Nie wieder Deutscher Meister

Der Niedergang des FC Schalke 04

23:46 Minuten
Ein Spieler im blauen Trikot liegt auf dem Rasen, neben ihm ein Fußball.
Der Schalke Spieler Benito Raman am Boden nach dem Unentschieden gegen FSV Mainz 05 im vergangenen Jahr. © imago / Jan Huebner
Von Günter Herkel · 16.05.2021
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Es ist vorbei. Der FC Schalke 04 steigt in die Zweite Liga ab. Dabei hatte es 1958 so schön angefangen - mit dem Gewinn der Meisterschaft. Günther Herkel erzählt von den Höhen und Tiefen im Leben mit "seinem Verein".
"Und jetzt ein historischer Schlusspfiff: Schalke steigt zum vierten Mal in die Zweite Liga ab." – Als die Entscheidung fiel, mochte ich nicht zuschauen. Mental war ich zwar längst darauf vorbereitet. Trotzdem kam ein Gefühl der Leere auf. "Es tut weh zu verstehen, dass wir abgestiegen sind. Wir reden immer noch von Schalke 04. Das ist einfach krass zu verstehen, dass wir nächstes Jahr nicht dabei sind."
Im Sommer 2019 hatte ich schweren Herzens meine Mitgliedskarte zurückgegeben. Bei einem Verein, der an verantwortlicher Stelle eine Person duldete, die mit unsäglichen rassistischen Äußerungen das beschädigt, wofür Schalke seit Jahrzehnten steht, mochte ich nicht länger an Bord sein. Viele Fans sahen das ähnlich. Bis zur offenen Revolte sollte es aber noch ein Jahr dauern.

Proteste gegen Aufsichtsratschef Tönnies

Clemens Tönnies, Fleischfabrikant, Milliardär, seit 2001 Aufsichtsratsvorsitzender des FC Schalke 04. Offiziell nur oberster Kontrolleur, spätestens aber nach der Entmachtung des populären Managers Rudi Assauer im Jahr 2006 der starke Mann im Verein.
Tönnies gestikuliert bei einer Rede. Im Hintergrund sieht man des Vereins-Wappen
Trat nach Fanprotesten als Schalke-Boss zurück: der Fleischfabrikant Clemens Tönnies.© imago
Die rassistische Aussage bei einer Handwerkstagung in Paderborn 2019 führt zum Eklat und ersten Protesten der Fans. Im Sommer des letzten Jahres wird bekannt, dass sich im Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück von etwa 7000 Beschäftigten mehr als jeder Fünfte mit dem Coronavirus infiziert hatte.
Den engagiertesten Fans reicht es jetzt. "Unser Virus nennt sich Aufsichtsrat" und "System Tönnies stoppen!" – unter diesen Slogans organisieren rund 1200 Fans Ende Juni 2020 eine Menschenkette rund um die Arena auf Schalke.
Rote Karte gegen Rassismus: Schalke-Fans reagieren beim DFB-Pokalspiel gegen den SV Drochtersen Assel auf Äußerungen ihres Aufsichtsratschefs Clemens Tönnies.
Rote Karte gegen Rassismus: Schalke-Fans reagieren beim DFB-Pokalspiel gegen den SV Drochtersen Assel auf Äußerungen ihres Aufsichtsratschefs Clemens Tönnies.© imago images / RHR-Foto
Speziell die jetzt enthüllten Arbeitsbedingungen in den Tönnies-Fleischbetrieben mussten der Basis übel aufstoßen: Werk- und Leiharbeiterverträge, beengte Wohnverhältnisse, die die Ausbreitung der Pandemie begünstigten, Hungerlöhne: "Die arbeiten für den da für zwei Euro die Stunde. Und dann samstags um halb vier ist er hier der Chef, der Kumpel und Malocher, der kleinen Leute? Nein, passt nicht zusammen, passt nicht zusammen! Tut mir leid!"
Der Protest zeigt Wirkung: Nur drei Tage nach der Aktion tritt Tönnies von seinem Amt im Aufsichtsrat zurück.
Zwei junge Männer sitzen auf einem Balken und halten ein Schild mit der Aufschrift "Unser Virus nennt sich Aufsichtsrats" in die Höhe. Dahinter weitere Demonstranten.
"Unser Virus nennt sich Aufsichtsrats" – Die Proteste der Fans gegen Schalke-Boss Tönnies zeigen Wirkung.© Fabian Strauch / dpa
Im Zweiten Weltkrieg hatte Gelsenkirchen schwerste Zerstörungen erlitten. Wir Kinder kickten auf Trümmergrundstücken, während um uns herum Baukräne vom einsetzenden sogenannten Wirtschaftswunder kündeten. Der Fußball lenkte ab vom tristen Alltag. Schalke spielte in der Oberliga West. 1951, in meinem Geburtsjahr, wurden die Blauweißen erstmals Westfalenmeister.

