Nicht-weißer Blick auf die Wende

Das neue "Wir" ohne uns

07:04 Minuten
Eine Grafik zeigt weiße und schwarze Figuren, die durch eine gestrichelte Linie getrennt werden.
Kritischer Blick auf die Wende: Das konstruierte "Wir" der Gesellschaft habe nicht-weiße Menschen ausgeschlossen, sagt Peggy Piesche. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Von Azadê Peşmen · 06.11.2019
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Fremde Menschen liegen sich freudestrahlend in den Armen. In diesem Klischee-Bild zum Mauerfall geht eine Perspektive meist unter: Wie Angehörige von Minderheiten und Menschen mit Migrationsbiografie vor 30 Jahren das Ende der DDR erlebt haben.
"Ich war in Erfurt an der Universität, habe dort studiert und es war abends, und da haben wir mitbekommen, dass sich jetzt gerade sehr Tiefgreifendes verändert", erzählt Peggy Piesche.
"Und das hatte natürlich auch Auswirkungen auf mein Leben. Zum einen erstmal einen ganz großen ungekannten Möglichkeitsraum. Als junge Studierende fühlte es sich an wie eine Revolution, fühlte es sich an wie Möglichkeiten des Denkens, des Agierens, des Gestaltens. Das war ganz fantastisch. Aber das hat sich natürlich ganz schnell verändert."

Von "Wir sind das Volk" zu "Ausländer raus"

Peggy Piesche, Schwarze deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, ist in der DDR aufgewachsen und erinnert sich noch sehr gut an den Mauerfall. Und daran, dass der anfängliche Optimismus nicht lange hielt. Für Schwarze und People of Color wurde der öffentliche Raum relativ schnell bedrohlich, erklärt sie. Das neue konstruierte "Wir" der Gesellschaft hat nicht-weiße Menschen ausgeschlossen.
Das weiße Ostdeutschland wollte sich mit dem weißen Westdeutschland sehr schnell verbinden, sagt sie: "Da wurde aus 'Wir sind das Volk' 'wir sind ein Volk' und 'Deutschland den Deutschen', 'Ausländer raus' und das ging sehr schnell."
Für People of Color und schwarze Menschen waren solche Parolen der Anfang einer gesellschaftlichen Stimmung, auf die rechte Gewalt wie in Rostock, Mölln und Hoyerswerda folgten. Diese gesellschaftliche Stimmung spürte auch May Ayim. Die afrodeutsche Lyrikerin und Aktivistin zählte zu den bekanntesten Vertreterinnen der Schwarzen Community in Deutschland. In der Dokumentation "Hoffnung im Herz" beschreibt sie, dass sie nach 1989 erstmals negative Erfahrungen in Berlin gemacht habe.

Lyrische Kritik an scheinbarer Einheit

"ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben"
"Grenzenlos und unverschämt. Ein Gedicht gegen die Deutsche sch-einheit". Im Wort Scheinheit, ist die "Einheit" mit einem Bindestrich abgetrennt. May Ayim, die Autorin des Textes, stand der deutschen Einheit eher kritisch gegenüber.

Menschen mit ähnlichen Erfahrungen vernetzen sich

Gleichzeitig hat der Mauerfall auch die Möglichkeit für Schwarze Menschen und People of Color geboten, sich besser zu organisieren, sich persönlich kennenzulernen und feststellen, dass man einen ähnlichen Erfahrungshorizont hat. Das "Ost-West-Ding" war für Peggy Piesche, die zum Studium nach Westdeutschland ging, nicht entscheidend. Wichtiger war, sich überhaupt mit anderen Schwarzen Menschen zu vernetzen, sich kennenzulernen. Sie fordert eine "Intersektionale Erinnerung":
"Intersektionale Erinnerung bedeutet, dass wir anerkennen, dass hegemoniale Geschichtsschreibung, hegemoniale Erinnerung, viele Perspektiven nicht mitdenkt und in dieser Erinnerung Leerstellen produziert. Intersektionale Erinnerung schaut sich an, wie Geschichte auch gerade Überlagerungen von Ausbeutungsverhältnissen und Unterdrückungsverhältnissen weiter reproduziert. Das heißt, in einer intersektionalen Erinnerung kommen BIPoC- Geschichten nicht immer nur als Folie der Transformationsprozesse oder auch Entwicklungsprozesse einer Mehrheitsgesellschaft, sondern haben Räume als Akteur*innen, als agierende und auch als Gestalter*innen ihrer eigenen Geschichten."

