Nichts ist mehr so wie vorher

Von Kim Kindermann |
Kinder und Krankheit, das will nicht zueinander passen. Erst recht nicht, wenn die Krankheit unheilbar ist und sogar tödlich endet. In eindrucksvollen Reportagen erzählt die Zürcher Autorin Ursula Eichenberger in "Tag für Tag" ihre Geschichten, die es wert sind, gelesen zu werden.
Wenn Eltern ein Kind bekommen, dann soll es gesund und voll von Leben sein: Es soll springen und hüpfen. Reden und lachen. Es soll das Leben genießen, älter werden und sich so allmählich zu einem gesunden Erwachsenen entwickeln. Alles andere scheint falsch und befremdlich: Denn Kinder und Krankheit das will einfach nicht zueinander passen. Erst recht nicht, wenn die Krankheit unheilbar ist und sogar tödlich endet.

Das sind Schreckensgeschichten, über die man nicht reden, geschweige denn lesen will. Einfach, weil man sich zu sehr vor dem großen Leid fürchtet, das man hinter solchen Geschichten vermutet. Geschichten, die trost- und ausweglos scheinen.

Wie falsch diese Ansicht ist, zeigt jetzt die Zürcher Autorin Ursula Eichenberger in ihrem Buch "Tag für Tag". Denn es gibt viel zu erfahren und zu lernen: Etwa über den Mut dieser Kinder, über ihre Reife dem Leben gegenüber oder über ihre kleinen Fluchtwege aus dem von Krankheit und Medizin geprägten Alltag.

So spricht der unter Muskelschwund leidende Dave mit seinen beiden Schutzengeln. Luciano, dessen Körper von einem seltenen Immundefekt gepeinigt wird, besucht täglich winzigkleine Elfen im Garten und die mukoviszidosekranke Tatjana streift stundenlang im Wald umher.

In eindrucksvoll geschriebenen Reportagen nimmt uns die Zürcher Autorin Ursula Eichenberger mit in die Welt dieser unheilbar kranken Kinder und ihrer Familien, die sie gemeinsam mit der Fotografin Vera Markus besucht hat. Dabei stellt sie Kind für Kind einzeln vor, lässt jedes Kind seine Krankheitsgeschichte selbst erzählen, hört den Eltern und Geschwistern zu und beschreibt ausführlich die notwendigen Therapien einschließlich der oft heftigen Medikamente.

Ganz langsam, Schritt für Schritt taucht sie - und mit ihr der Leser - ein in die ungewöhnlichen und sehr unterschiedlichen Lebens- und Leidensgeschichten dieser sechs Kinder. Kinder, die damit einen Namen, ein Gesicht bekommen und nicht mehr vergessen werden, sondern Spuren hinterlassen.

Sechs unheilbar kranke Kinder über die die Autorin schreibt:

" Allen gemein ist, dass sie einen wachen, gesunden Geist und bereits eine Reife erreicht haben, wie wohl kaum ein gesundes Kind diesen Alters."

So sagt der 14-jährige Luciano:

" Mein Leben und ich sind Freunde geworden."

Der achtjährige Marco, der sobald er einschläft mit dem Atmen aufhört, beschreibt sein Leben mit den Worten:

" Jeden Tag geht es deiner Seele wie verrückt."

Und die elfjährige Tatjana meint:

" Man muss es genießen, jung zu sein."

Ganz ohne Bitterkeit kommen solche Aussagen aus dem Mund dieser Kinder. Berühren und lassen einen nachdenklich werden, zeugen sie doch von einer Weitsicht, die man bei Kindern nicht vermutet. Und so macht das Buch Mut. Mut zur Offenheit. Denn es zeigt, dass Kinder, die sich ihrer Krankheiten voll bewusst sind, offen über sich, ihr Leben und ihre Gefühle sprechen können. Damit sind sie weiter als so mancher gesunde Erwachsene, der so auch von ihnen lernen kann. Und genau das ist die absolute Stärke des Buches, macht es so gut, so lesenwert. Denn es fordert den Leser heraus, das Leben mit all seinen Formen anzunehmen.

Dabei betreibt Ursula Eichenberger keine Schönmalerei, sondern sie zeigt auch, dass mit dem Eintreten der Krankheit, nichts mehr so ist wie vorher. Eindringlich, fast schon bis zur Schmerzgrenze, wird deutlich: Normalität gibt es nicht, denn im Zentrum der Familien steht oft nur noch die Krankheit. Um sie herum wird alles neu geordnet. Oft zu Lasten der Geschwisterkinder, die nicht selten zu so genannten Schattenkindern werden, zu Kindern, die hinter den kranken Geschwistern zurückstehen müssen und so zu verschwinden drohen.

Wie etwa die zwölfjährige Patrizia, die Schwester eines der schwerkranken Jungen, die plötzlich aufhörte zu essen. Einfach so. Weil sie glaubte, keiner sähe sie mehr. "Ich kann nicht mehr", war alles, was sie sagte, und erreichte damit endlich, dass auch sie mal im Mittelpunkt der elterlichen Aufmerksamkeit stand.

Dabei stehen auch die Eltern an der Grenze ihrer Belastbarkeit, drohen zu vereinsamen, weil Freunde sich verabschieden und Verwandte nicht mehr zu Besuch kommen. Und dabei ist genau dieser Kontakt nach außen so bitter nötig, um Normalität zu leben.

Ursula Eichenbergers Buch ist daher auch ein Appell. An alle von uns. Sie fordert den Leser auf, Fragen zu stellen, den Eltern zur Seite zu stehen und ihnen Hilfe anzubieten. Da helfen oft auch kleinen Gesten, um die total erschöpften Eltern zu unterstützen. " Wir laufen seit Jahren am Abgrund ", sagt die Mutter der schwerkranken Geneviève, "es gibt Momente, da möchte ich das Auto voll packen und allein weit weg fahren, weil ich keine Kraft mehr habe. " Dass sie es doch nicht tut, liegt an der Liebe zu ihrem Kind. Einem Kind, das trotz all seiner Schwächen so liebenswert ist. Genauso wie jedes andere im Buch vorgestellte Kind auch.

Kinder, die einem auf den vielen großen und kleinen schwarz-weiß Bildern von Vera Markus entgegenschauen. Dabei erzählen die Fotos ihre eigene Geschichte. Zeigen das, was mit Worten kaum beschreibbar ist. Eine Geste, ein Lächeln, einen Augenblick des Glücks.

So wie etwa das Bild von Dave im Rollstuhl, der vor Glück schreit, als er seinen gesunden Bruder auf Rollschuhen hinter sich herzieht. Ungeschminkt, offen und oft herzzerreißend stehen sie sinnbildlich für dieses wunderbare Buch. Ein Buch das uns zeigt: Kinder mit unheilbaren Krankheiten gehören zum Leben dazu, sie sind kein Tabuthema und ihre Geschichten sind es wert, gelesen zu werden.

Ursula Eichenberg: Tag für Tag. Was unheilbar kranke Kinder bewegt.
Rüffer+Rub Verlag, Zürich, 192 Seiten, gebunden mit Fotos von Vera Markus,
32,60 Euro