Kindheit im Ruhrgebiet

Annette und Helge habe ich erst in Berlin kennengelernt, so vor 20 Jahren. Obwohl wir in unserer Heimatstadt fast Nachbarn waren. Beide engagieren sich im Fanklub "Königsblau Berlin 1999", Schalkes "Ständige Vertretung" in der Hauptstadt, dessen Aktivitäten pandemiebedingt derzeit ruhen.
Annette ist waschechte Schalkerin: "Ich bin auf Kohle geboren, sag ich immer. Auch jetzt in der Zeit, in dieser Krise ist es so: Für mich gibt es einfach nichts anderes im Fußball als Schalke."
Häuser einer Arbeitersiedlung in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen, im Hintergrund Schornsteine einer Fabrik
Als noch die Schornsteine rauchten und die Zechen noch nicht dicht gemacht hatten: Arbeitersiedlung in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen.© picture alliance / United Archives / Werner OTTO
Über so einen Stammbaum verfügt ihr Mann Helge nicht. Er kommt ursprünglich aus dem Erzgebirge, immerhin auch eine Region mit Bergbautradition. Als Kind wohnte er dort bei den Großeltern. Die Eltern lebten schon im Westen. An die Post, die der achtjährige Junge von seiner Mutter bekam, erinnert er sich noch heute.
"Ab 1958 stand auf den Briefen, die ich von meiner Mutter kriegte, mit einem Stempel, da stand drauf: Gelsenkirchen, Stadt des Deutschen Fußballmeisters. Das werde ich nie vergessen."

Als Schalke Deutscher Meister wurde

18. Mai 1958: Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Schalke gegen Uwe Seelers HSV in Hannover. Die Wochenschaureportage klingt so: "Und da ist wieder die Nummer elf, Bernie Klodt, der Sturmtank aus Gelsenkirchen. Blitzschnell baut er einen Angriff auf, und wenig später kommt der Torschuss von Kreuz. Die Zeitlupenkamera erfasst das 3:0. Das ist das Ende für den HSV. Schalke 04, einer der traditionsreichsten Fußballvereine, ist wieder Deutscher Meister." Zum siebten Mal, nach einer Pause von 16 Jahren. Und bis heute die letzte Meisterschaft.
Mit neun Jahren wird Helge von seinen Eltern in den Westen nachgeholt. Mit der Bahn ging es Richtung Ruhrgebiet. "Es wurde später Abend. Es wurde dunkel. Letzter Halt war Dortmund, und dann rollte der Zug – jetzt muss ich echt heulen – nach Gelsenkirchen ein. Und dann sagte der: Wir kommen jetzt in die Stadt der 1000 Feuer. Wenn ich dieses Vereinslied höre, dann bin echt fertig."
Der Abwasser Fluss Emscher in seinem kanalisierten Bett, in Gelsenkrichen-Bismarck, Blick auf die Ruhr Oel GmbH BP Gelsenkirchen Raffinerie in Gelsenkrichen-Horst.
Kohle, Fußball, Niedergang: Gelsenkirchen kämpft infolge des Strukturwandels noch immer mit großen sozialen Problemen.© imago stock&people
Immer noch gibt es in Gelsenkirchen Väter, die ihre Kinder direkt nach der Geburt als Schalke-Mitglieder eintragen lassen. Oder wie es im Film "Fußball ist unser Leben" heißt: "Schalke! Sag mal Schalke. Ja, kannste doch."
Dieses Privileg wurde mir nicht zuteil. Mein Vater war bereits 1954 an der Tuberkulose gestorben. Ob er wirklich Schalke-Fan war, wie mir später berichtet wurde, weiß ich nicht. In den 50er-Jahren durfte ich gelegentlich mit älteren Nachbarn zu Spielen anderer Vorortklubs mitgehen, zum SC Hassel oder Hansa Scholven.

