Nie mehr Holzklasse

Von Astrid Freyeisen |
Der Industriegürtel um die Stadt Shenzhen gehört zu den wirtschaftlich dynamischsten Regionen Chinas. Dort haben auch Global Player wie Foxconn Niederlassungen eingerichtet. Manch ein Ökonom glaubt nun, dass damit das Ende Chinas als weltgrößte Billiglohnfabrik gekommen ist.
Breite Netze an den Gebäudefassaden, hohe Zäune auf den Dächern – die Selbstmordserie hat Spuren hinterlassen in der riesigen Fabrikstadt von Foxconn in Shenzhen – unweit von Hongkong. Zudem hat der weltgrößte Elektronikhersteller den Grundlohn seither verdoppelt, um die Arbeiter von bis zu 100 Überstunden im Monat zu befreien. Die Reaktion der Arbeiter:

"Ich glaube nicht, dass mir das was bringt. Außerdem wird der Lohn ja erst nach einer dreimonatigen Leistungsprüfung erhöht. Die werde ich vielleicht nicht schaffen. Die meisten von uns Arbeitern sind hier, um schnell Geld zu verdienen. Wir wollen Überstunden machen. Es haben sich doch nur wenige umgebracht."

Zehn junge Arbeiter der Fabrik von Foxconn in Shenzhen stürzten sich seit Jahresbeginn bis Ende Juni in den Tod. Im Mai wurde dies erst in China zu einem Skandal, dann in der ganzen Welt. Erstens, weil der taiwanesische Elektronikriese zu den teuersten 500 Unternehmen der Welt gehört. Zweitens, weil er für wichtige Elektronikmarken wie Dell, Nokia und Apple produziert – auch das Kult-Handy Iphone.

In Hongkong gingen Tausende auf die Straßen und nannten Foxconn einen unmoralischen Arbeitgeber. Vor der Firmenzentrale in Taiwan trauerten Demonstranten um die Toten und forderten lautstark, dass Foxconn die Verhältnisse in seinen Fabriken auf dem chinesischen Festland verbessere. Angesichts des öffentlichen Drucks sah sich Konzernchef und Multimilliardär Terry Guo gezwungen, sein Werk persönlich zu inspizieren. Verblüffte Reporter durften in Shenzhen beobachten, wie der Chef seine Manager anschrie. In einer Pressekonferenz verbeugte sich Terry Gou tief, sichtlich mitgenommen:

"In meinem Nahmen und für meine Firma möchte ich in aller Höflichkeit um Verzeihung bitten: Gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber allen meinen Mitarbeitern und den Familien der Opfer. Wir haben versagt, wir haben jenen nicht geholfen, die psychische Probleme bekamen, weil sie sich bei uns schlecht behandelt fühlten. "

Terry Gou versprach, alles zu tun, um die Selbstmordserie zu stoppen. Er pfiff seine Manager zurück: Die hatten den Arbeitern einen Brief geschrieben, in dem diese sich verpflichten mussten, keinen Selbstmord zu begehen. Allein dass es einen solchen Brief gegeben hatte, zeigt das Grundproblem im Iphone-Werk: Die Einstellung der Führungsriege gegenüber den Arbeitern. Ein junger Foxconn-Manager erzählt:

"Die Arbeiter dürfen nicht miteinander sprechen. Wer das trotzdem tut, wird bestraft. In einem Schlafsaal leben acht Arbeiter der verschiedensten Abteilungen. Viele kennen nicht mal die Namen ihrer Zimmergenossen. In vielen Abteilungen sind Handys verboten. Aber heutzutage sind Handys die wichtigste Kommunikationsquelle. Ohne sie ist das Leben sehr unangenehm, geradezu sinnlos. Man ist wie abgetrennt vom Rest der Welt. "

Fast eine halbe Million Menschen arbeiten in der Fabrikstadt von Foxconn in Shenzhen, an jenem Ort im südchinesischen Perlflussdelta, wo vor 30 Jahren das chinesische Wirtschaftswunder begann. Shenzhen ist eher eine schier endlose Landschaft aus unzähligen Gewerbegebieten als eine Stadt. Mit Menschen, die aus allen Teilen des Landes kamen, um schnell möglichst viel Geld zu verdienen, das sie nach Hause zu ihren Familien schicken können. Die Arbeiter kaufen die täglichen Dinge des Lebens in kleinen Geschäften rund um die Fabriken. Bei Foxconn erkennt man sie an ihren dunkelblauen, weißen und roten Poloshirts. Sie sagen, der Skandal habe ihr Leben etwas verändert:

"Bei uns ging es sehr streng zu. Jetzt spielen sie in den Werkhallen Musik, damit wir uns ein bisschen entspannen. Ich arbeite von acht bis acht. Das ist schon okay, besser als früher. Jetzt haben wir eine Stunde Mittagspause. Früher waren es nur 45 Minuten. Das Essen hat sich auch verbessert. Die Manager sind nicht mehr ganz so streng. Aber einige der Aufgaben sind wirklich nicht für Menschen gemacht. Die Leute gehen morgens in ihren dunkelblauen Shirts zur Arbeit. Und wenn sie abends zurückkehren, sind sie mit weißem Staub bedeckt. Und total müde. Dabei ist Foxconn noch immer besser als andere Firmen, was Arbeitszeiten und Sozialleistungen angeht."

Foxconn stellt hauptsächlich Teenies ab 16 ein, die Ältesten sind 25. Wer vor Foxconn woanders gearbeitet hat, lobt die Firma meist auch für die Sicherheit am Arbeitsplatz. Aber das genügt offenbar nicht:

"Ich habe vor ein paar Wochen gekündigt, nach zwei Monaten. Es war zu anstrengend, zehn, elf Stunden täglich. In anderen Fabriken geht’s ähnlich zu. Foxconn ist sogar besser als die meisten anderen. Trotzdem will ich nach Hause aufs Land zu meiner Familie. Hier kann ich doch nicht genug verdienen. Wir sind alle noch jung. Wir wollen Spaß haben. "

Chinas führender Arbeiterrechtler Liu Kaiming ist überzeugt, dass so die Mehrheit der jungen Generation von Wanderarbeitern denkt.

"Die Arbeiter wollen sich nicht mehr länger alles gefallen lassen: Die strengen Vorschriften, die Beleidigungen durch das Management und die langen, roboterhaften Stunden an den Werkbänken. Der Großteil des chinesischen Wirtschaftswachstums wurde von diesen Wanderarbeitern erzeugt. Die meisten von ihnen, etwa 90 Millionen, sind unter 30 und kommen vom Land. Ihre Vorstellungen von Arbeit und Rechten, von Stadt und Land unterscheiden sich sehr stark von denen der Vorgängergeneration. "

Diese Chinesen hatten noch Maos Kampagnen durchlitten, den großen Sprung nach vorne und die Kulturrevolution, Missernten und Hungersnöte. Sie freuten sich über einmal Reis im Monat und einmal Fleisch im Jahr, als Festessen zu Chinesisch Neujahr. Diese Zeiten sind vorbei. Obwohl in China auf dem Land fließendes Wasser in den Bauernhäusern noch immer nicht selbstverständlich ist, hat der Wirtschaftsboom die bitterste Armut von Hunderten Millionen Menschen beseitigt. Die Hoffnung auf Wohlstand, auf eine Chance für jene, die hart waren im Nehmen, schienen bislang Industriezentren wie Shenzhen oder Shanghai und das Yangzi-Delta zu bieten. Doch Liu Kaiming zweifelt:

"Meine Recherchen zeigen, dass im Perlflussdelta und im Yangzi-Delta ein durchschnittlicher Wanderarbeiter umgerechnet 190 Euro verdient. Er schuftet dafür 66 Stunden die Woche. Diese beiden Industrieregionen Perlfluss- und Yangzi-Delta machen nicht einmal zwei Prozent der Landfläche in China aus, aber 40 Prozent der Wirtschaftsleistung, über die Hälfte aller Steuereinnahmen und 60 Prozent des Exports unseres Landes. Das meiste davon erwirtschaften Wanderarbeiter. Um vier Personen ernähren zu können, müsste ein solcher Arbeiter in den Zentren 40 Euro mehr verdienen, als dies der Fall ist. Nämlich über 230 Euro. Es gibt in China aber immer noch Orte, in denen der gesetzliche Mindestlohn gerade mal 80 Euro beträgt. Das ist extrem wenig. "

Deshalb sind die Arbeiter bereit, so viele Überstunden wie möglich zu machen. Deshalb fällt es den Teenies bei Foxconn auch so schwer zu glauben, dass die angekündigten Lohnerhöhungen ihnen wirklich einen Vorteil bringen würden. Riesenfirmen wie eben Foxconn sind finanziell immerhin in der Lage, ihrer Belegschaft auf einen Schlag erheblich mehr Geld zu zahlen. Für kleinere Betriebe ist dies ein Problem. Die Fabrik von Frank Jäger stellt im Perlflussdelta Industriekabel her.

Frank Jäger sagt, der Skandal um Foxconn fache einen Konkurrenzkampf unter Arbeitgebern um die besten Kräfte an. Was die Lage nach der Finanzkrise noch schwieriger mache für einen Mittelständler wie ihn.

Auch Liu Kaiming beobachtet schon seit 2004 den Trend, dass Arbeitskräfte immer knapper werden. Seit Herbst 2009 habe sich dieser noch verstärkt, auch wegen dem Konjunkturprogramm der Regierung. Die kurbelte als schnellstes Mittel gegen die Krise Bauprojekte an, vor allem im unterentwickelten Hinterland. Das Kernproblem der chinesischen Wirtschaft sei damit aber nicht beseitigt, findet Liu. Es sitze viel tiefer:

"China hat keinen technologischen Vorteil, auch keinen Vorteil des großen Markts. Der einzige Vorteil ist die billige Arbeitskraft. In den letzten 30 Jahren ist die chinesische Wirtschaft doppelt so schnell gewachsen wie die Weltwirtschaft. Trotzdem leben 60 Prozent der Chinesen noch immer von weniger als 5 US-Dollar am Tag. Das ist unglaublich. "

Beim asiatischen Wirtschaftsforum in Boao auf der Insel Hainan war dies im Frühjahr Thema einer Diskussionsrunde. Chen Zhiwu, aus China stammender Wirtschaftsprofessor der amerikanischen Elite-Uni Harvard sagte:

"Die chinesische Regierung arbeitet mit dem Reichtum. Wie legen sie ihn an? Es ist entscheidend, auch über die Verteilung von Reichtum zwischen der Regierung und anderen sozialen Gruppen zu sprechen. Nach meinen Berechnungen haben sich die Einnahmen der Regierung seit 1995 verzehnfacht. In derselben Zeitspanne haben sich die Einnahmen der Bewohner in chinesischen Städten nur etwas mehr als verdoppelt. Mein Vorschlag: Alle Anteile von Staatsbetrieben sollten in einen Treuhandfond für die chinesischen Bürger gegeben werden. Jeder Bürger bekäme eine Abrechnung, wie viel er von dem Fond jährlich zu bekommen hat. Dies würde die Leute zum Geldausgeben bewegen. "

Der Direktor des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts Fan Gang widersprach:

"Ich finde nicht, dass der Staat überhaupt viel tun sollte. Es wird immer viel über Regierungshilfen und Subventionen geredet. Ich halte das nicht für richtig. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Wenn man bestimmte Preise, auch die Lohnkosten zu früh anhebt, könnten viele Leute ihre Jobs verlieren. Man sollte sich anschauen, was in anderen Entwicklungsländern in Südamerika passiert ist und daraus lernen. "

Für Arbeiterrechtler Liu Kaiming dreht sich das Problem nicht nur um die riesige Kluft zwischen Arm und Reich in China. Er sieht alle in der Pflicht: Die chinesische Regierung, die Firmen und ihre Kunden in der Welt. Bei Foxconn sind das unter anderem Dell, Nokia und Apple:

"Sie haben die Pflicht dafür zu sorgen, dass an ihren Produkten kein Blut klebt. Am iPhone klebt Blut. Konsumenten sollten mehr Druck ausüben, auch mit Boykotten. "

Im chinesischen Internet wird diskutiert, ob Foxconn ein krasser Einzelfall ist - oder doch typisch für die Zustände in der chinesischen Zulieferindustrie für die großen globalen Marken.

"Unser Wirtschaftswachstum dient nur der Regierung, der kommunistischen Partei und dem Militär. Die Arbeiter werden diskriminiert. Sie dürfen ihre Familien nicht in die Städte holen. Sie haben keine politischen Rechte, damit sie nicht protestieren oder verhandeln können. "

Im kommunistischen China ist ein Dokument entscheidend: Die Bescheinigung über den Wohnsitz, genannt Hukou. Gewöhnlich wird dieses Dokument dort ausgestellt, wo der Mensch aufgewachsen ist. Zieht er auf der Suche nach Arbeit in andere Teile des Landes, bleibt er am ursprünglichen Wohnort gemeldet. Nur dort hat er Anspruch auf soziale Leistungen. Liu Kaiming fordert:

"Als Erstes muss das Hukou-System abgeschafft werden. So könnten öffentliche Dienstleistungen auch innerhalb von Fabriken wie Foxconn angeboten werden. Dies würde die Fabriken von Gefängnissen zu Städten machen. Wenn nur die Hälfte der Arbeiter mit ihren Familien leben dürfte, wenn sie Freundschaften schließen und einen Sinn für Gemeinschaft entwickeln könnten, wären viele Probleme bereits gelöst. "

Die Zukunft des Hukou-Systems wird auch in der Spitze der Regierung diskutiert. Über große Reformen ist aber noch nicht entschieden. Derweil verändert der Foxconn-Fall die Lage. Immer mehr chinesische Fabrikarbeiter streiken für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Bei Zulieferern von Honda, Toyota oder der japanischen Nähmaschinenfabrik Brother. Auffallend ist, dass es vor allem Firmennamen trifft, die nicht aus der Volksrepublik stammen. Geoffrey Crothall von der Hongkonger Arbeiterrechtsorganisation China Labor Bulletin sagte Anfang Juni:

"Es ist okay, schlechte Nachrichten über eine ausländische oder taiwanische Firma wie Foxconn zu verbreiten, aber nicht über eine chinesische Firma, das wäre schlecht fürs nationale Image. Dabei gibt es gerade einen Streik in Henan von 5000 Arbeitern in einer Baumwollspinnerei, bei der nicht ganz klar ist, ob sie nicht sogar in Staatsbesitz ist. Auch dort geht es um höhere Löhne und Sozialleistungen. "

Streiks sind in China eigentlich verboten, weil sie nach kommunistischer Lesart ja überhaupt nicht nötig sind. Bisher wurden Streikende deshalb von der Polizei fast immer zügig auseinandergetrieben. Anders im Fall Honda, wo sich junge Arbeiter nicht nur nicht einschüchtern ließen, sondern sogar einen renommierten Professor aus Peking als Rechtsberater gewinnen konnten. Ganz bewusst setzten sie nicht auf die Vertreter der staatlichen Einheitsgewerkschaft in ihrer Firma. Für Liu Kaiming zeigt auch dies, wie selbstständig die neue Generation denkt.

"Im Honda-Streik hat man die Einheitsgewerkschaft kaum wahrgenommen. Die Streikenden bewiesen viel Klugheit. Als die ersten von ihnen gefeuert wurden, haben sie keine Anführer vorgeschickt. Stattdessen haben sie alle Masken getragen, damit der Arbeitgeber sie nicht erkennt. Sie haben auch darüber geredet, wie unzufrieden sie mit der Gewerkschaft sind. "

Liu Kaiming findet dies zwar ermutigend, wird aber nicht enthusiastisch. Solange die Partei die Gewerkschaften als Instrument der Kontrolle sehe, werde sich nicht viel ändern:

"Ein paar Streiks wie der bei Honda werden das lange bestehende, korrupte System nicht erschüttern. Aber: Ökonomische Anpassungen verwandeln sich in politische Anpassungen. Die neuen Arbeitnehmer brauchen politische Teilhabe, um ihre Rechte schützen zu können. aber die kommunistische Partei monopolisiert die Macht durch Organisationen wie die Gewerkschaft. Und man sieht noch kein Zeichen, daß die Regierung bereit wäre, daran irgendetwas zu ändern. "

Als der Skandal bei Foxconn immer größer wurde, erwog die Firma kurz, einen Teil der Produktion nach Taiwan zu verlegen. Dann jedoch entschied sich der Elektronikriese für einen anderen Plan: Er will nun in der Armutsprovinz Henan ein Werk für 300.000 Mitarbeiter aufbauen.
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