Debatte um Impfpflicht

Warum es kein Wohlfühlprogramm für alle gibt

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Illustration einer großen Hand mit Impfstoffspritze, die einen laufenden Mann jagt.
Ist eine Impfpflicht ein vermeintlich alternativloses Gebot oder werden hier Minderheitenrechte verletzt? © imago / fStop Images / Malte Müller
Nicole Deitelhoff im Gespräch mit Dieter Kassel · 23.11.2021
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In der Debatte um eine Impfpflicht gegen Corona darf sich die Politik nicht vor einer Entscheidung drücken, mahnt die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff. Allen recht machen könne man es sowieso nicht.
In der Diskussion um eine Impfpflicht und andere Corona-Maßnahmen zeichnen deren Gegner gern ein Bild von sich als verfolgter Minderheit. Doch auch die entschiedenen Befürworter härterer Corona-Beschränkungen fahren schwere Geschütze auf: Etwa wenn sie per se für sich beanspruchen, die Position der Vernunft innezuhaben, während die andere Seite egoistisch und gemeinschaftsschädigend handele.
Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff findet die Argumente beider Seiten problematisch. Sie ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.

Wer definiert, wer die Vernünftigen sind?

„Wer sagt, wer die Vernünftigen sind?“, hält sie den Befürwortern der Impfpflicht entgegen. Denn es gehe nicht um Vernunft oder Unvernunft, sondern um die Frage, wie sehr Rechte eingeschränkt werden dürfen – und eine Impfpflicht sei ein gravierender Eingriff. In Abwägung gegen die Nachteile und Risiken, die die Gesellschaft ansonsten tragen müsse, hält die Politikwissenschaftlerin diesen Eingriff allerdings für „vertretbar“.
Auch das Argument der Gegenseite, mit einer Impfpflicht würden Minderheitenrechte verletzt, ist für Deitelhoff nicht stichhaltig: Natürlich sei Minderheitenschutz ein „wirklich wichtiges Merkmal demokratischer Gesellschaften“, unterstreicht sie.
Damit sind allerdings „strukturelle Minderheiten“ gemeint, erklärt sie, nicht einfach Menschen, die die gleiche Meinung zu einem bestimmten Thema verbindet. Ihr fehle der Nachweis, dass es außer der Haltung zur Impfpflicht weitere Merkmale gebe, die diese Menschen über die Pandemie hinaus als Gruppe definierten.

"15 bis 20 Prozent sollten keine Sperrminorität haben, die verhindert, dass in diesem Land Politik gemacht wird."

Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff

„Wir haben es mit einer statistischen Zahl zu tun, über die wir letztendlich wenig sagen können. Und eine solche Zahl – 15 bis 20 Prozent – sollte natürlich keine Sperrminorität haben können, die sozusagen verhindert, dass in diesem Land Politik gemacht wird“, sagt die Politologin.

Politik kann es nie allen recht machen

Die Politik wiederum dürfe sich in dieser Situation nicht vor Entscheidungen drücken, so Deitelhoff weiter. Zumal die Konstellation, dass sich in einer Frage Mehrheit und Minderheit gegenüberstehen, ja nichts Ungewöhnliches ist:  
„Nur sehen wir es selten so deutlich. Wir sehen das nur bei so stark polarisierenden Themen, die wir gegenwärtig haben, mit der Frage Impfpflicht ja oder nein, wo wir so stark polarisierte Lager haben, die sich auch sehr lautstark bemerkbar machen. Dann merken wir erst, dass Politik natürlich nicht in der Lage ist, das Wohlfühlprogramm für alle zu beschließen, sondern im Grunde genommen alle leicht enttäuschen muss.“
Aber eben nur leicht: „Politik ist immer die Kunst, alle Bevölkerungsgruppen, die wir haben, mit ihren unterschiedlichen Interessen so weit zu enttäuschen, dass sie nichtsdestoweniger bei der Stange bleiben.“

Nicole Deitelhoff (*1974) ist Politikwissenschaftlerin und geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Außerdem ist sie Ko-Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt und hat seit 2009 eine Professur für internationale Beziehungen an der Universtität Frankfurt am Main inne.

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