Bundesliga in der Glückauf-Kampfbahn

Meine Liebe zu Schalke erwachte erst nach der Gründung der Bundesliga 1963. Mit unserer Clique ging es per Tram oder Fahrrad "auf Schalke", zur Glückauf-Kampfbahn. Keine Festung wie die heutige Arena. Hatten wir kein Ticket, kletterten wir gelegentlich auf eine der Pappeln, die das Stadion säumten.
Ich erinnere mich an bärbeißige Ordner mit maulkorbbewehrten Schäferhunden, an den intensiven Tabakgeruch im Pulk der Fans auf den Stehplätzen. Auf den besseren Plätzen saßen die Zuschauer so nah am Spielfeldrand, dass die Spieler Ecken ohne Anlauf schießen mussten.
Zwischen den Punktspielen besuchten wir gelegentlich das Mannschaftstraining und jagten nach Autogrammen unserer Helden. Hannes Becher, Friedel Rausch, Klaus "die Tanne" Fichtel, und natürlich Reinhard "Stan" Libuda. Willi Schulz, der 1966 bei der WM in England zu "World-Cup-Willi" aufstieg, verpasste mir einmal sogar eine Ohrfeige, als ich ihn zu heftig bedrängte. Wodurch ich mich seinerzeit geradezu geadelt fühlte.
Nicht zu vergessen Willi Koslowski, "der Schwatte", ein Schalker Urgestein, Mitglied der Meistermannschaft von 1958, einer der Typen, die noch den Beruf des Bergmanns gelernt hatten. Auf der Zeche Hugo in Gelsenkirchen-Buer, kaum zwei Kilometer Luftlinie entfernt von der Siedlung, in der ich mit Mutter und Schwester aufwuchs. Wenn der Wind ungünstig stand, holte meine Mutter schnell die Wäsche draußen von der Leine. Der von "Hugo" herüberwehende Steinkohlestaub färbte die Wäsche gelegentlich – wie wir sagten – "dunkelweiß".
Annette sagt: "Wenn ich im Urlaub war und erzählt hab, ich komm aus Gelsenkirchen, kannte niemand. Aber Schalke kannten alle." Wo sonst ist der Name eines kleinen Stadtteils bekannter als der Name der ganzen Stadt?
Am Schalker Markt liegt für echte Fans das wahre Schalke. Ein heute ziemlich hässlicher Ortsteil mit viel Verkehr und Feinstaub. Und Schrottimmobilien. Für mich aber in der Rückschau allemal besser als das Marketinggetöse rund um die Arena im Berger Feld.
Hier hatte Kuzorra in der Vereinskneipe bis zu seinem Tod einen Ehrenplatz. Vor Heimspielen wird in einer der vielen Kneipen vorgeglüht, ehe man mit der Linie 302 zur Arena rappelt. In der Arena gibt es Bier nur noch bargeldfrei, mit der "Knappenkarte". Praktisch, aber für Traditionsfans eine Zumutung.

