Unter dieser Überschrift müssen wir auch deutlich machen, dass es sich hier um drei Parteien handelt – CDU, CSU und FDP. Und wir sind eine eigenständige Partei, so dass es natürlich Unterschiede geben wird. Ich denke, ein Bereich, wo man wird ringen müssen, das ist die Frage der bürgerlichen Freiheitsrechte, wo wir uns vorstellen können, dass wir mehr darauf Wert legen müssen, als das bei der Union vielleicht der Fall ist. Wissen Sie, Bürgerrechte kann man ganz schwer nur erkämpfen. Und sie sterben schleichend und man merkt es oft erst, wenn man sie nicht mehr hat. Ich denke, da muss man gegensteuern.
Deutschlandradio Kultur: Beispiele: Großer Lauschangriff, Ausweitung der DNA-Analyse auf so gut wie alle Straftaten, Videoüberwachung öffentlicher Plätze.
Dirk Niebel: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht sonderlich hilfreich ist, wenn jedes Neugeborene, was irgendwann mal einen Kaugummi klauen könnte, erst mal DNA-erfasst wird. Ich halte es schlichtweg für verfassungswidrig – und auch der Bundespräsident ist da ja nicht hundertprozentig sicher – auf puren Verdacht hin voll besetzte Passagierflugzeuge abschießen zu dürfen – ein Gesetz, das die Union mitgetragen hat. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, was die akustische Wohnraumüberwachung – so heißt es ja offiziell, also der Lauschangriff – anbetrifft, dazu führt, dass das geltende Gesetz verfassungswidrig ist und nicht angewendet werden kann. Also darf man dieses Instrument nicht mehr nutzen. Es ist übrigens auch bemerkenswert wenig zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt worden in der Vergangenheit.
Deutschlandradio Kultur: Das ist so ein Punkt, genau wie z.B. bei der Gentechnik, wo Sie sehr viel mehr Freiheit für Forschung fordern als die Union es aus ethischen Bedenken heraus tut, dass man da um Glaubensfragen ringt. Entweder man hat diese Einstellung zu den Dingen oder man hat sie nicht.
Dirk Niebel: Ich bin der festen Überzeugung, man muss als erstes Mal die Chancen betrachten. Und dann muss man bei aller notwendigen Abgewogenheit mit den Risiken und mit den ethischen Fragestellungen sich auch auseinandersetzen. Aber wenn ich immer nur so tue, als wenn Gentechnik dazu führen würde, dass man etwas, was gottgegeben ist, verändert, dann vernachlässige ich die Tatsache, dass es in der Welt immer noch Menschen gibt, die zu wenig zu essen haben. Oder bei der Stammzellenforschung: Wenn ich so tue als wenn es ethisch verwerflich wäre damit zu forschen, dann vergesse ich, dass es ethisch genauso bedenklich sein muss – wenn die technischen Möglichkeiten bestehen, unheilbare Krankheiten vielleicht doch lindern oder heilen zu können –, wenn man diese technischen Möglichkeiten nicht nutzt für die betroffenen Menschen, die diese Krankheiten haben. Ich möchte hier eine mehrdimensionale Diskussion haben.
Deutschlandradio Kultur: Diese Diskussion ist ja geführt worden, auch mehrdimensional. Und die Parteien haben sich ja dann auch festgelegt, eben auf entsprechend konträre Positionen. Die Frage war ja, wie Sie sich da mit der Union einigen wollen. Bei der Frage, ob man die Aufgaben von Polizei und Geheimdiensten strikt trennt oder vermengt, gibt es wohl schlecht einen Kompromiss …
Dirk Niebel: Den gibt es nicht.
Deutschlandradio Kultur: … genauso wie bei der Frage, ob man eine Wehrpflichtigenarmee hat oder eine Berufsarmee. Da wird es auch keinen Kompromiss geben.
Dirk Niebel: Da warne ich Neugierige: Egal, wer regiert in Deutschland, wir werden spätestens in fünf Jahren eine Freiwilligenarmee haben.
