Nichts soll tabu bleiben

Von Andreas Stummer · 12.03.2013
Es geschah in der Kirche, in Waisenhäusern, bei den Pfadfindern: In Australien wurden seit dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Kinder und Jugendliche psychisch und sexuell misshandelt. Nun soll eine Kommission das ganz Ausmaß der Vorfälle untersuchen - und das möglichst schonungslos.
Sonntag früh in der St. Aloysius Kirche von Cronulla, im Süden von Sydney. Die katholische Morgenandacht hat begonnen. Durch die schweren Bleiglasfenster des Backsteinbaus fällt gedämpftes Licht, Kerzen brennen, es riecht nach Weihrauch. In den Sitzreihen verlieren sich nur ein paar Dutzend Gläubige. Die Kirche ist halb leer.

Der Pastor predigt über die Versuchungen einer modernen Gesellschaft, über Internet-Mobbing, Schuld und Sühne. Anthony Jones ist mit seinen Gedanken ganz woanders. Hinter einer dunklen Sonnenbrille. Der 45-Jährige sitzt in der letzten Reihe, alleine und für sich. Statt zum Gebet die Hände zu falten, hält er seine Arme verschränkt. Zur heiligen Kommunion bleibt er sitzen. Früher half Anthony Jones dem Pfarrer dabei die Hostien auszugeben. Damals, als er in St. Aloysius noch Altarjunge war.

"I loved the music. I loved the pomp, the ceremony. I loved good liturgy. It spoke to my heart, I experienced God in that....."

Anthony Jones liebte die Kirche. Ihre Rituale, die Predigten, den Glauben. Er wollte Priester werden, so wie sein Vater und sein Onkel vor ihm. Bis zu einem regnerischen Abend im Januar 1982. Anthony, damals 13, half Vater Goodall, dem Pastor von St. Aloysius, im Garten der Kirche. Von einem Regenguss überrascht liefen beide, völlig durchnässt, in die Sakristei. Als Anthony in einem Nebenzimmer seine triefenden Kleider auszog, um sich abzutrocknen, wurde er von Vater Goodall angegriffen und sexuell missbraucht.

"Er riss mir mein Handtuch vom Körper, ließ seines fallen und drückte mich nackt mit seinem Gewicht zu Boden. Danach verging er sich an mir."

Anthony Jones wurde brutal von Vater Goodall vergewaltigt. Danach drohte der Priester, den Jungen aus der Kirche ausschließen zu lassen, sollte er irgendjemand ein Sterbenswort verraten. Anthony war verstört, verwirrt und gedemütigt.

"Ich konnte nicht glauben, was passiert war. Ich war sprachlos, in Schock und ich hatte Angst. Ich spielte mit dem Gedanken, hinunter zum Strand zu fahren und mich umzubringen. Zuhause stand ich drei Stunden unter der Dusche, nur um mich wieder sauber zu fühlen."

Der Kinderschänder blieb unbehelligt im Amt
Am nächsten Tag verließ Anthony Jones St. Aloysius. Für immer. Aber es dauerte Jahre, bis er den Mut aufbrachte, den Vorfall zu melden. Er schrieb an Kardinal George Pell in Sydney, Australiens ranghöchsten Katholiken. Doch der legte den Fall stillschweigend zu den Akten. Der Kinderschänder Priester Goodall blieb unbehelligt bis zu seiner Pensionierung im Amt. Sein Opfer, Anthony Jones, aber bekam lebenslänglich. In der Schule fiel er durch, zwei Lehren brach er ab, seine Ehe scheiterte. Es vergeht kein Tag, an dem Anthony nicht an das denken muss, was Vater Goodall ihm angetan hat.

"Ich war so wütend. Ich habe damals meinen Glauben verloren. Heute hasse ich die katholische Kirche. Für das, was mir der Priester – aber noch mehr für das, was mir das Stillschweigen des Kardinals angetan hat."

Erst der Missbrauch, dann das Vertuschen. Seit 31 Jahren wartet Anthony Jones auf Gerechtigkeit. Dass ihm jemand glaubt und ihm zuhört. Seit zwei Wochen bekommt er dazu Gelegenheit. Vor einer "Royal Commission", dem mächtigsten Untersuchungsausschuss im australischen Rechtssystem. Eingesetzt von Premierministerin Julia Gillard. Jones gehört zu den ersten, die vor der Kommission aussagen werden. Ihre Aufgabe ist es, das Ausmaß sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen, aber auch in staatlichen und privaten Institutionen zu untersuchen. Schonungslos und ohne Vorbehalte.