Der Bundesligaskandal in den 70ern

An der Wende zu den 1970er-Jahren ging ich studieren: Erst nach Marburg, später nach Berlin. Westberlin. Die Besuche auf Schalke wurden spärlicher. Zwischen den Semestern suchte ich mir Ferienjobs in der Heimat. Oftmals Knochenarbeit in der Produktion, zum Beispiel im Gussstahlwerk Thyssen und in metallverarbeitenden Betrieben.
Einmal erklärte mir ein Meister, wie Schalker Siege und Niederlagen die wöchentliche Produktivität beeinflussten. Seine Diagramme wiesen eindeutig nach: Spielten die Knappen schlecht, brach die Produktion in der Folgewoche ein. Siegten sie, zeigte die Kurve nach oben.
Spielerisch läuft es in dieser Zeit für Schalke richtig gut. Eine junge Mannschaft mit klangvollen Namen: Nigbur, Rüssmann, die Kremers-Zwillinge, Fichtel, Libuda und Klaus Fischer. 1972 werden diese jungen Wilden Vizemeister und holen den DFB-Pokal. Dummerweise sind die meisten in den damaligen Bundesliga-Skandal verwickelt. Das ominöse verschobene letzte Spiel der Vorsaison gegen Arminia Bielefeld. Zwei der gefallenen Helden: Torjäger Klaus Fischer und Stan Libuda:
"Das war ein ganz dunkler Fleck in meiner Karriere, in der Karriere von den Spielern, die da beteiligt waren, in diesen Skandal reingeschlittert sind, ohne sich vorher Gedanken zu machen", sagt Klaus Fischer. Und Stan Libuda: "Ich hab mich ja so geärgert, dass ich da überhaupt mitgemacht hab. Ich war ja damals Kapitän auch noch. Ich wollte ja gar nicht."
Bellugi fällt, Fischer grätscht mit verzogenem Gesicht in seine Beine. 
Der deutsche Stürmer Klaus Fischer (unten) foult bei der WM in Argentinien 1978 den italienischen Abwehrspieler Mauro Bellugi. © UPI / dpa / Eggitt
Meine Kumpel und ich waren entsetzt. Wie dämlich muss man sein, um für lächerliche 2300 Mark seine Karriere zu gefährden? Einer der ersten, die gesperrt wurden, war Rechtsverteidiger Jürgen Sobieray. Mein einstiger Klassenkamerad Jürgen, mit dem ich in den frühen 60ern einige Jahre aufs Max-Planck-Gymnasium in Gelsenkirchen-Buer gegangen war.
Zum Glück für ihn wurde die Sperre bald verkürzt. 1974 war er – gemeinsam mit den Kremers-Zwillingen und Rolf Rüssmann – Gast in der ersten Ausgabe der ARD-Spielshow "Die Montagsmaler" mit Frank Elstner als Moderator:
"Handkuss!" – "Nein." – "Pflaster!" – "Nein." - "Verletzung!" – "Nein. Denken Sie doch mal an Spielerwechsel. Was kriegt man da?" – "Die Rote Karte?" – "Nehmen Sie mal an, Sie gehen zu einem anderen Verein." – "Ach, Handgeld!"
Auch in seinem späteren Leben nahm Jürgen es mit dem Gesetz nicht so genau. 2001 kassierte er wegen krummer Geschäfte eine dreieinhalbjährige Haftstrafe. Kürzlich erfuhr ich, dass "Soby" Ende März dieses Jahres im Alter von 70 Jahren gestorben ist.
Stan Libuda wurde nach Frankreich verkauft, zu Racing Straßburg, für 330.000 Mark. Damals der teuerste deutsche Spieler. Aber auch der Schüchternste. Wie es heißt, fühlte er sich dort wie im Exil, fuhr manchmal im Porsche über Nacht heim. In der Bundesliga wurde er zunächst lebenslang gesperrt, später begnadigt. 1974 – eingewechselt für die letzten sieben Minuten gegen Fortuna Düsseldorf – kam für ihn das Aus auf Schalke.
"Danach war für mich Schluss. Da hab ich auch keine richtige innere Kraft mehr gehabt, keinen Nerv, keine Lust mehr, Schluss", so Stan Libuda.