Politisierung durch den Mauerfall

In dem Projekt "Labor 89: Bewegungstopographien im Kontext der fallenden Mauer" kommen solche Gestalterinnen als Zeitzeuginnen zu Wort und erzählen, wie sich der Mauerfall auf ihr Leben, auf ihre eigene Politisierung und ihren Aktivismus ausgewirkt hat. In der gleichnamigen Ausstellung werden die bisher kaum repräsentierten Perspektiven im Vordergrund stehen.
Natalie Bayer, Leiterin des Friedrichshain Kreuzberg-Museums: "Wir werden mit unserer Ausstellung keine ganze Geschichte erzählen, sondern es ist ein erster Anstoß für eine Geschichtsschreibung. Das ist auch ein Aufruf an die Berliner und Berlinerinnen oder auch an die Menschen von nah und fern, die Zeitzeuginnen, die auch ihre Erfahrungsbeiträge haben, sich auch einzubringen uns auch zu erzählen, uns zu korrigieren."
Wie sich der Mauerfall auf Schwarze Menschen und People of Color ausgewirkt hat, ist bisher eine Leerstelle in Museen, die sich in diesem Jahr, zum 30. Jubiläum des Mauerfalls, langsam füllt: In Frankfurt wird es in der Bildungsstätte Anne Frank eine Ausstellung geben. "Anderen wurde es schwindelig" heißt sie und wird ebenfalls den Erzählungen einen Raum geben, die in der Wende-Geschichtsschreibung sonst ausgelassen werden.
Nachdem dieses Themenfeld bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde, ist es also in diesem Jahr verhältnismäßig präsent- wie nachhaltig ist das? Oder handelt es sich nur um einen Hype?
"Ich würde jetzt schon behaupten" sagt Natalie Bayer, "das ist mir jetzt, in den letzten zwei Jahren, sehr stark aufgefallen, dass es ein größeres Interesse gerade auch aus den Geschichts-und Kulturinstitutionen dafür gibt. Ich sehe es auch mit einer gewissen Skepsis, es ist auch ein Hype, der gerade stattfindet. Und wie nachhaltig das Ganze sein wird, wird man vielleicht auch erst in zehn Jahren beurteilen können."

Migrantische Perspektiven ausgelassen

Dass migrantische Perspektiven, die von People of Color in der Geschichtsschreibung ausgelassen werden, nicht Teil der Erinnerung sind, hängt auch mit Ausschlüssen an den jeweiligen Institutionen zusammen. Die Stiftung Berliner Mauer bemüht sich, ihre Institution zu öffnen. Franziska Gottschling ist Historikerin und für den Arbeitsschwerpunkt "Outreach" zuständig, soll also die Reichweite der Stiftung Berliner Mauer erhöhen. Um nachhaltig etwas zu ändern, die Institutionen zu öffnen, das koste nicht nur persönliches Engagement, man müsse auch Geld in die Hand nehmen.
"Man muss sich einfach klarmachen, dass Migrantinnen-Selbstorganisationen oder Aktivistinnen nicht unbedingt Hurra schreien, wenn eine weiße Institution kommt und sagt: Wir wollen euch helfen. Was ist denn deren Benefit? Anders gefragt: Warum sollten Aktivistinnen of Color oder Migrantinnen-Selbstorganisationen eigentlich mit uns zusammenarbeiten? Ich finde, da sind wir auch in der Bringschuld, und das müssen wir auch erklären."
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