Deutschlandradio Kultur: Dann ist da kein Punkt, wo Unverträglichkeit besteht, schade. Aber wir hätten noch einen anderen, wo wir sie auf alle Fälle diagnostizieren könnten, und zwar bei dem Umgang mit gesellschaftlichen Gruppen, namentlich Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es wird sich herumgesprochen haben, dass die FDP dafür eintritt, dass man die Tarifautonomie auflöst oder sehr, sehr deutlich beschränkt.
Dirk Niebel: Nein, wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht für betriebliche Bündnisse für Arbeit, der es ermöglicht, dass – wenn Belegschaft oder Betriebsrat auf der einen Seite, Unternehmensführung oder Unternehmer auf der anderen Seite sich auf etwas anderes einigen als das, was im Flächentarifvertrag steht, den gibt es nämlich noch – die das können dürfen, ohne dass irgendein Verbandsfunktionär, sei es ein Gewerkschaftsfunktionär oder ein Arbeitgeberfunktionär, dagegen vorgehen darf.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie wissen auch, dass Herr Westerwelle gerne damit argumentiert, dass er sagt, wir müssen dieses Tarifkartell, wie er es nennt, entmachten.
Dirk Niebel: Das ist richtig. Woher haben wir denn die hohe Sockelarbeitslosigkeit? Durch die gut gemeinte, aber in der Wirkung fatale ständige Sockellohnerhöhung. Dadurch sind Menschen aus dem Arbeitsmarkt rausgedrängt worden, weil der Preis, der für ihre Arbeit bezahlt werden musste, nicht mehr mit der Qualität der Leistung in Deckung zu bringen war. Die sind einfach nicht mehr der Produktivität entsprechend bezahlt worden. Und beide Kartelle haben dazu geführt, dass Menschen heute keine Chance haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften in Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Ob diese Analyse alle teilen ist ja zum einen sehr fraglich. Sie meinten jetzt wahrscheinlich auch nicht beide Kartelle, sondern beide Verbände …
Dirk Niebel: Die Beteiligten des Tarifkartells.
Deutschlandradio Kultur: …. was Sie Tarifkartell, andere etwas vornehmer Tarifautonomie nennen. Noch mal zur Verträglichkeits- oder Unverträglichkeitsprüfung mit der Union: Da werden Sie sich auch kaum durchsetzen, wenn Sie die Arbeitgeberverbände entmachten wollen.
Dirk Niebel: Die Union hat ebenfalls einen Gesetzentwurf für betriebliche Bündnisse für Arbeit eingebracht. Es gibt einen einzigen Unterschied. Die wollen nur im Tarifvertragsgesetz eine Änderung machen. Wir wollen sie im Tarifvertragsgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz machen. Das ist jetzt, Entschuldigung, wenn Sie so fragen, für juristische Feinschmecker. Unser Vorschlag bedeutet tatsächlich, dass die Verbändemacht dann eingeschränkt wird. Was im Betrieb beschlossen wird, bei 75 % der Belegschaft, das gilt dann. Und da kann auch kein Herr Hundt und kein Herr Sommer was dagegen machen. Das ist der Unterschied.
Deutschlandradio Kultur: Und die Union bezeichnet Gewerkschafter auch nicht als die „eigentliche Plage“. Die Herangehensweise an die Vertreter der Verbände, wie man sie wahrnimmt und wie man sie unter Umständen auch versucht mit ins Boot zu nehmen oder eben rauszukippen ist verschieden.
Dirk Niebel: Ja, das hat was mit Ursache und Wirkung zu tun. Ich erinnere mal an die Heuschrecken von Herrn Müntefering. Ab und zu gehört auf einen groben Keil halt auch mal ein grober Klotz.
Dirk Niebel wird am 29.03. 1963 in Hamburg geboren; verheiratet, drei Söhne. Nach der Fachhochschulreife 1984 bis 1991 Zeitsoldat und Fallschirmjäger. 1990 bis 1993 Studium Verwaltungswesen an der Fachhochschule des Bundes Mannheim, Fachbereich Arbeitsverwaltung, Diplomverwaltungswirt (FH). 1993 bis 1998 Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt Heidelberg. 1990 Eintritt in die FDP und Gründungsmitglied der Jungen Liberalen Heidelberg. Mitglied des Bundestages seit 1998. Seit 1998 Stv. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe, seit 2000 Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, seit 2003 Mitglied des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung. Seit 2002 Vorsitzender der FDP-Landesgruppe Baden-Württemberg und Mitglied im Landespräsidium der FDP/DVP Baden-Württemberg, seit 2004 Mitglied im Bundesvorstand der FDP, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Am 5.5.2005 wird Dirk Niebel auf dem Bundesparteitag der FDP in Köln mit 92 % der Stimmen zum neuen Generalsekretär gewählt.