Die 1980er-Jahre im Parkstadion

Seit Beginn der Kohlekrise Ende der 50er-Jahre wurden nach und nach viele Zechen dichtgemacht. Das gleiche Schicksal widerfuhr 1973 der Glückauf-Kampfbahn. Willy Brandt propagierte den "blauen Himmel" über der Ruhr. Folgerichtig hieß die neue Spielstätte Parkstadion. Sie lag zwar nicht mehr im Stadtteil Schalke, fasste aber mehr als 70.000 Zuschauer. Eine zugige, charakterlose Betonschüssel. Ich mochte sie nicht besonders.
In den 80er-Jahren fielen die Leistungen der Schalker reichlich durchwachsen aus. 1981: erster Abstieg. Direkter Wiederaufstieg 1982, dann 1983 wieder Abstieg, 1984 erneut direkter Wiederaufstieg. Im selben Jahr spielten die noch zweitklassigen Schalker im Pokal-Halbfinale gegen Bayern München, vor 71.000 Zuschauern im Parkstadion.
"Ein märchenhafter Abend für den Fußball an sich, für Schalke, für Olaf Thon sowieso. 6:6 – ein unfassbares Ergebnis." – 4:4 nach 90 Minuten, 6:6 in der Verlängerung. Drei Tore des 18-jährigen Olaf Thon. Eines der größten Spiele der Vereinsgeschichte, auch wenn die Schalker durch ein 2:3 im Rückspiel ausschieden.
Der Gelsenkirchener Olaf Thon, Sohn eines Bergmanns, verkörperte noch mal den Traum des kleinen Mannes vom Aufstieg. Aber schon vier Jahre später war Schalke wieder zweitklassig, und Thon spielte im Trikot des FC Bayern.
Im Parkstadion - oder was davon übrig blieb
Fußballspieler Olaf Thon im Parkstadion – oder was davon übrig blieb.© Deutschlandradio / Doktor
In dieser Phase nahm ich die Bundesliga nur noch flüchtig wahr, meist bei der Lektüre des Sportteils der Tageszeitung. Berufliche Anforderungen waren für mich wichtiger. Das sollte sich auch in den 90er-Jahren kaum ändern. Seit 1992 war S04 wieder im Oberhaus. Fünf Jahre später dann der bislang größte sportliche Triumph der Knappen: "Da ist das Ding und der FC Schalke hat es. Der FC Schalke ist Sieger im UEFA-Pokal 1996/97."

"Meister der Herzen"

Zwischen dem größten Triumph und der größten Tragödie lagen gerade mal vier Jahre. So nahe dran an der achten Meisterschaft wie 2001 war Schalke nie wieder. Vier Minuten Illusion, dann das bittere Erwachen. Der zweifelhafte Titel eines "Meisters der Herzen" konnte mich lange nicht trösten. Auch nicht die beiden aufeinanderfolgenden Siege im DFB-Pokal 2001 und 2002.
"Es gibt gewisse Dinge im Fußball, die sind nicht beeinflussbar", sagt dazu Rudi Assauer. "Wir haben alles dafür getan, um Deutscher Meister zu werden. Wir sind, Gott sei Dank, ein toller zweiter Vizemeister geworden."
Der frühere Schalke-Manager Rudi Assauer blickt in eine Kamera.
Manager-Legende von Schalke 04: Rudi Assauer.© dpa / picture alliance / Revierfoto
Architekt der letzten sportlichen Erfolge zur Jahrtausendwende war zweifellos Rudi Assauer. Mit seinem Namen verbinde ich die Einführung moderner Vereinsstrukturen, allerdings auch eine riskante Finanzpolitik, bei der zur Tilgung hoher Kredite schon mal künftige Bundesliga-Einnahmen an Gläubiger verpfändet wurden. Auch die Entscheidung für Hauptsponsor Gazprom sorgte bei einem Teil der Fans für Irritation. Spätestens seit Beginn der Ukraine-Krise empfinden viele das Bündnis mit dem russischen Staatskonzern als heikel.