Chris McIsaac hat mittlerweile aufgehört zu zählen, wie oft sie Julia Gillards Rede zur Berufung der Untersuchungskommission jetzt schon auf ihrem Laptop abgespielt hat. Bestimmt zwei Dutzend mal, vielleicht noch öfter. Denn was Australiens Premierministerin zu sagen hatte, sprach ihr aus dem Herzen.

Julia Gillard: "Kindesmissbrauch ist ein schreckliches, böses und feiges Verbrechen. Zu viele australische Kinder wurden in öffentlichen und privaten Einrichtungen misshandelt. Unter der Fürsorge kirchlicher Organisationen, Sportvereinen und den Pfadfindern. Diese Untersuchungskommission wird von den Opfern hören und Lehren ziehen, was wir in Zukunft besser machen können, damit Kinder in solchen Einrichtungen sicher sein können."

Seitdem steht das Telefon im winzigen Büro der Organisation "Broken Rites" in Sydney nicht mehr still. McIsaac, Mitte 50, eine so mitfühlende wie resolute Person, leitet die Hilfsgruppe, die sich um Missbrauchsopfer der katholischen Kirche in Australien kümmert. Sie schätzt, dass es tausende Fälle gibt. Wie viele genau, weiß niemand. Wenn die Kirche mit Opfern verhandle, dann nur hinter verschlossenen Türen. Wer Glück hat, bekommt ein paar tausend Euro Abfindung - Schweigegeld. Denn im Gegenzug verpflichten sich die Opfer, nie wieder über die Tat zu sprechen. "Der katholischen Kirche geht es nicht um Wiedergutmachung", glaubt Chris McIsaac, "sondern nur darum ihr Gesicht zu wahren."

"Die Opfer fühlen sich, als ob sie ein zweites Mal missbraucht würden. Für viele ist das noch schlimmer, denn die Kirche lässt sie einfach fallen. Sie sind Opfer eines Verbrechens, aber sie werden wie lästiges Gesindel behandelt. Das ist nicht nur unehrenhaft, sondern zerstört das Leben vieler Betroffener."

Australiens Premierministerin Julia Gillard
Australiens Premierministerin Julia Gillard hat die Kommission eingesetzt.© dpa / picture alliance / Alan Porritt
Schweigegelübde und Beichtgeheimnis werden aufgehoben
Richter Peter McClellan war eindeutig. Als der Vorsitzende der Missbrauchsuntersuchung der Presse seine fünf Kommissionsmitglieder vorstellte, machte er eines klar: Nichts sei tabu. Nicht die Vertuschungsversuche der Kirche, nicht das Abschieben bekannter Kinderschänder im Klerus in andere Gemeinden. Früher bindende Schweigegelübde, die Opfer bisher daran gehindert hatten, über die Täter und ihre Taten zu sprechen, würden aufgehoben. Genauso wie das Beichtgeheimnis. Die Hierarchie von Sport- und Pfadfinderverbänden würde unter die Lupe genommen, selbst das Verhalten der Polizei. Wenn Verdacht bestünde, dass Missbrauchsvorwürfe nicht ernst genommen oder nicht weiterverfolgt wurden.

"Die Untersuchung war überfällig", glaubt Vater Frank Brennan. Als Anwalt und Jesuiten-Priester kennt er beide Seiten. Er befürchtet nur, dass sich die Kommission vielleicht zu viel auf einmal vorgenommen hat.

"In Australien unterstehen die meisten Kinder-Organisationen den Ländern und nicht dem Bund. Das heißt, die Regierung mischt sich mit dieser Kommission in Staatsangelegenheiten ein. Sie nimmt es mit der Kirche auf und den Folgen eines unmenschlichen Erziehungssystems. Ich hoffe nur für die Opfer, dass die Untersuchung dieser Kommission politisch nicht zu unübersichtlich wird."

Die Kommission will die Umstände von etwa einer halben Million Kindern untersuchen. Darunter auch die sogenannten "vergessenen Australier". Mehr als 100.000 Minderjährige, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Großbritannien nach Australien gebracht wurden. Hellhäutiger Nachwuchs für die Kolonie am anderen Ende der Welt. Ein organisiertes Kinder-Auswanderungsprogramm, das eine ganze Generation ihrer Kindheit, ihrer Heimat und ihrer Unschuld beraubte. Denn die meisten waren keine Waisen. Sie wurden ohne Zustimmung und Wissen ihrer Eltern aus britischen Pflegeheimen nach Australien verschleppt.