Dirk Niebel: Nun, wir haben einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag vorgelegt für ein neues System der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung. Das ist durchgerechnet. Abgesehen davon, dass wir keine Mehrwertsteuererhöhung wollen, bei unserem Konzept brauchen wir sie auch nicht. Bei fünf Millionen registrierten Arbeitslosen ist allein die Diskussion über Steuererhöhungen mit Sicherheit kontraproduktiv.
Deutschlandradio Kultur: Andererseits haben Sie Anfang dieser Woche schon gesagt, dass im Rahmen eines Gesamtkonzeptes schon eine Veränderung des Verhältnisses zwischen direkten und indirekten Steuern denkbar sei. Die Mehrwertsteuer ist eine indirekte Steuer. Da haben wir gedacht, dass Sie doch darauf angespielt haben, um sich mögliche Koalitionschancen mit der Union nicht ganz zu verderben.
Dirk Niebel: Nein, ich habe es anders gesagt. Ich habe es genau so gesagt: Wir wollen keine Mehrwertsteuererhöhung und für unser Steuerkonzept brauchen wir sie auch nicht. Wenn allerdings eine richtige Steuerreform umgesetzt worden sein wird, kann es sein, dass sich automatisch bedingt durch die Umsetzung dieser Steuerreform das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern verändern wird. Das kann, wenn überhaupt, am Ende eines derartigen Reformprozesses sein. Von daher ist es zumindest eine Diskussion zur Unzeit.
Deutschlandradio Kultur: Dass sich dieses Verhältnis verschieben sollte, dafür plädieren sehr viele Fachleute, weil sie sagen: Die Steuern auf Arbeitseinkommen sind bei uns im Lande zu hoch.
Dirk Niebel: Ja, deswegen haben wir auch einen einfachen, gerechten und transparenten Steuertarif vorgelegt. Nur, um das noch mal zu wiederholen, abgesehen davon, dass wir eine Mehrwertsteuererhöhung nicht wollen, bei unserem Gesetzentwurf, der durchgerechnet im Bundestag eingebracht worden ist, brauchen wir sie auch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Eine Überlegung dabei, wenn man das ins Spiel bringt, ist ja immer, dass man sagt: Egal, wo wir es hernehmen, man muss die Lohnnebenkosten senken, denn die meisten Unternehmen in der Bundesrepublik beschweren sich ja nicht darüber, dass die Steuern zu hoch sind, sondern dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Da ist es doch dann wurscht, wo man das herbekommt.
Dirk Niebel: Na, ganz wurscht ist es nicht, aber Sie haben Recht, die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Das liegt auch daran, dass uns die sozialen Sicherungssysteme entgleiten. Es hat natürlich auch etwas mit der hohen Arbeitslosigkeit zu tun. Dadurch, dass viele Menschen keine Arbeit haben, zahlen sie keine Beiträge, zahlen keine Steuern, beziehen Transferleistungen. Das erhöht die Staatsausgaben insgesamt und mindert die Einnahmen. Ein Ansatz ist, dass man z.B. anfängt, die Lohnkosten von den sozialen Sicherungskosten zu entkoppeln, indem man Arbeitgeberanteile mit an den Arbeitnehmer auszahlt. Zum Beispiel im Bereich der Arbeitslosenversicherung ist das überhaupt erst der Anreiz, auch einen Wahltarif in Anspruch zu nehmen, denn solange der Arbeitgeber die Hälfte der Beitragsersparnis für sich verbuchen könnte, hat ja kein Arbeitnehmer irgendeinen Anreiz, einen Wahltarif in Anspruch zu nehmen.
Deutschlandradio Kultur: Das wäre ja nun ein kompletter Systemwechsel. Da ist eine Mehrwertsteuererhöhung vielleicht doch etwas leichter einzusetzen. Zum Beispiel plädieren der Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, oder auch der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, um eben die Lohnnebenkosten zu senken, um die Anzahl der Menschen, die in Arbeit stehen, zu erhöhen. Und es würde die Wettbewerbsbedingungen für Deutschland nicht verschlechtern, denn mit 16 % liegen wir in der EU knapp ein Prozent über dem Mindestsatz. Es gibt ja Länder mit 25 % Mehrwertsteuer.
Dirk Niebel: Mit der Einleitung Ihrer Frage haben Sie einen ganz wichtigen Punkt deutlich gemacht. Unser Vorschlag wäre ein Systemwechsel. Und wenn Sie die Einnahmeverbesserung des Staates durch eine Steuererhöhung hinkriegen wollten, dann nehmen Sie auch den notwendigen Druck, die sozialen Sicherungssysteme zu reformieren. Das ist das Prinzip Ökosteuer. Statt dass man ein soziales Sicherungssystem zukunftsfähig macht, kassiert man woanders ab, schiebt Staatsknete rein und lässt das System weiterhin gegen die Wand fahren. Wir brauchen den Systemwechsel. Wir brauchen echte Reformen in den sozialen Sicherungssystemen. Und eine Steuererhöhungsdebatte würde nicht nur falsche Signale setzen, sondern sie würde vor allem auch den Reformdruck rausnehmen aus den Systemen. Damit wären sie noch weniger zukunftsfähig als sie es heute schon sind.
Deutschlandradio Kultur: Meinen Sie, dass es Ihnen auch gelingen wird, die diversen Unionspolitiker von dieser Position zu überzeugen?
Dirk Niebel: Je stärker wir werden, desto mehr können wir durchsetzen.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht im Moment nicht so wahnsinnig gut aus.
Dirk Niebel: Wir arbeiten dran.
Deutschlandradio Kultur: Sie schrammen ja genauso nah an der Fünfprozentgrenze wie die Union an der absoluten Mehrheit.
Dirk Niebel: Nein, wir sind nach der Umfrage, die gestern veröffentlicht worden ist, bei guten sieben Prozent.
Deutschlandradio Kultur: Und die CDU bei guten 48 Prozent.
Dirk Niebel: Richtig.
Deutschlandradio Kultur: Das sind jeweils zwei Prozentpunkte.
Dirk Niebel: Da werden die auch wieder runterkommen. Die Bundesrepublik insgesamt ist strukturell kein Land für absolute Mehrheiten. Wir sind gerade am Beginn eines Wahlkampfes, wenn er denn hoffentlich kommt. Wir brauchen da ja auch bestimmte Formalien, die erledigt werden müssen. Wir werden im Rahmen dieses Wahlkampfes, natürlich unter der Prämisse, dass wir den Politikwechsel mit der Union erreichen wollen, auch klar machen, wo die Unterschiede zur Union sind. Deswegen sind wir eine eigene Partei.
Deutschlandradio Kultur: Das hat jetzt hoffentlich nicht der Bundespräsident gehört mit den Formalien, die da nur noch zu erledigen sind.
Dirk Niebel: Natürlich sind es Formalien, die zu erledigen sind.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen – wie auch Westerwelle, Gerhardt, Brüderle –, also diverse FDP-Politiker sagen, dass es mit ihnen keine Mehrwertsteuererhöhung geben werde. Wir würden ja fast geneigt sein, eine Wette abzuschließen, dass es sie geben wird. Vielleicht um ein selbst gekochtes Dreigangmenü, da können wir uns gerne einigen.
Dirk Niebel: Das würde ich Ihnen nicht antun wollen!
Deutschlandradio Kultur: Es geht doch darum: Auch Sie wollen als FDP nicht auf Steuereinnahmen verzichten. Bei den Haushaltslöchern, die wir haben, sind Steuergeschenke im Moment nicht drin. Und dann ergibt es doch Sinn, eine Steuer als Einnahmequelle zu benutzen, die – wenn man sie denn erhöht – nicht zum Nachteil im Wettbewerb wird.