Arena und Pütt-Folklore

Assauers sichtbarstes Erbe dürfte die 2001 eingeweihte Arena bleiben. Bei meinem ersten Besuch in diesem Raumschiff wurde mir so richtig klar, was die Bundesliga in Zeiten des Turbo-Kapitalismus auch ist: ein Mix aus Hochleistungssport und Showbiz, der oft in seltsamem Kontrast steht zu den Gefühlen, die Traditionsfans dabei empfinden.
Wenn bei Abendspielen vor ausverkauftem Haus und einem Meer von brennenden Feuerzeugen oder Handy-Lampen das "Steiger-Lied" angestimmt wird, kommen selbst einigermaßen unsentimentalen Menschen, die die inszenierte Malocher-Kultur für Pütt-Folklore halten, gelegentlich die Tränen. Wie zum Beispiel am 20. Dezember 2018, als zwei Tage vor der Schließung der letzten Revierzeche Prosper Haniel in Bottrop die Kumpel von einem Bergmannschor und den Arena-Besuchern verabschiedet wurden.
Die Veltins-Arena in Gelsenkirchen.
Modernes Raumschiff und Sinnbild für die "Geldmaschine" Fußball: die Veltins-Arena in Gelsenkirchen.© dpa-news / Guido Kirchner
Benannt ist die Arena bekanntlich nach der Sauerländer Brauerei, für die Assauer mit seiner damaligen Freundin, der Schauspielerin Simone Thomalla, einige witzige Werbespots drehte: "Nur gucken, nicht anfassen!"

Das Revier-Derby

Von den schwarz-gelben Rivalen aus Dortmund beziehungsweise – wie Schalker Hardcore-Fans gelegentlich lästern: Lüdenscheid-Nord – wird der Spruch längst hämisch gemünzt auf vergebliche Schalker Versuche, doch noch mal die Hand auf die Meisterschale zu legen. Dass der Fußball im Pott mehr noch als anderswo identitätsstiftend ist, wer wollte das bestreiten? Alte Revierweisheit: Die Partei kannst du wechseln, den Verein nie!
Geht es nur nach Zuschauern, führen Dortmund und Schalke seit Jahrzehnten die Tabelle an. Fast immer ist die Hütte voll, ob sie nun Westfalenstadion oder Arena auf Schalke heißt. Bei aller Rivalität wissen beide Klubs, was sie aneinander haben. Kevin Großkreutz, in Diensten des BVB einst militanter Schalke-Hasser, vor dem letzten Derby im Februar dieses Jahres: "Ich bin kein Mensch, der einfach, wenn einer auf dem Boden liegt, noch mal darauf tritt."
Soweit ist es gekommen: Mitleid eines ehemaligen Dortmunders – was für eine Demütigung! "Das Derby fehlt natürlich im Ruhrpott dann. Für alle ist das das größte Spiel. Das würde nicht nur im Ruhrpott, das würde ganz Deutschland fehlen."
Marco Reus (BVB) in einer Aktion gegen Daniel Caligiuri (Schalke).
Das 95. Revierderby zwischen Schalke 04 und dem BVB Borussia Dortmund 2019 endete 0:0.© imago images / Horstmüller
Recht hat er. Erinnerungen an den 13. Spieltag der Saison 2017/18: Nach dem 4:0 für den BVB in der 25. Minute hatte ich frustriert meine Stammkneipe verlassen. Den weiteren Spielverlauf verfolgte ich zunächst missmutig mit einem Ohr zu Hause am Radio. Dann die Schalker Aufholjagd. Spätestens nach dem zweiten blauweißen Gegentreffer eilte ich zurück in den Pub.
"Konoplyanka, vierte Minute der Nachspielzeit. Und Naldo! Einfach nur noch irre, dieses Fußballspiel, dieses Revierderby. Aus Schalke 04 wird Schalke 4:4."
Für Dortmunder und Schalker gleichermaßen deprimierend: Wer nach 2011 geboren wurde, also jetzt allmählich in die Pubertät kommt, kennt nur einen Meister: die Münchner Bayern.
Auch nach Assauers erzwungenem Abgang 2006 spielte Schalke noch eine Weile erfolgreich. Es reicht sogar noch einmal zu einem Titel. 2011 werden die Knappen zum fünften Mal in ihrer Historie DFB-Pokalsieger: "Und dann ein solcher Ballverlust. Huntelaar braucht lange, bis er sich zurechtstellt: 5:0."

Der letzte Titel

Beim souveränen 5:0 über den MSV Duisburg trat eine All-Star-Mannschaft an, wie es sie in dieser Qualität danach nicht mehr gab: Neuer, Höwedes, Metzelder, Papadopoulos, Farfan, Draxler, Raúl, Huntelaar, Jurado. Das letzte Spiel von Manuel Neuer im Dress der Königsblauen.
Neuer, der über unsere gemeinsame Heimatstadt Gelsenkirchen-Buer einmal gesagt hatte, sie sei so etwas wie das "Monaco des Ruhrgebiets", wenn auch ohne direkten Meereszugang.
Im selben Jahr schafften es die Knappen bis ins Halbfinale der Champions League. Im Viertelfinale eliminierten sie den amtierenden Titelträger Inter Mailand mit zwei Siegen, darunter ein 5:2 in Mailand.
Raúl und Benedikt Höwedes freuen sich über den Einzug ins Halbfinale der Champions League.
Raúl und Benedikt Höwedes freuen sich über den Einzug ins Halbfinale der Champions League.© picture alliance / dpa
Auch Kommentator Wolf-Dieter Fuss läuft zu Höchstform auf: "Kein Abseits von Raúl, Raúl, Rauuuul! 53. Minute, es steht 2:3. Das ist ein Hammer, Freunde! Der Pott zieht blank!"
In jenen Tagen erwachte bei vielen Fans die Hoffnung, dass Rudi Assauers Optimismus doch noch einmal wahr werden könnte. Der hatte sich einst im Sporttalk "Doppelpass" bei Jörg Wontorra zu einer riskanten Prognose hinreißen lassen: "In der Tat werde ich es noch erleben, dass Schalke 04 in den nächsten Jahren Deutscher Meister wird. Ich werde es noch erleben."

Keine nachhaltige Strategie

Doch in dieser erfolgreichen Phase versäumt es der Klub, eine nachhaltige Strategie zu entwickeln. Nach der Entlassung Assauers folgen fünf Sportvorstände. Ständig neue Konzepte und neue Trainer destabilisieren den Klub. Eine entscheidende Zäsur ist die Entlassung von Manager Horst Heldt und seine Ablösung durch Christian Heidel am Ende der Saison 2015/16. Angetrieben vom ehrgeizigen Tönnies wird jetzt versucht, den Erfolg finanziell zu erzwingen. Immer neue Spieler werden verpflichtet, auch solche, die nicht zum Verein passen. Dabei wächst die Schuldenlast.
Der Widerspruch zwischen dem gern gepflegten Malocher-Image und der kruden Gegenwartsrealität könnte größer nicht sein: Heraus kommt schließlich – so empfinden es viele Fans – eine überwiegend wild zusammengekaufte Söldnertruppe von Spielern, die direkt nach dem Training in ihren Sportwagen nach Düsseldorf abrauschen, die sich kaum noch mit dem Klub identifizieren.
Die Veltins-Arena in Gelsenkirchen von oben
Kaum noch ein Spieler, der im Stadion für Schalke aufläuft, kommt noch aus der Region. © imago sportfotodienst / Mario Hommes
"Schalke damals, zu meiner Zeit, das waren Spieler, die aus Schalke direkt oder aus der Umgebung kamen. Ich sag mal bis Wattenscheid, 15, 20 Kilometer Entfernung. Heute spielt ja kaum noch ein Schalker hier", sagte schon vor Jahren Karl-Heinz "Kalle" Bechmann, heute 77, der in den 60ern mit Jugendfreund Stan Libuda noch in der Glückauf-Kampfbahn für Schalke auflief.
Lang ist es her. Der jetzige Absturz bedeutet das definitive Scheitern des Projekts, den Klub mit sehr viel Geld dauerhaft in der europäischen Spitze zu etablieren, auf einem Level mit den Bayern und dem BVB.
Verantwortlich dafür: Größenwahn und Verschwendung, Selbstüberschätzung und die weitgehend unkontrollierte Alleinherrschaft eines geltungssüchtigen Milliardärs. Die Folgen für Image und Finanzen dürfte Schalke noch jahrelang spüren.
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