Ausschnitt Wochenschau: With shipping a little easier, Australia is getting more and more welcome migrants who are greeted by familiar sights and sounds……

Eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Wochenschau auf einer Videokassette ist alles, was John Hennessy noch aus seiner Kindheit besitzt. Der Film zeigt für ein paar Sekunden, wie der damals Vierjährige 1955 in Sydney von Bord der "SS York" stolpert. Mit kurzen Hosen und abstehenden Ohren, die er noch heute hat. John brauchte 50 Jahre um herauszufinden, warum er auf dem Schiff war. Seine Mutter war bettelarm, als er im englischen Bristol zur Welt kam. "Im Heim", dachte sie, "hat er es für ein paar Jahre besser". Doch als John vier war, wurden er und die anderen Heimkinder eines Nachts zum Hafen und auf ein Schiff nach Australien gebracht. Seiner Mutter wurde gesagt, eine Familie hätte ihn adoptiert, John wurde erzählt, seine Mutter sei tot. Er und die anderen britischen Kinder, die nach Australien kamen, waren mutterseelenallein.

"Mädchen und Jungen wurden getrennt, oft Bruder und Schwester. Ich höre die Schreie der Kinder noch heute. Wir dachten, Australien wäre nur um die Ecke. Wie sollten wir wissen, dass wir ans andere Ende der Welt geschickt wurden?"

"Wir wurden gezwungen, unser Erbrochenes zu essen"
Die Kinder kamen in staatliche und kirchliche Erziehungsheime. Überall in Australien. Doch statt einer Schulbildung gab es Schläge und Erniedrigungen. Wie John können viele der damaligen Heimkinder heute noch nicht richtig lesen und schreiben. Die Kinder hatten keine Namen mehr, nur Nummern. John Hennessy war Nummer 2867. Schwere, körperliche Arbeit und sexueller Missbrauch waren sein Alltag. Über Jahre.

"Wir waren wehrlos. Niemand wollte von uns wissen. Für die Priester waren wir nur Abschaum. Wer sollte uns schon glauben, dass sie uns missbrauchten?"

Orangen und Sonnenschein. In Großbritannien wurde den Kindern das Paradies versprochen, Australien aber war für sie die Hölle. Leonie Sheedy, die im Arbeiterlager einer Kohlemine in Wales geboren wurde, versuchte immer wieder wegzulaufen. Insgesamt 13 mal. Doch sie kam nicht weit. Nur bis ins nächste Erziehungsheim, das jedes Mal noch schlimmer war als das vorherige.

Leonie Sheedy: "Wir Kinder mussten Fliegen fangen und sie dann hinunterschlucken. Wir wurden dazu gezwungen, unser Erbrochenes oder Fäkalien zu essen. Wir wurden mit Holzscheiten blutig geschlagen. Ich kann die Grausamkeiten, die kleinen Kindern zugefügt wurden, bis heute nicht verstehen."

Erst wurden die Heimkinder seelisch und körperlich misshandelt – dann, mit 16, 17 Jahren wurden sie sich selbst überlassen. Ohne Familie, Ausbildung und ohne Selbstwertgefühl. Harold Haig, 68, selbst ein britischer Kinder-Migrant, ist Vorsitzender der Vereinigung "Vergessene Australier", die früheren Heimkindern bei der Suche nach ihren Familien hilft. Die Mehrheit der gut 5000 Mitglieder fordert seit Jahren Schadensersatz für das, was sie erlitten haben. Harold Haig hofft, dass die Untersuchungskommission zum gleichen Ergebnis kommt.

"Eine offizielle Untersuchung ist für uns Kinder-Migranten enorm wichtig – auch für unsere Familien. Wir alle haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Denn dieser systematische Kindesmissbrauch konnte nur geschehen, weil die damalige Regierung einfach weggesehen hat."

Australien ist weltweit erst das zweite Land, das den institutionellen Missbrauch von Schutzbefohlenen untersucht. Das erste war Irland. Die sogenannte Ryan-Kommission beleuchtete die jahrzehntelange Misshandlung von Kindern in 60 staatlichen Schulen, die von der katholischen Kirche geleitet wurden. 2009 legte die Kommission ihre Ergebnisse vor. Irland war schockiert. Sexueller Missbrauch, Prügel und Demütigungen waren Routine. Die insgesamt 30.000 Kinder wurden wie Sträflinge behandelt, ihre Rechte und ihr Potenzial wurden, oft buchstäblich, mit Füßen getreten, die Misshandlungen verschwiegen. Bis zu den Anhörungen der Untersuchungskommission.

