Nicht mehr zu verdrängen

Von Josef Schmid |
Die Jugendkriminalität vor allem ausländischer Jugendlicher war ein Eckpfeiler einer missglückten Wahlkampagne und so haben nun die Moralisten leichtes Spiel, dieses Thema wieder in die Versenkung oder - sagen wir ruhig - in die Verdrängung zu wünschen.
Dazu gehören jene Kräfte, denen es mehr um Volkserziehung geht als um Volksvertretung und denen das Eingeständnis in ideologische Niederlagen fremd ist. Da dürfen Dinge nie beim Namen genannt, sondern nur noch umschrieben werden in der Sprache der Therapie, des Bedauerns von Mangel an Liebe und Geld.

In einem Lande, wo – ironisch gesprochen – alles tabuisiert ist mit Ausnahme der Sexualität, sind populistische Ausrutscher in Wahlkämpfen die große Chance, mit der Realität in Berührung zu kommen, einen Zipfel von ihr zu erhaschen, von dem aus eine unter der Decke gehaltene Kiste bloßgelegt werden kann.

Die im Obergrund und Untergrund von Bahnhöfen und sonstwo Auffallenden, zwischen 15 und 25 Jahre alt und zwischen 10 bis 50 Straftaten auf dem Kerbholz, müssen ihren Erziehungsprozess in den 1990er Jahren gehabt haben. Das Ergebnis ist für die jungen Generationen, die aus Migration hervorgegangen sind, nicht berauschend: die Schul- und Schulabbrecherstatistik ist alarmierend. Nur zu 4,4 Prozent sind ausländische Schüler auf unseren Gymnasien. Die Klagen sind bekannt. Es handelt sich also nicht um ein Wahlkampfthema. Es wird aktuell bleiben und sich hartnäckig an unsere Fersen heften, egal wohin wir gehen.

Wer nennt endlich die Ursachen, ohne nur an der Oberfläche zu bleiben und sie zwischen den politischen Lagern hin- und herzuschieben?!

Es heißt, dass während der langen Regierungszeit Kohls das Integrationsthema verschlafen worden sei und wir deswegen vor einem Problemberg von Unterlassungen stünden. Doch da muss sich auch die andere Volkspartei an die Nase fassen: der legendäre Ministerpräsident Heinz Kühn, SPD und erster Ausländerbeauftragter, schrieb Anfang der 1970er Jahre ein Integrationskonzept. Wäre es angepackt und durchgeführt worden, hätten wir alle diese Probleme heute nicht. Doch Intellektuelle im Umkreis der linken Reichshälfte bekamen angesichts dieses "Eindeutschungspapiers" kalte Füße und sorgten dafür, dass es in der Schublade verschwand. Es ist bald politischer Stil geworden, bei national sensiblen Themen an die Stelle des Handelns gedankenschwere und wortreiche Gewissenserforschung zu setzen. Die Ausländerfrage wurde Thema des sich gegenseitigen Belauerns, aus dem jedoch nichts entsteht.

Das Land heißt zwar Deutschland, aber "Eindeutschung" kommt nicht in Frage; also begnügt man sich beim Ausländer mit Unbescholtenheit im Sinne polizeilicher Führungszeugnisse. Leitkultur sollte vielleicht sein, aber keine deutsche Leitkultur, denn das bringt uns in die Nähe von Ausgrenzung und Rassengesetzgebung. Stattdessen flüchtet man in Allerweltsreden von Werten, Verfassung und Rechten und hofft, dass dies ausländische Jugendliche von den Stühlen reißen wird. Eine multikulturelle Gesellschaft seien wir längst, sagte man. Doch das ist kein Konzept, das sich mit der Idee staatlicher Ordnung verträgt. Sie ist vielmehr die Bankrotterklärung vor einem ethnischen Status quo, den man schlicht hat einreißen lassen.

Mit der damals noch abgehobenen Intellektuellenpartei der Grünen gab es noch einmal einen Moralisierungsschub in der Ausländerdebatte, der einer Absetzung des Themas von der Tagesordnung gleich kam. Das Wort Ausländer gehörte abgeschafft, doppelte Staatsbürgerschaft zur Normalität erklärt, offene Grenzen propagiert und das verdächtig faschistoide Einheimischenvolk kontrolliert. Das war die rührende Vision von Einwanderungsland, die wir bei Strafe der Stigmatisierung zu schlucken hatten. Das halluzinatorische Verhältnis zur Realität, der utopische Weltumarmungseifer regierten die Ausländer- und Zuwanderungspolitik, die besser mit "Nicht-Politik" oder "Antipolitik" charakterisiert wäre.

Der Ausländer Erlöser von uns selbst, Objekt, an dem wir der Welt unsere Besserung vorführen könnten - diese Religionsstunde mit politischem Anstrich hat nur einen Fehler: sie hat nichts mit Integrationspolitik zu tun und führt auch zu keiner. Wenn einem prügelnden Jugendlichen mit Migrationshintergrund das "Sch-"-Wort in Verbindung mit "-deutscher" herausrutscht, dann ist das ein unverblümtes Symptom, das man ebenso unverblümt deuten sollte: es ist der misslungene Versuch, die deutsche nationale Neurose und Selbstbezichtigungskultur an ausländische Jugendliche heranzutragen.

Daraus gibt es nur eine Konsequenz: ein rasches Zurück zu einem nationalen Eigenwert und ihm klar Ausdruck verleihen. Die Zeit, in der man sich just um dieses Integrationsangebot herumdrückte, ist abgelaufen.

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch