Nida-Rümelin über die EU-Grenze

"Dieser Kontrollverlust darf sich nicht wiederholen"

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Der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Porträt vor schwarzem Hintergrund.
Philosoph Julian Nida-Rümelin: "Es ist unklar, wie es weitergehen soll mit den syrischen Flüchtlingen in der Türkei, weil Europa sich ziert, mit der Türkei eine vernünftige Kooperation fortzusetzen." © imago / C. Hardt / Future Image
Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 04.03.2020
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Angesichts der aktuellen Situation von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze betont der Philosoph Nida-Rümelin, dass unkontrollierte Arbeitsmigration zum Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme führen würde.
Angesichts der Situation an der türkisch-griechischen Grenze lehnt der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin offene Grenzen ab. Die Lage von Flüchtlingen sei dabei anders zu bewerten als die von Arbeitsmigranten, sagt er in unserem Programm.
Nida-Rümelin weist darauf hin, dass im Vergleich zur Flüchtlingssituation im Jahr 2015 heute "quer durch alle Parteien" die Einsicht gewachsen sei, dass ein globaler ungeregelter Arbeitsmarkt den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme bedeuten würde sowie einen politischen Kontrollverlust, "der am Ende sogar zu politischen Zuständen führt, die wir hoffentlich nie mehr erleben, nämlich eine Erosion der Demokratie".

"Die Grenzen waren gewissermaßen formal offen"

Die Frage, ob Kanzlerin Merkel die Grenze für Flüchtlinge im September 2015 geöffnet habe oder durch die Bundespolizei nicht habe schließen lassen, sollte man auf sich beruhen lassen, meint der Philosoph.
"Das ist juristisch eine interessante Sache, die Grenzen waren gewissermaßen formal offen."
Auch dass Deutschland den in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen geholfen habe, sei eine "sehr vernünftige Entscheidung gewesen", betont Nida-Rümelin. Weniger vernünftig sei die Rhetorik gewesen.
"Wir haben eine sehr hohe moralische Pflicht zu helfen", sagt Nida-Rümelin. "Die Frage ist, ob es vernünftig ist zu helfen, indem wir jetzt das Signal geben, die Grenzen sind von europäischer Seite offen, ihr seid willkommen, refugees welcome".
Die Flüchtlingskrise von 2015 sei weitgehend überwunden, die Kontrolle wieder hergestellt. "Das heißt: Dieser Kontrollverlust darf sich nicht wiederholen. Und ich glaube, das hat auch die Kanzlerin zuletzt sehr deutlich so gesagt."
(huc)

Das Interview mit Julian Nida-Rümelin im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Nach allem, was wir wissen von unseren eigenen Korrespondenten vor Ort, hält die EU-Außengrenze diesmal dicht. Zum einen ist die sogenannte Balkanroute – anders als 2015 – ohnehin verschlossen, mit Zäunen und Stacheldraht, zum anderen sind Frontex und der griechische Grenzschutz diesmal bereit, Gewalt anzuwenden gegen die heimatvertriebenen syrischen Flüchtlinge. Ist es unmenschlich, hilfsbedürftige Familien abzuweisen? Das frage ich den Münchner Philosophen und ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Hätte das reiche Europa nicht die Pflicht, diesen Menschen die Hand zu reichen?
Julian Nida-Rümelin: Also das reiche Europa hat auf jeden Fall eine Pflicht, sich dort zu engagieren. Es ist ja engagiert in der Region mit zahlreichen Maßnahmen, auch militärischen Stützungen, Ausbildungsstätten und so weiter. Es war beteiligt an den Konflikten in der MENA-Region, wie man das so nennt, Middle East und North Africa, also diese ganze arabische, islamische Region Nordafrikas und des Mittleren Ostens.
Europa ist der Nachbarkontinent. Lange Zeit hat sich dieser Nachbarkontinent irgendwie darauf verlassen, die USA wird schon diese internationalen Dinge im Wesentlichen regeln, vielleicht für Europa. Das ist nicht mehr der Fall.

"Die Krise hatte eine Vorgeschichte damals"

Karkowsky: Aber das ist die große Politik. Jetzt stehen Menschen vor der Grenze, darunter hungernde Familien mit kleinen Kindern. Sollte Griechenland die nicht durchlassen, die Kranken, die Entkräfteten, als humanitäre Nothilfe?
Nida-Rümelin: Nein. Was Europa tun sollte, ist helfen. Die Krise ist ausgelöst worden, da gilt genau dasselbe Muster im Grunde wie 2015, 2016. Die Krise hatte eine Vorgeschichte damals, nämlich, dass unter anderem europäische Länder ihre Hilfszusagen nicht eingehalten haben. Das ist ja der Auslöser der jetzigen Krise.
Es ist unklar, wie es weitergehen soll mit den syrischen Flüchtlingen in der Türkei, weil Europa sich ziert, mit der Türkei eine vernünftige Kooperation fortzusetzen. Das ist die entscheidende Herausforderung. Das heißt, jetzt ist es nicht so, dass die Flüchtlinge, die nicht anders können, als nach Europa zu gehen, auf einmal nach Europa kommen, sondern über drei Millionen leben in der Türkei. Das hat bislang gut funktioniert, sie haben die Möglichkeit, Schulen zu besuchen, sie sind auch, was zum Beispiel Gesundheit angeht, so weit man weiß, ziemlich gut versorgt in der Türkei. Das gilt nur für syrische Flüchtlinge, nicht für afghanische Flüchtlinge. Und jetzt sagt die Türkei zweierlei, eines hochproblematisch: Ihr müsst uns im Konflikt in Syrien militärisch helfen. Hochproblematisch. Und das andere, absolut berechtigt: Helft uns zur Bewältigung dieser Flüchtlingskrise in der Türkei. In der Türkei sind Syrer nicht verfolgt.
Karkowsky: Sie haben 2017 bereits ein Buch veröffentlicht, ein weit vorausschauendes zum Thema, mit dem Titel "Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration", und darin lehnen Sie das Konzept der offenen Grenzen ab. Sehen Sie das alles noch heute genauso wie vor drei Jahren?
Nida-Rümelin: Ja, ich würde umgedreht sagen, damals stieß ich auf viel Widerstand, heute nicht mehr. Und zwar quer durch alle politischen Parteien ist die Einsicht gewachsen, dass ein globaler, ungeregelter Arbeitsmarkt, nennen wir das jetzt mal so, … Flüchtlingssituation in Syrien, Bürgerkrieg ist noch mal ein Sonderfall. Aber wenn man an die Migration aus dem subsaharischen Afrika etwa denkt oder aus Südamerika in die USA oder nach Kanada, überwiegend Arbeitsmigration: Das heißt, Menschen haben gute Gründe, zu sagen: 'Ich will in anderen Regionen, wo ich besser Geld verdienen kann, wo ich für meine Familie mehr tun kann, dort will ich leben und arbeiten.' Und die Attitüde war sehr weit verbreitet: 'Na, dann öffnen wir doch die Grenzen, dann lassen wir das doch zu.' Und unterdessen ist die Einsicht gewachsen, dass das den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme bedeuten würde und einen Kontrollverlust, der am Ende sogar zu politischen Zuständen führt, die wir hoffentlich nie mehr erleben, nämlich eine Erosion der Demokratie.

"Frage der Grenzöffnung auf sich beruhen lassen"

Karkowsky: Die Frage ist nur: Haben uns denn wirklich diese eine Million Flüchtlinge, die 2015 kamen, geschadet? Die Bundeskanzlerin wird ja bis heute verleumdet, sie habe die Grenzen geöffnet. Dabei hat sie und ihr Innenminister de Maizière ja nur die offenen Grenzen nicht geschlossen, also nicht von der Bundespolizei verteidigen lassen. Die Kanzlerin hat gesagt 'Wir schaffen das', das hat sie später bereut, diesen Satz. Aber haben wir es nicht geschafft?
Nida-Rümelin: Na ja, also wenn diese sechs Monate sich fortgesetzt hätten, das waren sechs Monate, September bis März 2016, dann ist wohl allen klar, dass diese Flüchtlingskrise nicht mehr zu bewältigen gewesen wäre. Das Ende dieser Flüchtlingskrise, ab dem März 2016 geht das massiv zurück, hat zwei Gründe. Das eine ist die sogenannte Schließung der Balkanroute, viel kritisiert, auch von Deutschland, und das Zweite war der EU-Türkei-Pakt, der im Grunde ein Merkel-Erdogan-Pakt war, der insgesamt gut funktioniert hat bis in die letzten Monate hinein und der jetzt unbedingt wieder erneuert werden muss – also keine Legendenbildung.
Und die Frage Grenzöffnung, vielleicht sollten wir das auf sich beruhen lassen. Das ist juristisch eine interessante Sache, die Grenzen waren gewissermaßen formal offen. Aber es ist ja was passiert in dieser Nacht. Es hat ja eine Entscheidung gegeben, eine sehr vernünftige Entscheidung, nämlich, gestrandeten Flüchtlingen in Ungarn zu helfen. Und dann die weniger vernünftige Rhetorik "Refugees welcome" in einer Welt, in der ein bis zwei Milliarden Menschen hoffen, dass sie in besseren Regionen leben können, ein bis zwei Milliarden Menschen von vielleicht zwei Dollar pro Tag leben. Das muss man sich mal vorstellen. Und die Lösung dieser Problematik über Migration ist absolut illusorisch.
Karkowsky: Also um das noch mal zusammenzufassen: Egal, welche Bilder uns jetzt erreichen von der türkisch-griechischen Grenze, das ist in Ordnung so, die Grenze muss zu bleiben und wir haben keine moralische Pflicht, zu helfen dort.
Nida-Rümelin: Wir haben eine sehr hohe moralische Pflicht zu helfen. Die Frage ist, ob es vernünftig ist, zu helfen, indem wir jetzt das Signal geben: Die Grenzen sind von europäischer Seite offen, ihr seid willkommen, "Refugees welcome". Diese Botschaft, bei der Millionen-Dimension, die das umfasst, sie umfasst nicht nur die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, sondern Afghanen, das umfasst Iraker, das umfasst die ganze nordafrikanische Region, das wäre absolut unverantwortlich, auch für die Betroffenen, für die Arbeitsmärkte der aufnehmenden Länder ebenfalls.
Wir haben eine Krise überwunden, weitgehend überwunden, da gebe ich Ihnen recht, weil sie eben unterdessen wieder unter Kontrolle ist. Das heißt, dieser Kontrollverlust darf sich nicht wiederholen. Und ich glaube, das hat auch die Kanzlerin zuletzt sehr deutlich so gesagt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken - Eine Ethik der Migration
Edition Körber 2017, 248 Seiten, gebunden 20 Euro
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