Sean Ryan: "People were actually very forthcoming and very willing to come to the commission. Now obviously how sensitively you deal with them is a very important question…..”"

Der Dubliner Richter Sean Ryan vom Obersten Irischen Gerichtshof war damals der Leiter der Untersuchungskommission. Ein besonnener, korrekter Mann mit Brille und Seitenscheitel, der versuchte, Opfer wie Täter korrekt zu behandeln. Es sei oft schwierig gewesen, unparteiisch zu bleiben, erinnert sich Ryan nach einer Vorlesung in Sydney. Aber es sei nicht seine Aufgabe gewesen, Schuld zuzuweisen oder zu verurteilen, sondern allen Beteiligten - vor allem aber den Missbrauchsopfern - eine Stimme zu geben.

""Sie wollen gehört und anerkannt werden. Ihnen wurde, oft jahrzehntelang, gesagt, sie würden übertreiben oder sie seien Lügner. Dann geht es darum, das Ausmaß der Misshandlungen festzustellen und wer den Missbrauch begangen, geduldet oder vielleicht vertuscht hat. Und schließlich: Wer war aktiv daran beteiligt und wer hat davon gewusst, aber nichts dagegen unternommen?"

Altarjungen und Heimkinder - vergewaltigt von Priestern
Der australische Untersuchungsausschuss wird Mitte nächsten Jahres einen Zwischenbericht vorlegen, Ende 2015 sollen die Ermittlungen beendet werden. Sean Ryan hält den Zeitplan für ehrgeizig, aber völlig unrealistisch. Die irische Kommission tagte neun Jahre lang. "Hat man erst einmal angefangen, dann gibt es kein Zurück mehr", sagt Ryan. Der irische Richter spricht aus Erfahrung. Die australische Bevölkerung müsse darauf gefasst sein, eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte aufzuschlagen.

"Ich will der australischen Kommission nicht vorgreifen, jede Untersuchung ist anders. Aber es werden hässliche Dinge ans Licht kommen, unvorstellbare Gräuel, die unschuldige und wehrlose Kinder erleiden mussten. Das ist traumatisch für alle Beteiligten. Die Vorschläge der Kommission werden nicht jeden zufriedenstellen. Ein britischer Premierminister hat einmal gesagt: ‚Es gibt keine perfekte, öffentliche Untersuchung.‘ Und ich glaube, er hat recht."

"We need honesty. We need truth. Because if they were there then maybe this would not have happened to children…”

Im Gemeindesaal von Ballarat, einer 85.000 Einwohner-Stadt nordwestlich von Melbourne. Eine der ersten Stationen der Untersuchungskommission. 35 Überlebende sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester warten darauf auszusagen. Tim Lane, ein Maurer, hält das vergilbte Foto seines Bruders hoch. Eines von 40 Opfern in Ballarat, das sich sein eigenes Leben genommen hat.

"Pain and loss their dear brother, John. He’ll never be replaced. Not by any amount of money......"

Altarjungen, Heim- und Schulkinder, damals oft nicht einmal zehn Jahre alt. Vergewaltigt von Priestern. Einer nach dem anderen erinnert sich an eine Zeit in ihrem Leben, die sie am liebsten vergessen würden.

"I was sexually abused by him. I was raped by him. I was also sexually abused by Christian Brother Robert Best…..”"

Rohe Emotionen, schmerzliche Vergangenheitsbewältigung. Australien sucht seine Seele. "Wir dürfen das Damals nicht ruhen lassen", mahnt Missbrauchsopfer Peter Blenkiron in Ballarat. Denn, das was ihm und tausenden anderen vor langer Zeit angetan wurde, das solle kein Kind in Australien je wieder durchleben müssen.

Peter Blenkiron: ""Unser Leben ist eine tickende Zeitbombe. Gelingt es dir, die Bombe zu entschärfen, dann ist der Schaden gering. Aber explodiert die Bombe, dann verbringst du den Rest deiner Tage damit, die Trümmer aufzusammeln. Die Untersuchungskommission gibt uns Opfern Hoffnung. Denn je früher wir diese Last loswerden, desto besser ist unsere Chance auf ein normales Leben."
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