Dirk Niebel: Nein, Sie haben – Entschuldigung – den komplett falschen Denkansatz, wenn ich das so hart sagen darf. Sie gehen immer davon aus, wir hätten ein Einnahmeproblem in Deutschland. Im letzten Jahr hat die Bundesrepublik Deutschland über alle öffentlichen Haushalte ungefähr 930 Milliarden Euro Einnahmen gehabt. Wir haben kein Einnahmeproblem. Wir haben ein Ausgabenproblem. Das Problem der öffentlichen Haushalte besteht in der unsozialen und unkalkulierbaren Ausgabenpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Deswegen ist es der falsche Ansatz, die Bürger noch mal wieder abzukassieren, um Haushaltslöcher zu stopfen, wie Sie es eben angeregt haben.
Deutschlandradio Kultur: Darum geht es ja nicht.
Dirk Niebel: Sondern der richtige Ansatz ist, eine Aufgabenkritik durchzuführen und den Staat zurückzuführen überall da, wo er sich Dinge angeeignet hat, die eigentlich Sache der Bürger sind.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen ja nicht die Haushaltslöcher damit stopfen, sondern wir haben uns ein Gesamtkonzept angesehen, was hauptsächlich dazu führen soll, dass es sozialer bei den Steuern in Deutschland zugeht, nämlich zu Arbeit führt. Denn das ist ja Ihr Credo.
Dirk Niebel: Ja, aber wir haben doch ein Gesamtkonzept als Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, wo wir klar berechnet haben, dass – um das durchzusetzen – damit Arbeit möglich wird durch Investition und Konsum, deswegen ist es ein entlastendes Steuerkonzept, wo wir klar berechnet haben, dass dieses Konzept durchsetzbar ist ohne Mehrwertsteuererhöhung. Und mit dem werben wir um die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Deutschlandradio Kultur: Nun wird ja die FDP, auch wenn es Neuwahlen geben sollte, und auch, wenn die FDP die zurzeit prognostizierten sieben Prozent bekommen sollte, das ja nicht alleine verabschieden.
Dirk Niebel: Wir werden auch noch stärker.
Deutschlandradio Kultur: Gut, acht Prozent. Ich habe den Eindruck, dass die Kanzlerkandidatin der Union Ihre Analyse nicht ganz teilt, Herr Niebel. Denn sie hat sich in dieser Woche sehr vorsichtig geäußert, gerade was diese ganzen Steuerfragen angeht, und unter andrem darauf verwiesen, dass die Staatsfinanzen zerrüttet seien. Das hörte sich nicht so an, als ob sie meinte, es gäbe ein reines Ausgabenproblem.
Dirk Niebel: Ich werde mit großem Interesse auf das Steuerkonzept der Union warten. Solange das nicht vorliegt, haben wir einen durchgerechneten Gesetzentwurf, für den eine Mehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist.
Deutschlandradio Kultur: Können wir Sie dann wenigstens zu einer Art Systembereinigungsdebatte verleiten. Wenn man diese Mehrwertsteuer betrachtet, gibt es ja wirklich Absurditäten, Sie wissen das. Es gibt den verminderten Satz auf Dinge, die vielleicht nicht alle unbedingt sinnvoll sind. Da braucht man nur die berühmten Rennpferde zu nehmen …
Dirk Niebel: Entschuldigung, aber es bringt doch nichts, wenn wir über einen Einzelpunkt sprechen. Genauso bringt es nichts, wenn wir über eine einzelne Subvention sprechen, die man verändern müsste, sondern es geht um ein Gesamtkonzept. Und in dem Gesamtkonzept, das wir vorgelegt haben, ist eine entlastende Steuerreform beschrieben worden, die ohne Mehrwertsteuererhöhung auskommt, die auf der anderen Seite allerdings enorm viele Ausnahmetatbestände abschafft.
Deutschlandradio Kultur: Pendlerpauschale? Den verminderten Satz der Mehrwertsteuer? Eigenheimzulage? Als Beispiele. Es stellt sich ja die Frage der Gegenfinanzierung.
Dirk Niebel: Nein, ich werde mich nicht auf eine Einzeldiskussion einlassen, das werde ich nicht tun. Wir haben auch gesagt, beim Subventionsabbau können wir nicht eine einzelne Subvention, wie von Ihnen angesprochen z.B. die Eigenheimzulage, rauspicken und sagen, die schaffen wir ab, sondern wir können nur sagen: Alle Subventionen, die da sind, müssen linear zurückgefahren werden, damit diese entlastende Steuerreform möglich ist. Denn eine Entlastung führt dazu, dass die Bürger wieder konsumieren können, Betriebe wieder investieren können, und nur das schafft Arbeitsplätze.
Deutschlandradio Kultur: Gut, wir haben aber die Frage nach einem anschaulichen Beispiel gestellt. Denn Ausnahmetatbestände abschaffen bleibt etwas blutleer, wie Sie zugeben müssen, oder? Was sollen wir uns als Bürger darunter vorstellen?
Dirk Niebel: Sie müssen sich als Bürger darunter vorstellen, dass Sie bei der Umsetzung dieses Konzeptes eine Steuerentlastung haben.
Deutschlandradio Kultur: Das ist jetzt aber keine Antwort.
Dirk Niebel: Doch.
Deutschlandradio Kultur: Was heißt denn Ausnahmetatbestände abschaffen?
Dirk Niebel: Ausnahmetatbestände könnte ich tausend Einzelbeispiele aufzählen.
Deutschlandradio Kultur: Dann nennen Sie die doch mal.
Dirk Niebel: Nein, was ich nicht tun werde, weil Sie dann jeden Lobbyisten, der genau begründen kann, wieso dieses Beispiel das falsche ist, auf den Plan rufen. Wir müssen eine generelle Reform, eine komplette Reform dieses Steuersystems hinkriegen, die im Endeffekt, genau wie wir es beschrieben haben, zu einer Entlastung der Betriebe und einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger führt.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Sie eine Mehrheit für ein Gesetz bekommen wollen, dann können Sie es doch nicht geheim halten!
Dirk Niebel: Na, es ist ja nicht geheim. Schauen Sie doch im Deutschen Bundestag mal in die Drucksachen. Das ist ja alles aufgeschrieben. Und wir haben jeden einzelnen Tatbestand, der zur Gegenfinanzierung herangezogen wird, auch aufgelistet.
Deutschlandradio Kultur: Also, wir halten fest, es wird auch keine größeren Abbautatbestände bei Subventionen geben, die Ihnen nicht so liegen, Windkraftenergie beispielsweise, geben, sondern ...
Dirk Niebel: Aber selbstverständlich.
Deutschlandradio Kultur: … überall fünf Prozent weniger oder zehn Prozent weniger, egal, was es ist.
Dirk Niebel: Also, es wird mit Sicherheit politisch am leichtesten durchzusetzen sein, wenn Sie – was intellektuell zwar nicht sonderlich anspruchsvoll, aber durchsetzbar wenigstens ist – sagen, wir machen lineare Kürzungen. Wir haben auch natürlich in einem Rechtsstaat bestimmte Dinge einzuhalten, die vertraglich festgelegt sind. Deswegen werden wir die Steinkohlesubvention auf jeden Fall zurückführen, aber man kann die nicht von heute auf morgen zurückführen. Das weiß auch jeder Mensch.
Deutschlandradio Kultur: Steinkohle ist ein ganz schönes Stichwort, Herr Niebel. Sie gehen erklärtermaßen in diesen vorgezogenen Wahlkampf, wenn er denn kommt, als mögliche Koalition, also als schwarz-gelbes Projekt sozusagen. Lassen Sie uns doch mal eine kleine Unverträglichkeitsprüfung durchführen. Wo sind die Punkte, wo Sie sagen würden, da wird es schwer miteinander in Deckungsgleichheit oder zumindest Übereinstimmung zu kommen?
Dirk Niebel: Vorweg: Es ist richtig, es ist eine ganz klare Strategie, wir wollen Rot-Grün mit einer schwarz-gelben Regierung ablösen. Unter dieser Überschrift müssen wir auch deutlich machen, dass es sich hier um drei Parteien handelt – CDU, CSU und FDP. Und wir sind eine eigenständige Partei, so dass es natürlich Unterschiede geben wird. Ich denke, ein Bereich, wo man wird ringen müssen, das ist die Frage der bürgerlichen Freiheitsrechte, wo wir uns vorstellen können, dass wir mehr darauf Wert legen müssen, als das bei der Union vielleicht der Fall ist. Wissen Sie, Bürgerrechte kann man ganz schwer nur erkämpfen. Und sie sterben schleichend und man merkt es oft erst, wenn man sie nicht mehr hat. Ich denke, da muss man gegensteuern.
Deutschlandradio Kultur: Beispiele: Großer Lauschangriff, Ausweitung der DNA-Analyse auf so gut wie alle Straftaten, Videoüberwachung öffentlicher Plätze.
Dirk Niebel: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht sonderlich hilfreich ist, wenn jedes Neugeborene, was irgendwann mal einen Kaugummi klauen könnte, erst mal DNA-erfasst wird. Ich halte es schlichtweg für verfassungswidrig – und auch der Bundespräsident ist da ja nicht hundertprozentig sicher – auf puren Verdacht hin voll besetzte Passagierflugzeuge abschießen zu dürfen – ein Gesetz, das die Union mitgetragen hat. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, was die akustische Wohnraumüberwachung – so heißt es ja offiziell, also der Lauschangriff – anbetrifft, dazu führt, dass das geltende Gesetz verfassungswidrig ist und nicht angewendet werden kann. Also darf man dieses Instrument nicht mehr nutzen. Es ist übrigens auch bemerkenswert wenig zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt worden in der Vergangenheit.
Deutschlandradio Kultur: Das ist so ein Punkt, genau wie z.B. bei der Gentechnik, wo Sie sehr viel mehr Freiheit für Forschung fordern als die Union es aus ethischen Bedenken heraus tut, dass man da um Glaubensfragen ringt. Entweder man hat diese Einstellung zu den Dingen oder man hat sie nicht.
Dirk Niebel: Ich bin der festen Überzeugung, man muss als erstes Mal die Chancen betrachten. Und dann muss man bei aller notwendigen Abgewogenheit mit den Risiken und mit den ethischen Fragestellungen sich auch auseinandersetzen. Aber wenn ich immer nur so tue, als wenn Gentechnik dazu führen würde, dass man etwas, was gottgegeben ist, verändert, dann vernachlässige ich die Tatsache, dass es in der Welt immer noch Menschen gibt, die zu wenig zu essen haben. Oder bei der Stammzellenforschung: Wenn ich so tue als wenn es ethisch verwerflich wäre damit zu forschen, dann vergesse ich, dass es ethisch genauso bedenklich sein muss – wenn die technischen Möglichkeiten bestehen, unheilbare Krankheiten vielleicht doch lindern oder heilen zu können –, wenn man diese technischen Möglichkeiten nicht nutzt für die betroffenen Menschen, die diese Krankheiten haben. Ich möchte hier eine mehrdimensionale Diskussion haben.
Deutschlandradio Kultur: Diese Diskussion ist ja geführt worden, auch mehrdimensional. Und die Parteien haben sich ja dann auch festgelegt, eben auf entsprechend konträre Positionen. Die Frage war ja, wie Sie sich da mit der Union einigen wollen. Bei der Frage, ob man die Aufgaben von Polizei und Geheimdiensten strikt trennt oder vermengt, gibt es wohl schlecht einen Kompromiss …
Dirk Niebel: Den gibt es nicht.
Deutschlandradio Kultur: … genauso wie bei der Frage, ob man eine Wehrpflichtigenarmee hat oder eine Berufsarmee. Da wird es auch keinen Kompromiss geben.
Dirk Niebel: Da warne ich Neugierige: Egal, wer regiert in Deutschland, wir werden spätestens in fünf Jahren eine Freiwilligenarmee haben.
Deutschlandradio Kultur: Dann ist da kein Punkt, wo Unverträglichkeit besteht, schade. Aber wir hätten noch einen anderen, wo wir sie auf alle Fälle diagnostizieren könnten, und zwar bei dem Umgang mit gesellschaftlichen Gruppen, namentlich Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es wird sich herumgesprochen haben, dass die FDP dafür eintritt, dass man die Tarifautonomie auflöst oder sehr, sehr deutlich beschränkt.
Dirk Niebel: Nein, wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht für betriebliche Bündnisse für Arbeit, der es ermöglicht, dass – wenn Belegschaft oder Betriebsrat auf der einen Seite, Unternehmensführung oder Unternehmer auf der anderen Seite sich auf etwas anderes einigen als das, was im Flächentarifvertrag steht, den gibt es nämlich noch – die das können dürfen, ohne dass irgendein Verbandsfunktionär, sei es ein Gewerkschaftsfunktionär oder ein Arbeitgeberfunktionär, dagegen vorgehen darf.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie wissen auch, dass Herr Westerwelle gerne damit argumentiert, dass er sagt, wir müssen dieses Tarifkartell, wie er es nennt, entmachten.
Dirk Niebel: Das ist richtig. Woher haben wir denn die hohe Sockelarbeitslosigkeit? Durch die gut gemeinte, aber in der Wirkung fatale ständige Sockellohnerhöhung. Dadurch sind Menschen aus dem Arbeitsmarkt rausgedrängt worden, weil der Preis, der für ihre Arbeit bezahlt werden musste, nicht mehr mit der Qualität der Leistung in Deckung zu bringen war. Die sind einfach nicht mehr der Produktivität entsprechend bezahlt worden. Und beide Kartelle haben dazu geführt, dass Menschen heute keine Chance haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften in Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Ob diese Analyse alle teilen ist ja zum einen sehr fraglich. Sie meinten jetzt wahrscheinlich auch nicht beide Kartelle, sondern beide Verbände …
Dirk Niebel: Die Beteiligten des Tarifkartells.
Deutschlandradio Kultur: …. was Sie Tarifkartell, andere etwas vornehmer Tarifautonomie nennen. Noch mal zur Verträglichkeits- oder Unverträglichkeitsprüfung mit der Union: Da werden Sie sich auch kaum durchsetzen, wenn Sie die Arbeitgeberverbände entmachten wollen.
Dirk Niebel: Die Union hat ebenfalls einen Gesetzentwurf für betriebliche Bündnisse für Arbeit eingebracht. Es gibt einen einzigen Unterschied. Die wollen nur im Tarifvertragsgesetz eine Änderung machen. Wir wollen sie im Tarifvertragsgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz machen. Das ist jetzt, Entschuldigung, wenn Sie so fragen, für juristische Feinschmecker. Unser Vorschlag bedeutet tatsächlich, dass die Verbändemacht dann eingeschränkt wird. Was im Betrieb beschlossen wird, bei 75 % der Belegschaft, das gilt dann. Und da kann auch kein Herr Hundt und kein Herr Sommer was dagegen machen. Das ist der Unterschied.
Deutschlandradio Kultur: Und die Union bezeichnet Gewerkschafter auch nicht als die „eigentliche Plage“. Die Herangehensweise an die Vertreter der Verbände, wie man sie wahrnimmt und wie man sie unter Umständen auch versucht mit ins Boot zu nehmen oder eben rauszukippen ist verschieden.
Dirk Niebel: Ja, das hat was mit Ursache und Wirkung zu tun. Ich erinnere mal an die Heuschrecken von Herrn Müntefering. Ab und zu gehört auf einen groben Keil halt auch mal ein grober Klotz.
Dirk Niebel wird am 29.03. 1963 in Hamburg geboren; verheiratet, drei Söhne. Nach der Fachhochschulreife 1984 bis 1991 Zeitsoldat und Fallschirmjäger. 1990 bis 1993 Studium Verwaltungswesen an der Fachhochschule des Bundes Mannheim, Fachbereich Arbeitsverwaltung, Diplomverwaltungswirt (FH). 1993 bis 1998 Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt Heidelberg. 1990 Eintritt in die FDP und Gründungsmitglied der Jungen Liberalen Heidelberg. Mitglied des Bundestages seit 1998. Seit 1998 Stv. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe, seit 2000 Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, seit 2003 Mitglied des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung. Seit 2002 Vorsitzender der FDP-Landesgruppe Baden-Württemberg und Mitglied im Landespräsidium der FDP/DVP Baden-Württemberg, seit 2004 Mitglied im Bundesvorstand der FDP, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Am 5.5.2005 wird Dirk Niebel auf dem Bundesparteitag der FDP in Köln mit 92 % der Stimmen zum neuen Generalsekretär gewählt.